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01.07.2001
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Spiegelbilder

Es ist schon komisch, denke ich als ich auf die öffentliche Toilette zugehe.
Man lebt tagein, tagaus mit ein und derselben Frau zusammen und hört auf sich daran zu erinnern, wie es ohne sie war. Erst wenn sie weg ist, dann merkt man, wie abhängig voneinander man doch geworden ist, wie sehr man sich an den täglichen Trott gewöhnt hat. Es ist so schrecklich still geworden in der Wohnung, seit dem sie gegangen ist. Ich komme mir manchmal vor wie in einer verlassenen Burg. Die Stille schreit mich an, die Wände beginnen mich einzuengen und ich fürchte darum keine Luft mehr zu bekommen.
Was habe ich nur getan, stellt sich mir dann die Frage, was habe ich bloß falsch gemacht? Nun, eigentlich kenne ich die Antwort: Wir haben aufgehört uns gegenseitig wahrzunehmen, wir haben begonnen uns gegenseitig als selbstverständlich anzusehen, wie ein Stück Möbel, dass still in der Ecke steht.
Ich hätte bemerken müssen, dass sie immer stiller wurde und sich mir nicht mehr öffnete aber ich war wohl zu blind oder zu sehr mit mir selbst beschäftigt um zu bemerken, dass sie sich verändert hat – sie war immer noch mein Wohnzimmerschrank, schön anzusehen aber unmöglich zu bewegen. Doch der unbewegbare Schrank war eines Tages nicht mehr da und ich hatte eine kahle Wand in meinem Wohnzimmer.
Es war, als wäre mir Etwas direkt aus meinem Leib gerissen worden und man hätte das Loch nicht mehr gestopft. In mir blieb nichts zurück außer einem tiefen Loch, dass alle meine Freude verschlingt.
Die Tür ist schwerer zu öffnen, als ich gedacht hätte, der Bügel, der die Tür eigentlich hinter mir zuziehen soll scheint schon schwer angerostet zu sein und versucht mir nun den Eintritt zu verwehren. Ich bin heute nicht in der Stimmung die Tür gutmütig zu überstimmen leichter aufzugehen und so reiße ich mit aller Kraft daran. Sie schwingt plötzlich auf und reißt mich beinahe von den Beinen. Ein warmer Luftzug schlägt mir entgegen. Er bringt einen Geruch nach Desinfektionsmitteln und Urin mit sich, der mit beinahe den Atem verschlägt.
Nun, in der Not frisst der Teufel Fliegen – oder geht auf eine öffentliche Toilette, schießt mir durch den Kopf, als ich die Schwelle übertrete.
Der schwarz-weiß-grau gekachelte Boden ist feucht und glitschig und ich will lieber nicht drüber nachdenken, wodurch ich gerade laufe.
An den Waschbecken stehen zwei Männer. Was wollen die denn hier? Wie Penner sehen sie nicht aus, der eine trägt sogar einen Goldring am Ringfinger der rechten Hand, ich schätze ihn auf circa 40, der andere scheint ein wenig jünger zu sein.
Sie scheinen sich gerade unterhalten zu haben, nun schauen sie mich an, wie ein seltenes Tier. Sie mustern mich von oben bis unten, mir ist das ehrlich gesagt sehr unangenehm.
Nun schauen sie sich verschwörerisch an, mir wird das zuviel, ich heuchle kurz ein freundliches Nicken und gehe an ihnen vorbei. Gott weis, was die hier treiben, denke ich.
Einen kurzen Moment stehe ich unschlüssig vor den Pissoiren, doch ich spüre die Blicke der beiden wie glühende Speere auf meinem Rücken, deshalb entscheide ich mich doch lieber für eines der beiden Separates.
Das Linke ist verschlossen, von drinnen dringen leise Kratzgeräusche an mein Ohr, ich habe eine dunkle Ahnung und verbiete mir weiter darüber nachzudenken. Eilig verschwinde ich im rechten Separates und verrichte meine Notdurft in Rekordtempo.
Schnell die Hände gewaschen und dann nichts wie raus hier. Die beiden Männer schauen mich immer noch an, ein inzwischen sehr starker Ekel hat sich in mir breitgemacht, ich will hier raus, sofort!
Beinahe rennend verlasse ich die Toilette, es ist schon fast eine Flucht. Draußen angekommen fühle ich mich irgendwie beschmutzt.
Ich weis, wohin ich das nächste Mal nicht gehe, wenn ich dringen muss und wenn ich mir dabei in die Hose machen muss.


Es ist schon komisch denke ich und sehe den Mann neben mir an.
Man spielt tagein, tagaus die Rolle des liebenden und moralischen Familienvaters und irgendwann hat man sich so sehr an seine Rolle gewöhnt, dass es schwer wird aus ihr auszubrechen. Irgendwann habe ich aufgegeben mich selbst zu belügen und habe eingesehen, was ich bin: Eine feige Schwuchtel, die es nicht geschafft hat zu sich selbst zu stehen und die auch ihren Trieb nicht beherrschen kann und deshalb den schnellen Sex an solch ruchlosen Orten wie dieser Toilette sucht.
Ich spiele mit meinem Ehering herum, der Kerl zu meiner Linken, dessen Namen ich nicht einmal kenne, erzählt mir gerade, dass ich ihm den besten Sex beschert hätte, den er jemals erlebt hat. Das erzählt er bestimmt jedem, denke ich und schaue zu Boden.
Der Boden ist feucht und glitschig und ich möchte lieber nicht wissen, in was ich gerade stehe.
Ich stecke meinen Ring wieder auf und will gerade zu einer Antwort ansetzen, als die Toilettentür mit einem Ruck aufgerissen wird. Im ersten Moment fürchte ich die Polizei, doch es kommt nur ein Junge von Mitte zwanzig herein.
Ich mustere ihn von oben bis unten. Er ist ein hübsches Kerlchen muss ich feststellen aber so wie der gerade guckt ist er sicher nicht auf der Suche nach Sex. Ich blicke zur Seite und tausche einen schnellen Blick mit dem Mann neben mir aus. Er scheint dasselbe zu denken wie ich: Nur ein braver hetero Boy, der versehentlich in die glamouröse Welt der Klappen (Anmerkung des Autors: öffentliche Toiletten in denen anonymer Sex stattfindet) gestolpert ist.
Bei diesem Gedanken muss ich fast selber lachen, dabei ist mir eigentlich gar nicht dazu zumute.
Der Bursche geht zu den Pissoiren, bleibt davor aber stehen und wendet sich dann doch den Separates zu.
Man kann den fallenden Groschen regelrecht hören, als er vor der verschlossenen Tür des linken Separates steht und die beiden Typen drinnen hört. Hastig verschwindet er in dem anderen Separate.
Es vergeht kaum eine Minute, bis er wieder herauseilt. Eine knappe Minute in der der Typ neben mir beständig leise vor sich hinkichert und mir anzügliche Bemerkungen über den Jungen ins Ohr flüstert.
Mein Gott, wie ich diesen Typen neben mir ekelig finde und mit so einem hatte ich Sex.
Sollte Sex nicht etwas schönes, heiliges und vor allem reines sein? Einen Moment schweife ich durch solcherlei Gedanken, bis ich sie eilig hinwegwische. Nonsens!
Der Junge wäscht sich seine Hände. Wann immer er in meine Richtung blickt sehe ich Panik in seinen Augen flackern. Der Junge hat tatsächlich Angst, wir könnten ihm etwas antun und ihn seiner Unschuld berauben. Ich schaue ihn nachdenklich an und er ergreift endgültig die Flucht.
Ich starre noch eine Weile auf die Tür, als sie sich hinter ihm schließt, dann beschließe ich, auch wieder nach Hause zu gehen.
Nach Hause, zu meiner liebenden Frau, meinen Kindern, meinem Hund, meinem kleinen Haus mit Garten und zu all den Lügen. Zurück in ein Leben voller geheuchelter Liebe. Ein Leben das nichts ist außer einer Perversion seiner selbst.
Ich beschließe nie wieder hierher zurückzukehren und von nun an ein moralischer Ehemann zu sein und alles hinter mir zu lassen was ich wirklich bin.
Aber ich habe mir das schon so oft geschworen und bin dann doch nach ein paar Wochen oder Monaten zurückgekehrt, wenn meine Gelüste wieder Überhand gewonnen hatten.
Gefühle wallen in mir auf und ich versuche sie zu verdrängen, doch es gelingt mir nicht und als ich in mein Auto einsteige beginne ich bitterlich zu weinen.
Damals vor zwanzig Jahren hätte ich die Chance gehabt mein Leben in glückliche Bahnen zu lenken. Glückliche und ehrliche Bahnen, die allerdings viel Stärke von mir verlangt hätten. Aber damals war ich zu feige zu mir selbst zu stehen und so entschied ich mich den vermeintlich leichteren Weg der Selbstverleumdung zu nehmen, der mich nun zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin.
Meine Hände zittern und als ich auf sie schaue sehe ich mein verzerrtes Antlitz auf dem Ehering. Ein Ehering ohne wahren Wert, von dem ich mich selbst hämisch anzugrinsen scheine.
Ich versuche den Ring von meinem Finger abzuziehen, doch es will mir nicht gelingen. Der Ring ist zu so etwas wie ein Symbol meines Scheiterns geworden. Ich hasse den Ring dafür, dass er mich daran erinnert was ich bin. Aber eigentlich hasse ich mich selbst.
Damals, vor zwanzig Jahren, damals hätte ich die Chance gehabt, aber heute....

Ende

 
Zuletzt bearbeitet:

puh....den zweiten Teil Deiner Geschichte fand ich sehr beeindruckend, Tolotson. Er hat mich gefesselt und mich bedrückt - was wohl zeigt, wie sehr gut die verzweifelten Worte herüber kommen. Sehr eindringlich geschrieben. Zwar habe ich mich zwischendurch gefragt, ob das noch eine Geschichte ist oder eher eine Selbstreflexion aber das tut dem Eindruck keinen Abbruch und ist ja auch Titel.

Den ersten Teil der Geschichte fand ich nicht ganz so stark - aber er schlägt eine schöne Brücke zum zweiten. der Kunstgriff gefällt mir dann wieder.

Grüße, streicher

 

Naja, als Selbstreflektion wuerde ich die Geschichte nicht definieren, ich besuche eigentlich keine Klappen.
Ich wollte mit dieser Geschichte eigentlich beide Seiten darstellen, die des angeekelten Heterosexuellen und des verzweifelten Schwulen, die eigentlich aehnliche Probleme plagen.

 

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