- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Spaziergang
Das Ehepaar ging langsam durch den blühenden Park. Die Bäume am Wegesrand spendeten alten Leuten Schatten, die dem Gesang der Vögel lauschten oder die Kindern beim Spiel mit den Hunden zusahen. Diese störten die Idylle ab und zu durch lautes und kehliges Bellen. Die alten Leute sprachen über längst vergangene bessere Zeiten, und dabei hatten sie einen wehmütigen Gesichtsausdruck. Damals...
Sonnenlicht strahlte hell durch das Blätterdach, und die Kuppel wölbte sich rund und weit über der Stadt. Die Menschen grüßten das Ehepaar; jeder war freundlich und nett, von allen waren sie angesehen.
Obwohl niemand sie persönlich kannte. Aber an ihnen war etwas, was der Menschheit im Laufe der Zeit verloren gegangen war: Sie besaßen frische Gene; DNA, die noch nie zum Klonen verwendet worden war. Deshalb wusste das Paar, dass es etwas besonderes darstellte, und deshalb wussten es auch, dass es niemandem trauen durfte. Bestimmt waren auch einige Leute dabei, deren Freundlichkeit aufrichtig war, doch an der Art des Anlächelns und an der Art des Grüßens merkten die beiden, dass sich die meisten nur für ihre Besonderheit interessierten. Und so erlebten sie ihre ganz persönliche Version von Paranoia; jedermann konnte die Person sein, die ihrem Leben, so wie es bisher ablief, ein jähes Ende setzte.
Angefangen hatte alles vor einem halben Jahr, als sie noch dachten, auch sie wären geklont. Doch dann hatten sie Besuch bekommen von einem Wissenschaftler, der ihnen mitteilte, dass sie der letzte Rest natürlicher Menschheit wären. Und das wollte er ausnutzen: Er wollte sie dieser Natürlichkeit, der Einzigartigkeit berauben. Er wollte ihre Gene. Er meinte, dass das Fortpflanzen durch Klonen zwar die einzige Möglichkeit zum Überleben der Art war, dass aber ab und zu frisches Material benötigt wurde, wenn es nicht in einigen Generartionen zu Ende sein sollte mit Gottes Schöpfung. Auf die Frage, was passieren sollte, wenn es überhaupt keine frische DNA mehr gab, konnte der Wissenschaftler allerdings keine Antwort geben; das hier und jetzt und die nahe Zukunft waren wichtiger. Er appellierte an ihren Sinn für das Gemeinwohl, er wollte, dass sie ihre Identität aufgaben, um die Spezies zu retten. Sie sagten nein. Offiziell konnte niemand dazu gezwungen werden, sich klonen zu lassen, doch das Paar wusste, dass es schon oft vorgekommen war.
Also konnte jeder, der ihnen jetzt so nett zuwinkte, die Person sein, die sie an den Staat auslieferte. Doch wäre das Ehepaar zu Hause geblieben und hätte sich versteckt, dann wäre es verdächtigt worden, etwas zu verbergen. Sie wären verhaftet worden, es hätte einen Schauprozess wegen irgendeines schwerwiegenden Verbrechens, auf das der Tod stand, gegeben, und schließlich wären sie hingerichtet worden - nachdem ihnen gewaltsam ihre Gene entnommen worden wären. So oder so - sie mussten verlieren.
Am Abend waren die Straßen verlassen. In einem weit vom Zentrum entfernten Stadtteil ging das Ehepaar noch immer spazieren. Es herrschte wie immer Ausgangssperre, doch sie hatten sich vor den Wachen verbergen können. Nun waren sie also hier; sie schlichen durch die Gassen, wie Phantome, um zu einer der Lücken im Kraftfeld vor der Kuppel zu gelangen.
Sie wollten die Stadt verlassen, hinaus in die verseuchte Wüste ziehen. Wenn sie Glück hatten, würden sie von einer Gruppe "Sandleute" - dem Leben in der Wüste vollkommen angepassten Menschen - gefunden und aufgenommen werden, in eine Siedlung gebracht werden, wo sie vor der Strahlung geschützt waren, wo sie ein neues Leben beginnen konnten, wo sich die Menschen noch auf natürliche Weise fortpflanzten und entwickelten. Wenn sie kein Glück hatten, würden sie sterben, langsam und quälend zwar, aber doch in Freiheit.
Inzwischen hatten sie eine der Lücken erreicht. Sie war nicht sehr groß, doch wenn sie einzeln hindurch krochen, ging es. Sie spürten das elektrische Feld auf ihren Körpern kribbeln. Nacheinander verließen sie den Ort, an dem die Menschheit den falschen Weg eingeschlagen hatte. Sie wandten sich ab von einer Zivilisation, die sich so weit von der Natur entfernt hatte, dass sie es durch Parks mit künstlichen Pflanzen vertuschen musste.
Als sie die Kuppel hinter sich gelassen hatten, rannten sie so schnell es ging in Richtung Wüste. Später blieben sie stehen und drehten sich um. Vor ihnen erhob sich eine riesige künstliche Halbkugel aus dem Boden, die Stadt.
Das kalte Mondlicht wurde hundertfach von der facettierten Oberfläche reflektiert und warf einen Lichtkegel auf das Ehepaar.