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Sperrzone
Alle meine Bekannten waren bereits entschwunden. Ich sah auf das Meer hinaus. Das stete Treiben der Wellen und Wogen beruhigte mich, es berührte mich irgendwo tief im Inneren. Weiter drüben beobachtete ich den Hafen. Polizisten und Sicherheitskräfte, einige davon in Schutzanzügen, bereinigten ihn vom Schutt, der sich über die Tage und Wochen angesammelt hatte. Der Blick auf unseren alten Hafen erinnerte mich an meinen Vater. „Mein Sohn,“, sagte er immer, „irgendwann wird sich das Meer das Dorf zurückholen“. Ich fragte ihn, warum dies denn geschehen solle. „Alles Leben kommt aus dem Wasser. Irgendwann geht es dorthin wieder zurück“, sagte er damals, als er seine Angel auswarf. Aus diesem Grund wollte er wohl auch eine Seebestattung. Diese wurde ihm jedoch verwehrt, da seine Schwester unbedingt ein Grab wollte, an dem sie um ihn trauern konnte. Welch egoistische Frau. Sie überging den Willen meines Vaters um ihrer selbst willen. Nach diesen Ereignissen hatte ich nur noch sporadischen Kontakt mit ihr.
Meine Erinnerungen trugen mich weiter. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich mein erstes eigenes Boot kaufte und zum ersten Mal allein zur See fuhr. Ich erinnerte mich an die Tage, an denen ich vom stürmischen Meer betrogen wurde. An die Tage, an denen die See mich genährt hatte. Und jetzt hatte sie mir mein Dorf genommen, meine Familie. Ein schmetterndes Dröhnen hallte in meinem Kopf wider, die dumpfen Geräusche der berstenden Gebäude bearbeiteten meinen Kopf wie ein Hammer. Meine Gedanken wurden unklar. Ich sah die Wellen, diese riesigen Wellen, eine Explosion in weiter Ferne und die verzerrten Gesichter der Nachbarskinder. Die Mutter schnappte sich das jüngste Kind und rief den anderen etwas zu. Doch ihre beiden anderen Kinder waren bereits verloren. Die See verwandelte meine Heimat innerhalb weniger Minuten in einen einzigen, großen Friedhof. Wieder dachte ich an meinen Vater. Er hätte wohl selbst in dieser verzweifelten Situation seinen Frieden gefunden. „Kamigishi-san, was tun Sie denn noch hier?“, hörte ich eine Stimme entfernt rufen. Es war Touji Sakaguchi, einer der Polizisten vom Hafen. Er kam angelaufen und wedelte gleichzeitig mit der Hand umher. Er und mein Sohn waren von der Grundschule hindurch bis zur Oberstufe gute Freunde gewesen, daher kannte er mich wohl noch. Diese Freundschaft endete, jedoch als Yukio, mein Sohn, an eine Uni in Tokyo ging. Meinem Sohn war das Leben hier nicht gut genug, außerdem wollte er nicht mit seinem Vater verglichen werden, dem „armen, alten Fischer“. Touji jedoch blieb hier und ließ sich zum Polizisten ausbilden. Aus welchem Grund auch immer trug er keinen Strahlenschutzanzug wie die anderen im Hafen. Er war von Natur aus unvorsichtig. „Du weißt, dass ich nicht gehen werde, Touji-kun“ Seine Augen verengten sich, sein Gesicht lief rot an. Ob er besorgt um mich oder nur wegen meiner Sturheit wütend war, konnte ich beim besten Willen nicht erkennen.
„Sie müssen gehen, Kamigishi-san!“
Seine Stimme überschlug sich förmlich.
„Hör mal, ich werde dieses Dorf nicht mehr verlassen. Ich bin nun 87 Jahre alt. Meine letzten Momente möchte ich in meiner Heimat verbingen.“
„Aber Sie könnten doch woanders ein viel besseres Leben führen. In Osaka oder Kyoto, von mir aus auch oben in Sapporo!“
„Lass gut sein, Touji-kun.“
Ich blieb ruhig und doch versuchte ich, so bestimmend wie möglich zu sein. Touji schien zu erkennen, dass er mich nicht mehr umstimmen konnte.
„Vielleicht kann ich ja irgendwo einen Schutzanzug für Sie auftreiben.“
„Solche Umstände musst du dir nicht machen. Du könntest aber bitte nachsehen, ob mein Boot noch seetauglich ist.“
„Ihr Boot? Nun ja, ich habe es drüben in der Bucht gesehen. Es erschien mir unversehrt. Den gegeben Umständen entsprechend natürlich. Wenn Sie möchten, können wir es in den Tokyoter Hafen verlegen lassen. Das Zugticket dorthin bezahle ich Ihnen!“
Wiederum sagte ich nur: „Lass gut sein, Touji-kun“. Ich stand auf und verabschiedete mich knapp. Touji sagte nichts. Er war so unhöflich wie immer. Auf meinem Weg zur Bucht kam ich an den Überresten des Gemischtwarenladens der Familie Suzuki vorbei. Er war der ganze Stolz der Familie gewesen. Und nun lag er in Schutt und Asche, ein Mahnmal, ein Relikt der Vergangenheit. Nachdem Hideo Suzuki verstorben war, hatte seine Tochter Yoko den Laden übernommen. Sie hatte ihn wieder auf Vordermann gebracht, nachdem Suzuki die Dinge auf seine alten Tage hatte schleifen lassen. Später heiratete sie einen Tierarzt und nach der Katastrophe zog sie mit ihm zu dessen Bruder im Süden des Landes. Sie eröffnete dort einen Blumenladen, wie ich hörte. Ich hoffte, dass sie dort unten ein gutes Leben hat. Auf meinem weiteren Weg zur Bucht kam ich schlussendlich an den Ruinen unseres kleinen Hauses vorbei. Mit den zerstörten Wänden und dem zerstörten Dach wuchs der Zorn und die Trauer in mir, doch ich drückte sie nieder, rang um die Kontrolle über meine Tränen.
Zwischen dem Schutt fiel mir etwas Rotes auf. Es war die Puppe, die ich einst meiner Frau geschenkt hatte. Sie hatte schwarze Haare und, weiße Haut, blutrote Lippen und trug einen roten Kimono. Sie war einer Tänzerin nachempfunden, deren Namen ich leider vor langer Zeit vergessen hatte. Dieser Fund ließ meine Barrikaden zusammenbrechen. Ich weinte, weinte unaufhörlich. Mit all den Tränen flossen auch die Qualen der letzten Zeit aus mir heraus. Es erschien mir, als würde der Körper sich selbst heilen, er ließ die negativen Gefühle heraus und schuf Platz für neue Dinge. Diese Puppe war das Letzte, was von meiner Familie hier übrig war. Ich packte sie, zog sie aus dem Schutt, klopfte ihr den Staub ab und nahm sie mit. Ihr Gesichtsausdruck war für mich schon immer äußerst rätselhaft gewesen. Sie erschien nicht glücklich oder fröhlich, aber doch auf eine einzigartige Weise zufrieden. Gewissermaßen spiegelte sie mich im Moment wider. In der Bucht angekommen sah ich, dass mein Boot ein paar Kratzer davongetragen hatte. Es war nichts nennenswertes, nichts, was das Boot in seinen Fähigkeiten und Talenten eingeschränkt hätte. Jedoch hatte es sich vom Steg entfernt und trieb ziellos in der Bucht herum. Also stieg ich ins Wasser und da wurde mir klar, dass man, egal was alle anderen behaupteten, die Strahlung deutlich spüren konnte. Als meine Füße das Wasser berührten, spürte ich das Feuer in der Luft, das unangenehme Gefühl beim Atmen. Es war, als würde mich jemand mit aller Kraft würgen. Die Luft, die ich einatmete, sie bestand aus brennender Asche und schmerzte bei jedem Atemzug. Mein Körper kribbelte unaufhörlich, an manchen Stellen wurde er taub. Ich konnte die radioaktiven Teilchen quasi vor mir sehen, als ich durch das Meer watete. Im Boot angekommen begab ich mich hinter das Steuer und platzierte die Puppe neben mir. Langsam sah ich auf die See hinaus. Kurz dachte ich, das Gesicht meines Vaters am Horizont zu erkennen. Ich sah zur Puppe hinab. Ihr rätselhafter Gesichtsausdruck unterstützte mich in meinem Vorhaben. Ich startete den Motor und begann der blutig roten Sonne am Himmel zu folgen.