Mitglied
- Beitritt
- 05.07.2020
- Beiträge
- 289
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Spencer Berry
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Spencer Berry die zerknitterte Zeitung. Während er las, wanderte sein Finger langsam die Zeilen entlang. Stockte. Wanderte wieder zurück. Schließlich nahm er seine verstaubte Brille ab, legte sie vor sich auf den Tisch und versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was er soeben gelesen hatte.
Wechselstrom. Elektromagnetische Wellen. Resonanztransformatoren. Der Wahnsinn!
Es war ein schwieriges Terrain, zugegeben. Und da das Lesen nicht unbedingt zu seinen vielfältigen Stärken gehörte, brauchte es Geduld und eine Menge Durchhaltevermögen, sich da durchzukämpfen. Nichtsdestotrotz hatte Spencer die vergangenen Stunden ununterbrochen damit zugebracht, die vergilbte Ausgabe des weekly scientific minutiös zu studieren. Freilich begriff er nicht mal die Hälfte von dem, was da stand, aber zumindest eine Erkenntnis hatte sich durchgesetzt. Dieser verrückte Serbe war ein echter Teufelskerl!
Zufrieden grinsend begann Spencer damit, sich eine Zigarette zu drehen. Wobei ihm natürlich nicht entging, dass er beobachtet wurde. Seit einer ganzen Weile schon drückte sich an der Theke so ein junger Kerl herum und tat so, als genieße er seinen Whisky. Dabei war es kaum zu übersehen, dass er immer mal wieder einen verstohlenen Blick in seine Richtung warf. Er wäre nicht Spencer Berry, wenn ihm so etwas nicht auffallen würde. Aber es kümmerte ihn nicht sonderlich. Er war mit ganz anderen Fragen beschäftigt.
Spulen. Patente. Wechselstrom. In was für einer verrückten Zeit er doch lebte. Hier trieben sie Rinder übers Feld, während in New York mit Blitzen herumexperimentiert wurde. Wenn er es richtig verstanden hatte, ging es darum, bald überall elektrisches Licht zu haben. Überall! Und dieser Tesla hatte sogar davon gesprochen, dass es möglich sein würde, sich mit allen möglichen Menschen über die größten Entfernungen hinweg zu unterhalten.
Die Zigarette war fertig gedreht und der Fremde erhob sich. Spencer suchte nach Streichhölzern, während der Mann auf seinen Tisch zukam.
"Sie sind es!“
Spencer versuchte sein Glück in der anderen Tasche.
„Sie sind Spencer Berry!“
Treffer. Er förderte eine Packung Zündhölzer hervor und riss eines davon an. Durch den Rauch seiner Zigarette sah er, dass der Mann mit einem Revolver auf ihn zielte. Nun ja, damit hätte er eigentlich auch rechnen können.
„Ich hab sie erst nicht erkannt. Nichts für ungut, aber ich hab sie mir immer größer vorgestellt und irgendwie ... imposanter. Aber ...“ Der Fremde kramte ein Stück Papier hervor und legte es vor Spencer auf den Tisch. „Sie sind es! Ohne Zweifel!“ Er pochte begeistert mit seinem Finger auf das Plakat.
Spencer betrachtete das Bild. Nun, da hatte ihn wohl wieder einmal irgendwer aus dem Gedächtnis gemalt und ein wenig mit der künstlerischen Ausgestaltung übertrieben. Ebenmäßige Zähne blitzten ihm entgegen, dazu ein markantes Kinn, ein gewagter Schnauzer sowie ein kühler, entschlossener Blick. Eine gewisse Ähnlichkeit war schon da, aber die Darstellung seiner Person schmeichelte ihm doch sehr. Wenigstens seinen Namen hatte man richtig geschrieben. Grinsend schob er das Stück Papier zurück über den Tisch.
„Erwischt. Spencer Berry, angenehm. Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Willy Smith.“
Mit leichter Missbilligung musste Spencer feststellen, dass Willy seine höfliche Nachfrage offensichtlich mit einer Einladung zum Platz nehmen verwechselt hatte. Tja, das würde sich dann wohl eindeutig zu einer etwas längeren Sache hinziehen. Seufzend warf er Earl hinter dem Tresen einen Blick zu und machte eine Geste, ihm ein Bier und einen Whisky zu bringen.
„Willst du auch was trinken?“
Willy überging die Frage.
„Spencer Berry, nicht zu fassen. Sie müssen wissen, dass ich schon lange auf der Suche nach Ihnen bin!“
Earl, der das kleine Kunststück fertigbrachte, zu gleichen Teilen immer etwas gelangweilt und gefährlich auszusehen, trat wortlos an ihren Tisch. Mit dem Blick einer müden Bulldogge stellte er Bier und Whisky vor Spencer ab. Dann warf er sowohl ihm als auch Willy Smith einen langen, nur schwer zu deuteten Blick zu und schlurfte zurück zur Theke.
„Danke, Earl!“, rief Spencer ihm hinterher. Er zwinkerte seinem Gegenüber zu und leerte den Whisky in einem Zug.
„So, Karten auf den Tisch, bist wegen des Geldes da, eh?“ Spencer nickte in Richtung des Plakats. „Blöde Frage. Natürlich biste deswegen da.“
„Mr. Berry, das ist nicht ganz richtig. Ich muss ihnen gestehen, dass ich ein großer Bewunderer ihrer Person bin! Sie sind eine Legende, eine ...“ Willy fehlten ganz offensichtlich die passenden Worte. Er brach ab, errötete und setzte dann stockend neu an. „Mr. Berry, ich habe so viel gelesen, aber ... Aber ich würde gerne ein paar der Geschichten von Ihnen hören. Aus erster Hand sozusagen.“ Willy machte eine Pause und strahlte Spencer an. „Die Wilson-Gang. Erzählen Sie mir davon, wie Sie es geschafft haben, es gleichzeitig mit sieben Männern aufzunehmen? Ich hab gehört, sie haben sich in einem Kirchturm verschanzt? Und haben dann jedes Einzelne dieser Schweine abgeknallt? War´s nicht so?“ Vor Begeisterung überschlug sich die Willys Stimme und der Colt, mit dem er unvermindert auf Spencer zielte, zitterte.
„Willy, weil wir uns ja gerade so nett unterhalten und unter uns sind, würds dir vielleicht was ausmachen, deine Knarre für den Moment wegzustecken? Macht mich ein wenig nervös, wenn ich ehrlich sein soll. Und einer netten Gesprächsatmosphäre ist das ja auch nicht gerade zuträglich, oder?“
Willy hörte auf zu grinsen.
„Mr. Berry, bei allem Respekt für Ihre Person, missverstehen Sie offensichtlich Ihre Lage und unterschätzen mich. Können Sie sich vorstellen, warum ich hier bin?“
„Nun, ich ahne es.“
Willy lächelte.
„Mein Name ist Willy Smith. Und ich habe mir vorgenommen, der Größte zu werden! Und sie, Mr. Berry, werden mein vorläufiger Höhepunkt! Billy Hudson und Cold Eye Joe. Sagen diese Namen Ihnen irgendwas?“
„Davon abgesehen, dass das ziemliche Aufschneider sind?“
Willy zuckte für einen kurzen Moment zurück, begann dann aber wieder zu grinsen.
„Genau. Im Vergleich zu Ihnen waren das natürlich kleine Fische. Die Betonung liegt im Übrigen auf waren.“ Willy strahlte sein Gegenüber an. Spencer vermutete, dass dieser Kerl nicht ganz bei Trost war. Keine Seltenheit hier draußen.
„Und jetzt bin ich hier, um mit Ihnen abzurechnen, Mr. Berry. Sie sind schließlich einer der Größten! Und eben genau aus diesem Grund werde ich einen Teufel tun und meine Waffe wegstecken. Verstehen Sie mich nicht falsch, ist nichts Persönliches, aber ich weiß nun mal, wozu Sie in der Lage ...“
„Willy, einen Scheiß weißt du.“ Spencer begann zu grinsen und entblößte dabei sein nicht ganz so strahlend weißes Gebiss. „Nen ernst gemeinter Rat, Junge. Zögern ist gefährlich. Wenn du also wirklich hier bist, um Ernst zu machen, dann ziehs gefälligst auch durch, solange du im Vorteil bist. Kann dir doch egal sein, heißt ja schließlich nicht umsonst tot oder lebendig, right? Die wissen schon ganz genau, warum die das drauf schreiben, meinste nicht? Also, worauf wartest du?“
Willy machte keinerlei Anstalten, dem Ratschlag Spencer Berrys zu folgen.
„Mr. Berry, ich sehe ehrlich gesagt nicht, wie Sie mir im Moment gefährlich werden sollten, solange ich mit einer Waffe …“
„Gute Güte ...“, unterbrach ihn Spencer und warf die Hände zur Decke. „Unterhalten wir uns eben. Die alten Geschichten willste hören, was? Muss dich leider vorwarnen, könnte ne Enttäuschung werden.“
Willys Blick flackerte.
„Was soll das heißen?“
Spencer machte eine Pause und nahm einen Schluck Bier.
„Soll heißen, dass es in besagtem Kaff gar keine Kirche gab. Stell dir vor, die hatten noch nicht mal nen anständigen Saloon.“ Anerkennend nickte er in Richtung Earls, der diese wohlwollende Geste gewohnt gelassen an sich abprallen ließ.
„Aber selbst wenn da irgend nen Turm rumgestanden wäre, hätten mich da keine zehn Pferde hochbekommen. Ich habs nicht so mit der Höhe, musst du wissen. Und son Kirchturm? Vergiss es.“ Spencer machte eine wegwerfende Geste und nahm einen Schluck Bier. Dann lehnte er sich nach vorne und raunte:
„Wir sind ja unter uns, Willy. Ich fürchte, son Turm hätte mir ohnehin nichts gebracht. Ich bin nämlich ein ganz hundsmiserabler Schütze, musst du wissen. Ehrlich gesagt, wäre ich mir nicht mal sicher, ob ich den guten Earl von hier aus treffen würde.“ Die beiden warfen Earl einen verstohlenen Blick zu.
„Und der ist immerhin mindestens so breit wie hoch“, ergänzte Spencer.
„Hat vermutlich was mit meinen Augen zu tun. Ist irgendwie immer alles ein wenig verschwommen und diesig. Deswegen auch dieser Zwicker hier. Jesses, hätten mich mal besser mit Brille auf dem Plakat malen sollen, was?“ Spencer kicherte und nahm einen weiteren Schluck Bier, während Willy ihn misstrauisch anstarrte. Das passte nun gar nicht zu dem Spencer Berry, den er kannte. Beziehungsweise, von dem er geglaubt hatte, ihn zu kennen.
„Nein nein, mein Guter, so leids mir tut, aber es gab weder nen Kirchturm, noch ne ausufernde Schießerei und im Grunde noch nicht mal ne richtige Gang.“
„Die Wilson-Ga ...“
„… bestand aus genau zwei Personen. Ein Brüderpaar irgendwo aus Oklahoma. Hatten wahrscheinlich genug vom anstrengenden Farmerdasein und wollten mehr vom Leben. Jesses, wer solls ihnen verdenken, eh? Na ja, wir waren jedenfalls in derselben billigen Absteige und haben gelangweilt vor uns hin gesoffen. Und wer hätts gedacht, gabs irgendwann mächtig Streit. Die beiden haben da ne Riesensache draus gemacht. Ich hab keine Ahnung mehr, worums eigentlich ging, aber die beiden waren echt angezündet. Und dazu noch ziemliche Heißsporne. Der eine gerade mal fünfzehn Jahre alt, aber schon mindestens son Arschloch wie sein verkommener Bruder. Irgendwann kamen die beiden jedenfalls auf den Trichter, es für ne gute Idee zu halten, sich draußen mit mir duellieren zu wollen. Haben große Töne gespuckt und sind breitbeinig und siegessicher vor mir her zur Tür stolziert. Nicht die hellsten Kerzen, aber immerhin mit einem stabilen Grundvertrauen ausgestattet. Eigentlich n feiner Charakterzug, wenn ich so drüber nachdenke. Aber haben sich zu sehr aus der Ruhe bringen lassen und den Überblick verloren. Ungesund so was, merk dir das.
Was soll ich sagen? Hab natürlich keine Sekunde gezögert und den beiden aus nächster Nähe sechsmal in den Rücken geschossen, bevor sie zur Tür raus waren. Ein Wunder, dass ich überhaupt sooft getroffen hab, blau wie ich war.“ Spencer lachte leise und schüttelte den Kopf.
„Bin mir mittlerweile im Übrigen auch gar nicht mehr so sicher, was da draußen wirklich passiert wäre. Wer weiß, vielleicht hätten wir uns nur angeblafft und ein wenig mit unseren Colts rumgefuchtelt? Solange bis es zu peinlich geworden wäre. Aber man weiß ja schließlich nie. Und deswegen, mein lieber Willy, hab ich eben Nägel mit Köpfen gemacht.“ Spencer entblößte sein Gebiss. Das Grinsen eines Haifischs.
„Danach muss ichs irgendwie auf mein Pferd geschafft haben. Und nen paar Stunden später wach ich in nem Feld auf, mit dem schlimmsten Kater, den du dir vorstellen kannst und ner Scheißangst. Hab natürlich gedacht, dass die mich hängen wollen. Ist ja nun nicht gerade die feine Art, zwei Farmerjungen in den Rücken zu schießen, was? Aber stellt sich raus, dass die beiden Wilsons keiner vermisst hat. Ham da wohl schon ein paar Wochen lang ordentlich Stunk gemacht. Die örtlichen Autoritäten nahmens jedenfalls ziemlich gelassen.
Und weiß der Teufel warum, über die Monate und Jahre hat sich da diese völlig bescheuerte Wilson-Gang gegen Kirchturm-Spencer Posse draus entwickelt. Jesses.“ Spencer spuckte aus, was ihm einen vorwurfsvollen Blick Earls einbrachte.
„Tschuldige Earl, Gewohnheit.“
Mit einem traurigen Grinsen wandte er sich an Willy.
„Und? War diese Geschichte einem Spencer Berry angemessen? Haben die verdammten Schweine bekommen, was sie verdient haben? Oder hab ich dein Bild von mir gerade ein wenig ramponiert? Jesses.“ Er zog die Nase hoch, hatte dieses Mal aber genug Anstand, den dafür vorgesehenen Spuckeimer zu benutzen.
Willy wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Weil er aber das Gefühl hatte, irgendwie reagieren zu müssen, druckste er unsicher herum. Er murmelte irgendetwas davon, dass die anderen ja diejenigen gewesen seien, die den Streit vom Zaun gebrochen hatten. Und dass er, Spencer Berry im Grund ja nur von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht hatte. Sein Gestotter war schal und überzeugte weder ihn selbst noch Spencer, der ihn nur mitleidig angrinste.
„Schon gut, Willy, spar dir die Mühe. Daraus kannste beim besten Willen keine Heldengeschichte mehr stricken. Hab in den Jahren danach noch ne Menge krumme Dinger gedreht. Aber ne Heldentat war nicht dabei. Bei Gott nicht. Na ja, immerhin hats fürn solides Fahndungsplakat gereicht. Das ist doch schon mal was. Und diese ganzen Geschichten haben immerhin dazu beigetragen, dass ich mir son paar Gedanken gemacht hab.“ Spencer räusperte sich und hob entschuldigend die Hände.
„Ich weiß, ist nicht gerade die populärste Ansicht, aber ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass wirs mit den Waffen hierzulande übertrieben haben. Ich mein, was soll denn das, jedem letzten Hinterwäldler zu erlauben, mehr Flinten als Hühner zu besitzen? Nichts gegen Hühnerbesitzer, aber ...“
Willy sah sein Idol verständnislos an. Das Gespräch entwickelte sich von Minute zu Minute mehr in eine Richtung, die er weder erwartet hatte, noch sonderlich guthieß.
„Mal im Ernst, Junge, ich mein, du, ich und Earl da hinten haben ja schon mindestens mal jeder ne Waffe. Kann man jetzt natürlich sagen, dass wir zu den vernünftigeren Leute gehören, aber trotzdem ...“ Spencer machte eine Pause und dachte einen Moment nach.
„Wenn jeder Krethi und Plethi ne Waffe tragen darf, muss man wohl damit rechnen, dass die auch benutzt werden, right? Zwei Leute unterhalten sich, trinken was, es gibt nen Missverständnis und statt ner ehrlichen Keilerei ziehen die beiden ihre Colts. Das ist doch Quatsch.“ Spencer machte eine Geste durch den Raum. „Das ganze Glas würde kaputt gehen. Vielleicht sogar Earls Spiegel.“ Er wandte sich in Richtung Tresen und rief: „Earl! Wie teuer war noch gleich dein Spiegel hier?“
„Sauteuer“, murmelte Earl, während er ein Glas polierte.
„Siehste, sauteuer. Und am Ende wird vielleicht sogar noch jemand verletzt? Also, du kannst mir erzählen, was du willst, Willy, aber diese ganze Waffensache war unterm Strich ne ziemliche Scheißidee. Sieht ja jedenfalls momentan nicht danach aus, als würden hier morgen wieder die Rotröcke antanzen, oder? Stattdessen ballern wir uns betrunken gegenseitig über den Haufen, Jesses.“
Willy war sich nicht sicher, was genau hier gerade passierte. Hatte er sich etwa verhört? Hatte Spencer Berry gerade kritische Worte über das Waffenrecht verloren? Ja, war denn die ganze Welt verrückt geworden?
Spencer tat ihm indes nicht den Gefallen, aufzuhören. Er reihte eine haarsträubende Wahrheit an die andere. Spencer Berry, der vor dem Feind in die Wüste davonläuft und sich mit fragwürdigen Körperflüssigkeiten am Leben hält, bis es ihm schlussendlich gelingt, so einem armen Tropf das Pferd abzuluchsen. Spencer Berry, der seine eigene Bande an den Sheriff verkauft. Spencer Berry, der im Vollrausch gleich mehrere Duelle verschläft. Spencer Berry, der sich wiederholt ungebührlich gegenüber Frauen verhält.
Die Bilanz fiel ernüchternd aus. Selbst Earl schien zwischenzeitlich peinlich berührt mit den Füßen zu scharren.
„Weißt du, mein Junge, mein ganzes Leben war bis hierhin im Grunde eine einzige Farce. Alles, was du meinst über mich zu wissen, ist Humbug!“ Spencer brach ab und schaute betreten zur Seite. Willy musste mit Entsetzen feststellen, dass sich die Augen seines einstigen Idols mit Tränen füllten. Mit Tränen!
„Ich bin ein Aufschneider. Nicht mehr als ein saufender Strauchdieb. Mittlerweile kann ich kaum noch in den Spiegel ...“
„Hör auf!“ Verdammt, hör auf! Du … du bist eine Schande!“ Willy war aufgesprungen. Fahrig fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. Er konnte es nicht fassen. Wie hatte er sich nur so täuschen können? Und was fiel diesem Versager überhaupt ein, ihn um seinen wohlverdienten Triumph zu bringen?
„Kein Wort will ich mehr hören! Dieses wehmütige Gefasel von dir wird diesen Raum nicht verlassen!“
Spencer griff nach seinem Bierglas und blickte traurig in Willys Richtung.
„Ja, es ist wohl so. Ist nicht schön, die eigenen Helden sterben zu sehen, was?“ Langsam nahm er einen Schluck. „Schlimmer ist´s wohl nur, selbst ins Gras zu beißen.“
Mit einer einzigen schnellen Bewegung schleuderte er den Bierkrug in Willys Gesicht. Willy brach zusammen. Und nur eine Sekunde später stand Spencer bereits amüsiert grinsend über ihm. Willys Colt in der Hand. Mit dem Fuß hielt er ihn auf dem Boden und zielte in dessen blutüberströmtes Gesicht.
„Bei aller Liebe, jetzt sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, mein Junge.“ Mit der freien Hand begann Spencer aufzuzählen. „Erstens. Niemals zögern, solange du im Vorteil bist. Zweitens. Lass dich bloß nicht aus der Ruhe bringen, sonst verlierste am Ende nur den Überblick. Ungesund so was.“ Spencer richtete sich in Richtung Tresen, während er gleichzeitig den Druck auf Willys Brust verstärkte.
„Weißt du Earl, die jungen Leute hören einfach nicht mehr richtig zu! Ne echte Schande so was. Jesses. Mal ehrlich, mein Junge, die Sache mit den Frauen? Ja, wofür hälst du mich denn? Ich bin ein Gentleman! Und ist doch außerdem hinlänglich bekannt, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle.“ Spencer begann lauthals zu lachen. „Aber das will ja auch wieder keiner hören, was? Earl? Was sagst du eigentlich dazu?“
„Solange du dein Bier zahlst, kannst du rumhuren wie du's für richtig hälst“, erklang es hinter dem Tresen.
„Hach, der gute Earl. Ein echter Pragmatiker.“ Spencer zwinkerte dem am Boden liegenden und stöhnenden Willy verschmitzt zu.
„Nun, das meiste, was ich dir heute erzählt habe, war jedenfalls Quatsch. Mit Ausnahme von den Waffen vielleicht. Halt ich im Grunde tatsächlich für Unsinn. Siehst ja, wohin uns das gebracht hat, nicht wahr? Aber was soll man machen? Sind wohl alle nur Kinder unserer Zeit, was?“ Spencer stockte. „Abgesehen von Nikola Tesla natürlich. Der ist uns in der Tat meilenweit voraus. Unter anderen Umständen könnte ich dir ein paar wirklich kaum zu glaubende Dinge über drahtlose Energieübertragung erzählen.“ Spencer schüttelte den Kopf. „Von diesem Teufelskerl werden wir jedenfalls noch einiges zu erwarten haben.“ Er machte eine Pause.
„Nur du eben leider nicht mehr. Farewell, mein Junge.“
Und mit einem letzten, bedauernden Blick schoss er Willy ins Gesicht.