Spiegelbild
Er beugte sich etwas über das Waschbecken und schaute sich in die graublauen Augen, musterte die gebräunte Haut, die gleichmäßigen, gebleichten Zahnreihen, das dichte dunkle Haar. Sein Spiegelbild hielt dem forschenden Blick stand. Zufrieden richtete er sich auf. Das Waschbecken spürte er dabei als kleinen Widerstand an seinem Bauchansatz. Noch während er sein kleines Mitbringsel aus dem Urlaub tätschelte, registrierte er einen schwachen Druck in der Magengegend. Im Sekundentakt schossen Puzzleteilchen durch seinen Kopf. Weber. Weber in kleinen Bruchstücken. Er schüttelte sich, ließ kaltes Wasser in seine gewölbten Handflächen laufen und tauchte sein Gesicht hinein. „Ach was“, murmelt er, „das war vor dem Urlaub. Ich war einfach etwas überarbeitet. Jetzt bin ich erholt und fit“. Er war bereit.
In der Küche nahm er seiner Frau die Espressotasse aus der Hand, ein Schluck und schon war er durch die Tür. Der Tag lag vor ihm wie eine unberührte Schneedecke, der er seine Spuren eindrücken würde. Er zog die Tür seines weißen Cabrios zu. „So muss es sein“, dachte er. „Ein leichter Zug, ein leises Plopp, und alles saß bombensicher an seinem Platz — unverrückbar“.
Während der 20 Kilometer Fahrt machte er wie immer Pläne. Post, E-Mails, Ein paar Kunden kontaktieren, Stand von Projekten prüfen, ein Treffen um 10.00 Uhr mit seinen Mitarbeitern, dafür sorgen, dass sie wieder in Schwung kamen. Sollte er sich mit Weber treffen? Heute schon?
Vielleicht war es besser, die Auseinandersetzung nicht sofort zu suchen, den Gegner erst einmal schmoren lassen. Er hatte Zeit. Munter pfiff er einen alten Schlager über Sonne und Meer vor sich hin.
Der Pförtner hatte ihm das Eingangstor schon geöffnet. „Morgen, Otto“, grüßte er und Otto grüßte wie immer zurück. Er lenkte seinen Wagen zu seinem Parkplatz und stutzte. Da stand ein dickes silberfarbenes Ich-Bin-Wer-Fahrgestell mit Münchner Kennzeichen. Wahrscheinlich ein Kunde.
Mit dem Vorsatz locker zu bleiben, stellte er sich auf einen freien Mitarbeiterparkplatz. Am Empfang nickte er der hübschen Frau Konrad zu. Sein Strahlen signalisierte: Ich bin wieder da. Sie grüßte mit ernstem Gesicht zurück, wühlte verzweifelt in Papieren, als fände sie darin ihr bezauberndes Lächeln, das sie sonst so professionell aufsetzte. Schulter zuckend eilte er weiter zum Aufzug. „Alles etwas aus dem Tritt“, dachte er nur. Sobald er die Fäden wieder in Händen hätte, rasteten die Dinge wieder ein, rollten wie bei einer gut geölten Maschine.
Durch die hohen Glasfenster erhellten Sonnenstrahlen den langen Flur, an dessen Ende sein Büro lag. Fast freudig erregt ging er schneller auf die große, schwere Holztür zu. Er straffte seinen Körper, bevor er sie schwungvoll öffnete. Seine Sekretärin kam ihm nicht entgegen, wie er es erwartet hatte, wie sie es immer tat. Seine Energie verlor sich im leeren Raum. Was war nur los? Irritiert schritt er auf sein eigenes Zimmer zu, das Chefzimmer, zögerte jedoch unvermittelt. Die Tür erschien ihm größer als sonst. Er öffnete sie langsam, schaute in sein Arbeitszimmer und versteinerte im Türrahmen. Er sah, aber er verstand nicht. Seine Sekretärin beugte sich gerade über seinen Schreibtisch, um die Dokumentenmappe an sich zu nehmen. Auch sie erstarrte, als sie ihn bemerkte. Neben ihr, auf seinem Stuhl, saß ein groß gewachsener Mann mit nach hinten gegelten blonden Haaren, bestimmt 15 Jahre jünger als er selbst. „Was geht hier vor? Wer sind Sie?“, brach es aus ihm heraus, lauter als er beabsichtigte, schriller. „Guten Tag“, sagte der andere ruhig. „Sie sind sicher Herr Händel. Wir haben Sie schon erwartet“. „Wer sind Sie?“, fragte er nochmals. Seine Stimme machte sich immer noch selbstständig. Der andere stand nun auf, wollte ihm entgegen kommen, blieb aber auf halbem Weg stehen. Händel spürte, wie sein Kopf glühte. Er musste bedrohlich wirken.
„Ich bin Franz Leitner“, sagte der andere und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich arbeite seit einer Woche hier in Stuttgart. Davor war ich stellvertretender Leiter Finanzen und Controlling im Stammsitz in München. Der Vorstand hat mir die Leitung dieser Niederlassung übertragen.“ Leitner sprach schnell und klar. Sein Bemühen war offensichtlich. Er wollte die Situation unter Kontrolle bekommen. Händel starrte ihn immer noch an. Ratlosigkeit, Entsetzen und Wut mischten sich in seinem Körper zu einem gefährlichen Sprengstoff. Leitner griff eilig zum Telefonhörer. „Vielleicht wollen Sie mit Wim Keller sprechen. Er hat meine Versetzung veranlasst“. Wim Keller war einer der beiden CEOs in München. Händel dachte an ihre letzte, lautstarke Auseinandersetzung. So war das also.
Bevor er antworten konnte, fragte eine höfliche Stimme hinter ihm: „Kann ich helfen“. Weber! Er hatte sich wie immer auf leisen Sohlen angeschlichen.
„Sie also“, zischte Händel ihn an. Seine Wut hatte ihr Ziel gefunden.
„Moment mal, ich möchte nur helfen“, erwiderte Weber vorsichtig. Er spürte, wie viel Kraft es Händel kostete, nicht handgreiflich zu werden.
Helfen. Händel kannte ihn. Er hatte ihn schon Monate vor seinem Urlaub den Dolch zücken sehen. Eine kleine Intrige hier, eine diffamierende Bemerkung da. Nie offen, nie direkt, nie in einer Besprechung. Kein kritisches Wort in seiner Gegenwart.
„Sagen Sie mir einfach, was hier los ist.“, fuhr er Weber an.
„Nun, Herr Leitner hat, wie er ihnen bereits erklärt hat, die Geschäftsleitung übernommen. Entscheidung des Vorstands. Über Ihren neuen Aufgabenbereich wird noch diskutiert. Es ging ja alles so schnell. Die Herren in München sind sich da wohl noch nicht einig. In der Zwischenzeit haben wir Ihnen ein kleines Ersatzbüro im obersten Stock eingerichtet. Verstehen Sie das bitte nicht falsch. Es ist nur eine Übergangslösung. Bis die ganze Angelegenheit geklärt ist. Einfach bis wir wissen, wie es weitergeht. „
Wir? Händel starrte ihn an. Unfähig zur reagieren. Er spürte Webers Sachlichkeit wie eine feine Nadel, die sich genüsslich in seine Wutblase bohrte. Das explosive Gemisch in seinem Kopf entwich. Er kam nicht dagegen an. Man hatte ihn entthront. Eine Figur zuviel, die man vom Spielfeld schieben wollte. Also folgte er Weber mechanisch hinaus.
Am nächsten Morgen saß er bereits um sieben Uhr morgens in seinem neuen Büro, früher der Kopierraum. Sieben Quadratmeter. Ein Regal mit alten Akten, ein einfacher Schreibtisch und ein abgeschabter Schreibtischstuhl. Gestern hatte er mit Wim Keller telefoniert, war aber nur gegen eine Wand von Fakten gerannt, die in seiner Abwesenheit errichtet worden war. Er kämpfte zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Plastikschwert gegen Drachen.
Bis zum offiziellen Feierabend saß er die Zeit ab. Keine E-Mails, keine Telefonate. In diesem Raum befand er sich am anderen Ende der Welt. Sein Blick wanderte immer wieder über den Schreibtisch, den alten ausrangierten Computer, den Behälter mit Stiften, den Bleistiftspitzer. Wann hatte er das letzte Mal einen Bleistiftspitzer gesehen oder benutzt? Er konnte sich nicht erinnern.
Als er am Abend endlich nach Hause kam, stürmte er sofort ins Bad und übergab sich. Er beugte sich über das Waschbecken, um den Mund auszuspülen. Eingehend betrachtete er seine fahle Haut, die geröteten Augen, die Falten um den Mund. Beschämt wandte er den Blick ab.