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Spätschicht
Ganz schön leer hier im Büro. Gäbe es hier Grillen, würde ich sie zirpen hören.
Die Uhr tickt. Der Regen prasselt gegen das Fenster. Die Lampe vor mir flackert. Was für eine Atmosphäre. Vielleicht kommt bald ein Geist zwischen den Akten hervor? Ich würde mich freuen, dann wäre ich wenigstens nicht mehr so allein. Ich blicke auf meine Ablage. Sie ist fast leer, dabei habe ich noch sechs Stunden vor mir. Gelangweilt stütze ich mein Kinn in meine Hand. Immer diese Spätschicht. Wozu gibt es die überhaupt?
Ich arbeite mich durch meine Programme, trage Daten ein und surfe zwischendurch im Internet. Als ich wieder aufblicke, ist gerade mal eine Stunde vergangen. Ich seufze.
Das Telefon klingelt. Mein Kollege von unten verkündet, dass er nun Feierabend hat. Wie schön für ihn. Nun bin ich komplett alleine im Amt.
Noch fünf Stunden. Ich schaue auf den Schichtplan. Oh — eigentlich hatten drei weitere Kollegen mit mir Dienst. Alle haben sich krankgemeldet. Vermutlich Corona …
Ich bearbeite meine Dokumente, während ein Kobold zwischen den Akten hervorschaut. Ob er sich auch langweilt? Ich schüttel meinen Kopf. Jetzt sehe ich wirklich schon Geister.
Auf dem Weg zum Postkasten schaue ich in die menschenleeren Büros. Warum bin ich überhaupt noch da? Theoretisch könnte ich den ganzen Abend verschwinden. Erst wenn die Nachtschicht eintraf, würde man mich vermissen. Aber bis dahin wäre ich zurück. Ich stehe vor dem Postkasten. Gegenüber ist ein Italiener. Ich könnte essen gehen …
Mit einem Pizzakarton sitze ich wieder vor meinem PC. Ich bin einfach zu pflichtbewusst. Der Kobold will auch ein Stück haben. Natürlich gebe ich es ihm. Hab ich das wirklich gerade getan? Ich schau noch einmal unter meinen Tisch, doch der Kobold ist weg, zusammen mit dem Pizzastück. Diese Einsamkeit macht mich verrückt. Mein Handy spielt Musik, weil das Radio schon seit Wochen kaputt ist. Ich ruf meinen Freund an. Wir reden drei Minuten, doch er will zum Sport.
Noch vier Stunden.
Meine Ablage ist leer, genau wie mein Akku. Die Uhr tickt ununterbrochen. Genervt stehe ich auf und nehme die Batterie heraus. Jetzt ist es noch leiser. Warum gehe ich nicht einfach nach Hause? Ich könnte sagen, dass mit schlecht geworden ist.
Noch dreieinhalb Stunden.
Ich starre auf meinem Bildschirm. Ich weiß nicht mehr, was ich googeln soll. Ich dreh mich auf meinem Stuhl im Kreis und betrachte fasziniert die Decke. Ich wusste gar nicht, dass die Deckenverkleidung Löcher hat.
Drei Stunden und fünfzehn Minuten.
Ich zähle Aktenordner.
Noch drei Stunden!
Ich fahre mit meinem Stuhl im Büro umher. Ich schaffe es mit einem Anschwung von einer Wand zur Nächsten. Was für ein Spaß. Aber nur kurz.
Zweieinhalb Stunden, bis zum Feierabend ...
Es reicht. Ich gehe wieder zum Postkasten. Er ist leer.
Apathisch schau ich die Straße entlang. Wo bleibt die Nachtschicht? Kann sie nicht ausnahmsweise früher kommen?
Langsam geh ich die Treppen hinauf in den fünften Stock, schaue dort aus dem Fenster und beobachte ein vorbeifliegendes Ufo, danach geh ich zurück in den zweiten. Wie angewurzelt bleibe ich im Türrahmen stehen, dreh mich um und renne zurück in den fünften Stock. Hab ich dort wirklich ein Ufo gesehen? Ich reckte meinen Kopf nach draußen, doch abgesehen vom Halbmond sehe ich nichts. Natürlich war es schon weg. Langsam geh ich zurück in mein Büro. Stille empfängt mich. Ich setze mich auf meinen Stuhl, dreh mich im Kreis. Allmählich wird mir schlecht. Ich halt inne und starre die Akten an.
Zwei Stunden.
Ich sortiere meine fertigen Dokumente dreimal neu und fange an Ablagen zu zählen.
Ein Aktenschrank hinter mir fängt an zu zittern. Erschrocken spring ich auf. Ich nehme einen Ordner und halte ihn wie ein Schild vor mich. Das Zittern wird stärker. Ängstlich gehe ich auf den Schrank zu. Ich muss wissen, was da drinnen ist. Ich strecke meine Hand aus und öffnete die Schiebetür. Der Schrank explodiert. Ich schreie. Aktenordner und Papiere fliegen um mich herum. Ich sehe nichts mehr. Überall sind Dokumente, sie lachen mich aus. Den Akten wachsen Zähne und rote Augen. Ich höre sie knurren, sehe sie schnappen. Ein Ordner greift mich an, er verbeißt sich in meinen Arm. Sie werden mich fressen!
„Lena, wach auf! Hier greift dich niemand an.“
Ich reiße die Augen auf und blickte in drei grinsende Gesichter. Meine Ablösung ist endlich da! Mir fällt ein Stein vom Herzen. "Warum habt ihr bloß so lange gebraucht?"