Spiegelbild
Das kleine Mädchen lächelt mich an. Ihre Augen glitzern vor Lebenslust und ihr helles Lachen schallt durch den großen Raum. Sie nimmt meine Hand und zieht mich durch die Halle.
„Komm“, sagt sie, „Komm!“
Ich weiß nicht, wer sie ist. Aber das macht nichts, denn meistens weiß ich auch nicht, wer ich bin. Oder wo ich bin. Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen und habe mich hierher geträumt, in diese riesige Halle, in der nur das kleine Mädchen, ich und tausende von Spiegeln sind.
„Warum gibt es hier so viele Spiegel?“, frage ich sie verwundert.
Sie lacht wieder. „Na, damit du dich siehst, du Dummi!“
Wir treten gemeinsam vor einen Spiegel. Er ist groß, fast doppelt so groß wie ich, und genauso breit. Ein paar Sekunden lang schaue ich angestrengt hinein, dann wende ich mich an die Kleine und runzle die Stirn.
„Ich sehe mich nicht. Nur du bist im Spiegel. Wie kann das sein?“
„Schau genau hin“, flüstert sie und plötzlich ist da ein bitterer Unterton in ihrer Stimme. „Erkennst du dich denn wirklich nicht?“
Wieder blicke ich in den Spiegel, aber egal, in welchem Winkel, in welcher Stelle ich hineinschaue, ich sehe nur sie. Sie hat sich verändert. Eben war sie noch fröhlich, hat glücklich gelacht und jetzt ist ihrer Miene ernst, die Augenbrauen sind zusammengezogen und die Lippen schmal und zusammengepresst. Ihre Hand in meiner fühlt sich plötzlich kühl an und mich überkommt ein eisiger Schauer.
„Lass uns weitergehen“, stoße ich aus.
Aus den Augenwinkeln luge ich in alle Spiegel auf unsrem Weg.
Ich will sie fragen, wohin wir gehen, aber meine Kehle ist wie zugeschnürt. Also schweigen wir, bis sie auf einmal anhält und mich traurig anschaut.
„Sieh hinein. Die Spiegel sind nicht dazu da, bloß den Raum auszufüllen, weißt du?“
Ich werfe einen Blick in den kleinen Spiegel hinter ihrem Rücken und erschrecke. Eigentlich müsste ich ihren Rücken sehen und ein Stück darüber mein Gesicht. Aber ihr Körper ist nicht da, es ist, als stünde sie an meiner Stelle.
„Was passiert hier?“, stammele ich und weiche verwirrt zurück. „Wer bist du? Wo sind wir hier? Und was machen wir hier?“
Sie lächelt wieder, aber diesmal ist es ein fieses Lächeln.
„Wer ich bin? Frage dich, wer du bist. Wenn du das weißt, weißt du auch, wer ich bin. Wir sind hier im Spiegelraum - wir schauen in Spiegel. Was sonst?“
„Ich weiß, wer ich bin!“
Sie will nach meiner Hand greifen, aber ich weiche zurück, will wegrennen, aber ich sehe nicht, wohin ich laufen kann, weil überall Spiegel stehen, überall sind diese verdammten Spiegel, aus denen sie mich ansieht und ihr Gesicht verwandelt sich in eine grässliche Fratze.
„Du weißt, wer du bist? Wann hast du dich denn das letzte Mal angesehen?“
Mein Herz bollert in meiner Brust, ich schwitze und mir ist eiskalt. Ich balle die Hände zu Fäusten, versuche, mich unter Kontrolle zu bekommen, aber ich zittere und das Mädchen und die Spiegel verschwimmen vor meinen Augen, aber auch, als ich sie schließe sehe ich sie noch und plötzlich dreht sich die Welt und ich drehe mich in die andere Richtung und ich glaube, ich werde verrückt-
Sie packt meine Hände, die ich mir auf die Ohren gepresst habe, ich weiß nicht mehr, warum, und zieht sie weg.
„Lass mich“, wimmere ich. „Ich will hier weg!“
Ich sitze mittlerweile auf dem Boden und sie kniet sich vor mich, ihr Gesicht ist meinem ganz nah und ich spüre ihren Atem.
„Ich bin ein glückliches Kind“, haucht sie. „Ich bin es noch. Nicht mehr lange, aber momentan bin ich noch glücklich. Darum will ich auch dich etwas glücklicher machen und dir eine Frage beantworten. Wer ich bin, willst du wissen. Es ist ganz einfach: Ich bin du. Du bist ich.“
„Lass mich gehen“, stöhne ich. Ich glaube, ich drehe durch. Vor meinen Augen tanzen Sterne und ich zwinge mich, sie geschlossen zu halten.
„Öffne die Augen!“, befiehlt sie und ich gehorche. „Sieh dich an. Schau in den Spiegel und erkenne dich. Erkenne, wer du bist!“
Zitternd drehe ich mich um, starre mein Spiegelbild an, die blutunterlaufenen Augen, das fahle Gesicht.
„Ich bin du“, wispert sie. „Aber ich will nicht du sein!“
Wie in Zeitlupe drehe ich mich und schaue sie an. Da ist es wieder, das kleine Mädchen. Das Grausame ist aus ihrem Gesicht verschwunden und stattdessen blickt sie mich ängstlich an.
Wir schweigen und schauen uns an. Sie und ich. Sie ist ich. Ich schaue mich an. Wann ist dieses lebensfrohe Funkeln aus meinen Augen verschwunden? Wann habe ich aufgehört zu lachen, und angefangen zu schweigen?
„Bitte“, sagt sie leise. „Bitte lass mich glücklich bleiben!“
Ich öffne den Mund, will etwas sagen, aber die Worte sind weg. „Es tut mir leid“, formen meine Lippen die Entschuldigung, die sie nicht sagen können.
Sie seufzt. Mir auch, sagen ihre Augen.
Wir stehen auf.
Ich verzeihe dir. Verzeihst du mir auch?
Sie schubst mich, ich falle rückwärts in den Spiegel, aber da ist kein Glas und es tut nicht weh. Es ist ganz warm und angenehm und ich falle… falle… falle ins Warme.