Sperrmüll
Sperrmüll erster Teil
Es ist nostalgisch, über den Sperrmüll zu schlendern. Wobei natürlich nicht die städtische Müllhalde gemeint ist. In meiner fränkischen Wahlheimat wird die Entsorgung des großstückigen Hausrats zentral organisiert und der Spittel wird nach Anmeldung beim Stadtreinungsamt von eben diesem diskret pro Haushalt entsorgt. Also man muss einen Termin vereinbaren und dann kommen kräftige orangene Männer, die alles einräumen und zur Müllumladestation bringen, wo sich der interessierte Altwarenhändler, der bedürfte Sozialempfänger, der ewige Student oder der slawische Leih-Bauarbeiter mit einem Schreibtisch oder einer Waschmaschine (doch, auch der Alt-Linke braucht manchmal eine) versorgen kann.
Früher wurde die Altstadt zweimal im Jahr ein einziger Antiquitätenmarkt wie Montmartre, nur billiger. Das Schlendern und Kramen in den lauen Abendstunden des Sommers gehört jetzt der Vergangenheit an. Tempi passati. Stadtreinungsamt statt Sperrmüllsammlung.
Früher war alles besser, romantischer. Antiquitäten und Raritäten standen ganze Straßenzüge entlang und man konnte zwischen den edelsten ungewaschenen Second-Hand Parkas und Trenchcoats Schnäppchen von ungetragener Spitzenunterwäsche finden. Vermutlich ungetragen.
Und sogar mailinglisten waren damals geistreicher und diskreter
Alles weg. So wie der Sperrmüll, der früher auch viel besser war. Das war nicht einfach nur Müll. Das war der Abenteuerspielplatz der alternativen Szene. Preziosen konnte man dort finden.
Auch der hunderste Gang durch die Schuttberge auf unserem Dachboden förderte nichts Behaltenswertes zu Tage. Obwohl, ja, die Stühle, Eiche massiv, waren noch restaurierbar und wert, diese Mühe auf sich zu nehmen. Aber seit zehn Jahren standen die Krüppel ohne Sitzfläche unter den Schindeln und niemand machte sich die Mühe. Alte emaile Töpfe (nein, nicht eletronic-mail Gefäße) mit den Aufschriften "Salz", "Mehl" "Zucker" etc. wollte keiner in seiner Küche aufhängen. Eine gestauchte Endmuräne voller Plastiksäcke mit alten Klamotten züngelte von der Speicherecke -bis unters Dach gestapelt -quer in den Raum und zerfiel in unpaarige Cowboystiefel als letzte Ausläufer. Hinterlassenschaften ungezählter ehemaliger Hausbewohner türmten sich auf. Vorübergehende Hausbewohner eines Altbaus - beste Innenstadt-Lage - mit undichten Fenstern und unzureichender Heizung. Sedimentschichten vieler Wohngemeinschaften und wilder Ehen, ein Flöz mit materiellen Hinterlassenschaften bis weit in die 70ger Jahre hinein für Archäologen. Ungelesene hektographierte Vorlesungsunterlagen, fast neu. Blechspielzeug, das man gut auf dem Flohmarkt verkaufen könnte. Sicher, die Stereoanlage war vor 14 Jahren sehr teuer gewesen. Dann die Reste der Rockband "Pils 2,80". Und Klaus, der die Wohnung unter mir bewohnte, hatte mal Bass mit den Leuten vom Nachbarhaus gespielt und die Endstufe des Verstärkers könnte man noch reparieren, wenn es irgendwo Ersatzteile gebe. (Er wußte nicht mehr, wann er das letzte mal Bass gespielt hat.)
Wir riefen das Stadtreinungsamt an, und wir bekamen einen Termin: Mittwoch 7:00h.
Mittwoch 7:00h - der andere Teil
Wie lange würden wir brauchen, die Kartons und zerlegten Ikeaschränke auf die Straße zu stellen? Eine flotte Stunde, vermutete ich. Nachtarbeit war in diesem Fall gesetzlich verboten und deshalb beschlossen wir, Klaus und ich, irgendwann am späten Dienstag nachmittag, so kurz vor dem Dunkelwerden, die Angelegenheit zu erledigen. Ich rief Hajo an, den jungen Vater und mein nomineller Mitbewohner, und gab ihm Bescheid, damit er uns helfe. "Klar, ich komme gegen mittag mal vorbei." Schliesslich zahlte er noch Miete und war damit für das Aufräumen verantwortlich. Und er konnte seine Kartons mit Sommerkleidung vor der Entsorgung durch das Kolpingwerk bewahren. "Wenn ich es nicht pünktlich schaffen sollte, fangt schon mal ohne mich an." beendete Hajo das Gespräch. Er müsse zur Arbeit. Im Hintergrund schrie ein Baby.
Wir sollten auch aufpassen, dass wir nicht Hajos Kisten und Stereoanlage rausstellten, die er vor drei Jahren oben eingelagert hatte und die jene wichtigen Unterlagen und Gegenstände enthielten, die er damals nicht nach Louisiana, USA, mitnehmen konnte. Zwar war sein Stipendium für "vergleichende Irrelevanz" inzwischen beendet und er war bereits eineinhalb Jahre zurück aus Amerika, aber die Kisten hatte er auf dem Dachboden gelassen, weil er inzwischen neue unerhebliche Gegenstände angeschafft hatte, die den Platz der alten übernommen hatten. Fränkische Lebensart.
Ich hatte gerade Kaffee aufgebrüht und die erste Zeitung bis zum Wirtschaftsteil gelesen, als das Telefon klingelte. Es war Klaus aus der Wohnung unter mir. "Du, ich hab schon mal angefangen. Kannst du mir helfen, die Waschmaschine aus dem Keller zu tragen?" Wir hatten nämlich auch noch ausgedehnte Katakomben, angefüllt mit Errungenschaften der Zivilisation der Nachkriegszeit. Fünf Waschmaschinen. Unter anderem. Die alten Bauernschränke bewahrten wir in dem Schuppen mit Garage im Hinterhof auf, dort war zu Olims Zeiten einmal eine Fahrschule gewesen. Dort lagerten wir Holz und größere Möbel aus Holz. Das kann man immer gebrauchen. Vielleicht für ein Feuer, oder um etwas zu schreinern. Metall aber war im Keller. Wir trennten unseren Fundus nach Material, damit man auch etwas wieder fände, wenn man es brauchen könnte.
Es war halb zwei als wir die erste Waschmaschine mit Klaviergurten die Stufen hinaufzogen. Um halb drei rief ich das Kolping-Werk an, ob sie Interesse an einer spontanen Altkleidersammlung hätten. Die Mitarbeiter wollten mit einem Kleinlaster vorbeischauen. Einige Passanten hatten es sich auf dem Gehsteig mit unseren Sofas gemütlich eingerichtet und warteten gespannt auf jede neue Kiste, die wir herunter trugen. Irgendjemand eröffnete mit dem alten Espit-Kocher eine improvisierte Tee-Küche. Alles vorhanden, sogar eine abschliessbare Kassette mit alten DM-Münzen und ein Geldspielautomat, bei dem die Mechanik nicht mehr rund lief. "Geht der noch?" fragte mich ein Rumäne einen Schwarzweiß-Fernseher inspizierend. Ich zuckte mit den Schultern, "Klar, geht der noch." Gegenüber unserer Häuserzeile hatte Siemens eine alte Fabrik gesprengt und baute seit zwei Jahre ein inovatives Gründerzentrum. Die Bauarbeiter ließen Arbeit Arbeit sein und prüften unsere Waschmaschinen auf Herz und Nieren. "10 Minuten. Gehe über die Straße." "300 Mark" "10 Minuten für Handwagen, kommen gleich zurück." Nein, meinen Handwagen wollte ich nicht ohne Pfand verleihen. "300 Mark oder einen Ausweis." Sie hatten leider beides nicht, also trugen sie die Waschmaschine fort. Muss schwer gewesen sein. Ein älterer Herr vom Kolping-Werk, ein rumänischer Zigeuner und eine Studentin mit Rasta-Locken sortierten die Wäschesäcke. "Habt ihr nicht auch Fahrräder? - Darf ich mal schauen?"
Ich war bereit, höchstens ein oder zwei meiner Karkassen zu opfern. Wir brauchten Platz. Trotzdem schlossen wir die Haustüre, wenn wir auf dem Weg waren, andere Kisten auf die Straße zu befördern. Trotzdem hatten sich einige Sammler ins Haus Eintritt verschafft. Sie durchstöberten unsere Wohnungen nach Brauchbaren. Es wurde dunkel und Scheinwerfer heranfahrender Kleinbusse erhellten die Hausfront. "Hey, Klaus, wir hatten doch nur fünf Waschmaschinen, warum stehen dort jetzt acht?" Die Anzahl der Fernseher oszilierte zwischen 0 und 11.
Ein Mitarbeiter des Stadtreinungsamtes schaute vorbei, ob unser Sperrmüll auch den Bestimmungen entsprach; Papier, Glas oder Bauschutt war zum Beispiel nicht zulässig. Eine grosse Plexifglasscheibe hatte aber zum Glück die Abmaße, die der Beamte seit langem suchte. Es war Nacht geworden und die Bauarbeiter vis-a-vis hatten den Kran mit den Flutlichtern so geschwenkt, dass er unseren Hauseingang erhellte. Gunstgewerblerinnen boten sich an, die Matrazen für ein kleines Entgeld mit dem zukünftigen Besitzer auf Tauglichkeit zu prüfen. Nasser Matsch lag auf der Staße, es war Januar. Stoßstange an Stoßstange reihten sich Nummerschilder hiesiger Kombies an Diesellimousinen unbestimmbarer Herkunft. Eine Lichterkette, wie ich sie dem kleinen bizarren Weihnnachtsbaum immer habe schenken wollen. Hütchenspieler gaben mitternächtlichen Spaziergängern die Gelegenheit zum schnellen Glück. In Nacht und Nebel konnte man nicht weit schauen, aber man konnte viel, viel sehen.
"Kann ich den Tisch für eine halbe Stunde in den Hausflur zurück stellen? Ich komme bestimmt zurück. Wo darf ich klingeln?" Es roch auf der Straße nach Esskastanien und ein Clouchard buk Creps. Ein Mädchen lief umher, "ich will Anislutscher, gebt mir Pennys." Jemand hatte eine Steroanlage zum Laufen bebracht, Serge Gainsbourgs sang. In Öfaßern loderten Flammen.
Wir hatten es geschafft, wir waren schutzig, unser Dachboden war leer, der Keller von Nicht-Mehr-Brauchbarem befreit, in den Schuppen hinter dem Haus hatten wir hineingeschaut. Hajo war nicht da gewesen. Mit zerschlagenden Gliedern hörte ich die Müllpresse des Stadtreinungsamtes um halb acht bei ihrer Arbeit. 50 Meter Karton säumten nach der Abzug des Reinigungstrupps unsere Straße, denn Altpapier war kein Sperrmül. Die Straße war ansonsten leer und still. "Prima Umzugskartons," sagte Klaus, "wenn wir ausziehen."