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Spektabilität
Spektabilität
An der altehrwürdigen Alma Mater in Berlin, der Wirkungsstätte solch berühmter Persönlichkeiten des Geisteslebens, wie Fichte, Hegel, von Humboldt, Mommsen, Schleiermacher und anderen, sollte kurz nach dem großen Krieg der Gewerkschaftsvorsitzende der Universität zum Ersten Mai, weil das so üblich war, vor den Studenten, Professoren, und Angestellten eine Festrede halten.
Wilhelm war ein an dieser hohen Lehranstalt für seine Zuverlässigkeit geachteter Arbeiter und Gewerkschafter, doch ungeübter Redner. Deshalb gab ihm sein Kreisvorsitzender einige Hinweise, die er unbedingt beachten sollte, um nicht in das berühmt-berüchtigte Fettnäpfchen zu treten. Schließlich würde er seine Rede an ein auserlesenes Auditorium richten. Besonders wichtig sei es, zu Beginn seiner Ansprache die honorigen Persönlichkeiten den an der Hochschule üblichen offiziellen Umgangsformen gemäß anzusprechen. So gelte für den Rektor die Anrede „Eure Magnifizenz“, für die Professoren, Doktoren und Hochschullehrer „Respektabilität“. Man könne aber dieses ungelenke Wort abkürzen, indem man nur „Spektabilität“ sage.
Mit derart profunden Ratschlägen ausgerüstet ging Wilhelm entschlossen ans Werk. Doch wohl war ihm in seiner Haut nicht. Allein der Gedanke, vor welch erlauchtem Kreis er eine Rede halten sollte, trieb ihm kalten Schweiß auf die sorgenvoll gefurchte Stirn. Doch Pflicht ist Pflicht. Gewissenhaft brachte er seine Gedanken zu Papier, las es, änderte hier und da, strich ganze Absätze, formulierte sie neu, verwarf den ganzen Entwurf und schrieb alles mindestens drei Mal neu, bis er endlich mit seiner Schöpfung zufrieden war. Nun prägte er sich das Geschriebene ein, denn er wollte seine Rede nicht ablesen.
Der Tag seines Auftritts kam. Das Auditorium maximum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Erwartungsvolle, fast feierliche Stille begleitete Wilhelm auf seinem Weg zum Rednerpult. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Die ungewohnte Atmosphäre und die ihm geltende gespannte Aufmerksamkeit so vieler Menschen machten ihn nervös. Plötzlich glaubte er, alles, was er sich eingeprägt hatte, vergessen zu haben. Dem Rektor, der auf einem Ehrenplatz in der vordersten Reihe saß, schien Wilhelms Beklommenheit nicht entgangen zu sein, und er schenkte dem Redner einen freundlichen, aufmunternden Blick.
So ermutigt, begann Wilhelm seine Rede:
„Eure Magnifizenz!“, rief er mit klarer und kräftiger Stimme in den Saal und sein Blick traf den seines erlauchten Rektors, in dem ihm noch immer die aufmunternde Freundlichkeit begegnete.
Nun kam dieses umständliche, Furcht einflößende Wort. Wie hieß es doch gleich? „Spek...!“, setzt Wilhelm an, kam aber nicht weiter. Noch einmal, etwas lauter: „Spek...!“ Es war doch so etwas lateinisches. Ja, richtig: „Spekulatius!“, rief Wilhelm laut und vernehmlich dem erwartungsvollen Auditorium entgegen, das diese einfallsreiche Anrede mit einem entzückten Lustschrei honorierte.
franzkarl