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- 04.08.2001
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Spätes Wiedersehen
War Einar glücklich hier draußen, weit ab von jeder menschlichen Behausung? Oft genug lag er in seiner Pritsche und dachte darüber nach. Und kam fast immer zu dem Ergebnis, dass er wenigstens nicht unglücklich war. Schon mal ein guter Anfang, meinte er, und wahrscheinlich mehr, als viele Menschen von sich sagen konnten.
Er war beim Kartoffeln Racken in seinem kleinen Garten vor der Hütte. Die letzten für dieses Jahr, die Ernte war mies gewesen.
Zuerst hörte er es rascheln, dann, als er sich aufrichtete, sah er die verlotterte Gestalt aus dem Wald herauskommen.
Einar stützte sich auf die Hacke und beobachtete, wie der Mann langsam auf sein Haus zukam.
„Haben Sie sich verlaufen, Mann?“, rief er ihm entgegen, doch der Andere reagierte nicht. Er war mit einem billigen Jogginganzug bekleidet, der vor Schmutz starrte. Als er näher kam, erkannte Einar, dass er frisch rasiert war.
Der Mann blieb stehen und blickte ihn an.
„Die nächste Ansiedlung ist vierzig Kilometer entfernt.“ Einar legte die Hacke ab und ging hinüber. „Ich weiß nicht, was Sie suchen, aber ich glaube nicht, dass Sie es hier finden werden.“
Der Mann sagte ruhig: „Ich suche dich.“
Und dann erkannte Einar ihn.
„Haake?“, fragte er, während er seine Hände an den Hosen abwischte. „Haake Dreenkrögen. Verdammt, was machst du denn hier draußen?“
Haake Dreenkrögen! Wie lange hatte er den nicht mehr gesehen? Es musste Jahrzehnte her sein, seit sie sich aus den Augen verloren hatten.
Er ging auf ihn zu und wollte ihm die Hand schütteln, aber Dreenkrögen stand nur da, ließ die Arme schlaff herabhängen und lächelte müde. Er hatte sich verändert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Endlich griff er Einars Hand und schüttelte sie kurz.
Der Haake Dreenkrögen, den Einar kannte, hätte zugepackt und ihn mit kräftigem Druck begrüßt. Jetzt lag seine Hand schlaff in Einars, als wäre sie ein toter Fisch.
„Was treibt dich hierher“, fragte Einar. Er wandte sich zu seinem Garten, um die Hacke und die paar Kartoffeln einzusammeln und beiseite zu räumen. „Ich meine, du kannst mir nicht erzählen, dass du grad in der Nähe warst, und dir gedacht hast, mal reinzuschauen.“
Er lachte unsicher und klopfte sich die Hosen ab. Dreenkrögen blickte sich um und sagte leise: „Schön hast du’s hier.“
„Hm. Lass uns reingehen. Ein Blick zur Sonne sagt mir, dass es gute Zeit für ein Bier ist.“
„Du wohnst ganz allein hier?“
Einar hatte Dreenkrögens Stimme lauter in Erinnerung, eindringlicher. Zumindest aber fester.
„Na ja. Die meiste Zeit jedenfalls.“
Er hatte ihn mit Sachen aus seinem Schrank ausgestattet. Früher war Einar dünner gewesen, doch mittlerweile hatten sie beide sich kleidergrößenmäßig angepasst.
Dreenkrögen saß mit einem heißen Tee auf dem abgewetzten Sofa, Einar hatte sich ein Bier aufgemacht und betrachtete ihn misstrauisch.
„Niemand läuft vierzig Kilometer durch den Wald, um einen ehemaligen Klassenkameraden zu treffen. Was treibt dich her, Haake?“
Dreenkrögen sah sich um. Er machte eine gute Figur in den Freizeithosen und dem Rollkragenpulli. Zumindest eine bessere als Einar.
„Wo kriegst du Strom her, hier draußen?“; fragte er mit Blick auf die schummrige Stehlampe in der Ecke.
„Generator“, erwiderte Einar. „Draußen in der Garage.“
„Ein Auto hast du auch?“
„Natürlich. Soll ich mit dem Fahrrad einkaufen fahren?“
Er stand auf und ging in die Küche. „Hast du Hunger?“, rief er, wartete aber keine Antwort ab, sondern trug Brot, Wurst und Käse ins Wohnzimmer. „Natürlich hast du Hunger.“
Als sie gegessen hatten und Einar sich noch ein Bier geholt hatte, fragte er noch einmal: „Was treibt dich hier raus, Haake? Wir haben seit mindestens zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr, wir hatten damals in der Schule kaum miteinander zu tun. Also, was willst du von mir?“
Dreenkrögen atmete durch. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht, aber Einar konnte nicht fassen, was es war.
„Es ist nicht alles rund gelaufen in meinem Leben.“
„Da habe ich anderes gehört.“ Wie Einar zu Ohren gekommen war, hatte Dreenkrögen keine schlechte Karriere hingelegt. Er bekleidete jetzt den Posten eines Staatsministers im Gesundheitsressort.
Dreenkrögen blickte ihn an, und jetzt sah Einar, was falsch war. In seinen Augen schwammen kleine Schatten, die sich scheinbar frei bewegen konnten.
„In letzter Zeit, meine ich.“ Dreenkrögen sah aus dem Fenster und als er sich wieder zu Einar wandte, erkannte der, dass er sich geirrt hatte.
„Was soll das heißen, Karriereknick? So was in der Art?“
„Nichts mit der Arbeit, nein.“
„Willst du noch Tee?“ Einar stand auf und wollte in die Küche gehen.
„Es ist …“, begann Dreenkrögen leise. „Ist es normal, wenn man die Hälfte seines Lebens vergisst?“
„Was?“
Einar kam langsam zurück. „Was hast du gesagt?“
„Ich meine, mir sind Teile meiner Erinnerungen verloren gegangen.“
„Einfach so?“
Dreenkrögen saß jetzt da wie ein kleiner Junge. Dabei war er in der Schule immer so stark gewesen.
„Ich hab’ so was nie für möglich gehalten.“, sagte er. „Ich dachte, ich hätte mein Leben im Griff.“
Einar lachte auf. „Das dachte ich bei mir auch.“ Er setzte sich wieder. „Aber was willst du dann bei mir?“
„Du sollst mir helfen.“
Einar trank sein Bier aus. Er lachte noch einmal bitter auf und sagte dann: „Ich lebe nicht umsonst am Ende der Welt, Haake. Wie sollte ich dir helfen können?“
„Du sollst mir die Erinnerung an unsere gemeinsamen Jahre zurückgeben.“
Später am Abend, Einar war ein bisschen betrunken vom Bier, fragte Dreenkrögen: „Mein Handy funktioniert nicht, der Akku ist leer. Kann ich dein Telefon benutzen?“
Einar hatte für ihn ein Zimmer in der kleinen Hütte hergerichtet, hatte ihm Sachen hingelegt und Toilettenartikel. Dreenkrögen hatte nicht einmal eine Zahnbürste dabei.
„Kein Telefon“, rief er fröhlich von seiner Couch. Dreenkrögen stand in der Tür und schaute ihn fassungslos an. „Soll das heißen, du hast hier in der Einöde kein Telefon?“
„Jep.“ Er würde ihm von dem Plumpsklo draußen erzählen müssen und davon, dass er mit dem Wasser sparsam würde umgehen müssen.
„Das ist …ungewöhnlich. Hast du wenigstens Internet?“
Einar schüttelte den Kopf. „Wir sind hier quasi von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Fernsehen, nicht mal Radio. Der dritte Weltkrieg könnte beginnen, ich krieg hier nichts mit.“
„In der Tat.“ Dreenkrögen dachte nach. „Andererseits bekommt die Welt da draußen auch nicht mit, wenn dir etwas zustößt.“
Einar hievte sich vom Sofa und holte sich aus der Küche ein neues Bier.
Er schlief unruhig in dieser Nacht, mehrere Male schreckte er hoch und lauschte in die Dunkelheit. Er hatte gemeint, Geräusche zu hören.
Die Morgentoilette war schwierig, Wasser musste gespart werden, und Einar hatte sich schon lange abgewöhnt, sich warm zu waschen.
„Wie lange machst du das hier schon?“, fragte Dreenkrögen, als er mit nassen Haaren und einem Handtuch über der Schulter in die Küche kam. Er sah schon viel besser aus als gestern Abend.
„Was meinst du, Kaffee kochen?“
„Wie lange wohnst du schon in dieser Wildnis?“
Einar drückte ihm das vollgestellte Tablett in die Hand. „Hier, bring das ins Wohnzimmer! Du kannst froh sein, ich habe noch ein zweites Gedeck gefunden.“
Dreenkrögen ging hinaus und deckte den Tisch. Das Frühstück würde mager ausfallen.
Einar rief aus der Küche: „Es gehört eigentlich Gunnar Tetjen, der mich hin und wieder besucht.“ Es klapperte. „Du müsstest ihn kennen, er ging auch auf unsere Schule, damals.“
Dreenkrögen brummte, was Zustimmung bedeuten konnte.
Einar streckte den Kopf herein. „Oder hast du das auch vergessen?“
Als sie frühstückten – Kaffee war vorhanden, Brot und Butter, dazu Salami und etwas Käse – hakte Dreenkrögen noch einmal nach. „Wieso zieht ein Mensch wie du hier heraus, in die Leere? Ich würde es keine zwei Tage allein aushalten.“
Einar trank seinen Kaffee aus und steckte sich eine Zigarette an.
Als Dreenkrögen ihn finster anblickte, entschuldigte er sich: „Ja, ja. Ich trinke und ich rauche. Dafür habe ich garantiert nichts mit Frauen.“ Er lachte gequält.
„Bist du deshalb hier rausgezogen?“, fragte er.
„Ach, Scheiße!“ Einar winkte ab. Er stand auf und ging zum Fenster. „Was soll die Fragerei, bist du mein Therapeut?“
Das Wetter ließ einen schönen Spätsommertag erhoffen. Einar drehte sich um und lächelte.
„Ich glaube, heute Nachmittag können wir einen kleinen Spaziergang unternehmen.“
Vormittags arbeitete Einar, er zog sich in sein Zimmer zurück und schrieb.
„Bist du Schriftsteller?“, fragte Dreenkrögen zum Mittag. Er aß eine Kleinigkeit, Einar trank einen Kaffee und rauchte. „Ich muss gestehen, ich hab noch nichts von dir gelesen.“
Einar drückte die Zigarette aus, stand auf und verließ wortlos das Zimmer. Er kam zurück mit einem Packen Hefte unter dem Arm, die er auf den Tisch warf.
Es waren Groschenromane, mit schreienden Coverbildern und absurden Titeln.
„Horror, Science Fiction, Fantasy. Was du willst“, sagte Einar.
Dreenkrögen griff sich ein Heftchen. „Im Todesmoor der Satansjünger“. Eine halbnackte Blondine, die von Männern mit schwarzen Kapuzenmasken bedroht wurde.
„Damit kann man Geld verdienen?“, fragte Dreenkrögen.
„Man kann davon leben. Wenn man sich einschränkt.“
„Ich habe mich nie gefragt, was das für Leute sind, die so etwas schreiben“, meinte Dreenkrögen, während er das Heftchen durchblätterte.
Am Nachmittag brachen sie auf zu einer Wanderung durch den Wald.
„Ich hatte mal überlegt, mir einen Hund zuzulegen“, sagte Einar, während sie die Hütte verließen.
„Schließt du nicht ab?“, fragte Dreenkrögen.
Einar warf ihm einen Blick zu. „Selten, dass ein Wolf versucht hat einzubrechen.“
Er holte aus einem kleinen Schuppen nebenan zwei Körbe hervor und fuhr fort: „Es gab eine Zeit, da hätte ich höchstens einen Hund an meiner Seite geduldet.“
Er drückte Dreenkrögen einen Korb in die Hand und stiefelte voraus.
„Manchmal können Menschen das größte Übel sein“, dozierte er, während Dreenkrögen hinter ihm herlief. Dann drehte er sich plötzlich um: „Weißt du, dass es in der Natur kaum einen Ort gibt, an dem es wirklich still ist?“
„Was soll ich mit dem Korb?“
Einar wusste, wo viele Pilze standen. Zumindest sagte er das.
„Ich verstehe das nicht“, meinte er und kratzte sich am Kopf. Sie waren in einen Kiefernwald gelaufen, ein ganzes Stückweit, und standen nun auf einer kleinen Lichtung, die von einer wärmenden Herbstsonne beschienen wurde. „Ich war vor zwei Wochen das letzte Mal hier. Die ganze Wiese müsste übersät sein mit Pfifferlingen.“
Ratlos lief er hin und her, bis er sich auf einem umgestürzten Baum niederließ und den Schweiß von seiner Stirn wischte. Er sah Dreenkrögen an und lächelte unsicher.
Dreenkrögen hielt seinen Korb leicht in die Höhe und Einar sagte unglücklich: „Tja.“
Sie gingen tiefer in den Wald hinein, doch sie fanden nicht einen Pilz.
Nur das Wetter schien ihnen einen Gefallen tun zu wollen. Die Luft war angenehm warm und die Kiefern verströmten ihr Aroma. Mücken surrten und Spinnen hatten ihre Netze gespannt.
Äste knackten unter ihren Schritten, als Dreenkrögen fragte: „Müssten wir nicht umkehren, um vor Sonnenuntergang zurück zu sein?“
Einar sah ihn belustigt an. „Früher warst du nicht so ängstlich.“
Er machte einige Schritte auf ein Gebüsch zu, weil er meinte, einen Pilz entdeckt zu haben. Doch er hatte sich geirrt.
„Wie war ich denn früher?“, fragte Dreenkrögen. Er schien nicht interessiert an Pilzen. Auch ihr scheinbar vollständiges Fehlen schien ihn nicht zu stören.
„Du warst ein Arschloch.“
„Ein Arschloch?“ Er war ungerührt. „Wie meinst du das?“
Einar verfing sich in einem Netz, in dem eine Spinne zwischen zwei Bäumen auf Opfer gelauert hatte. Mit wilden Bewegungen versuchte er das Geflecht aus seinem Gesicht und von den Haaren zu streichen.
„Nun ja, ein Arschloch, halt.“ Er bekam das Spinnentier zu fassen und schleuderte es fort. „Es gibt Menschen, die sind für sich selbst das Maß aller Dinge. Weißt du, ich glaube, dein Elterhaus war schuld daran. Es gab genügend Menschen, die du gar nicht wahrnahmst, weil sie dir nicht nutzten. Andererseits, wenn du dir von jemandem etwas versprochen hast, warst du charmant und aufmerksam.“
Ein Schimmern durch die Bäume nahm Einar gefangen.
„Jetzt rate, zu welcher Art ich damals zählte.“
„Hm“, machte Dreenkrögen.
Einar ging auf das seltsame Schimmern zu. „Wenn ich damals den Grips von heute gehabt hätte“, meinte er gedankenverloren, „dann hätte ich gewusst, dass du Politiker wirst. Aber dabei …“
Er hatte einen Ast beiseite geschoben und damit den Blick freigemacht auf eine weitere Lichtung.
„Mein Gott!“
Auf einer Fläche so groß wie ein Fußballfeld standen Millionen kleiner, olivgrüner Pilze. Dicht an dicht, als warteten sie gemeinsam auf etwas. Ein Leuchten schien von ihnen auszugehen, kein Geräusch war zu hören.
„Mein Gott“, sagte Einar noch einmal. „Hast du so was schon mal gesehen?“
Beide standen eine Zeitlang reglos nebeneinander und starrten auf das Feld.
Einar löste sich schließlich und ging darauf zu. Dreenkrögen machte eine Bewegung, als wolle er ihn zurückhalten. „Was willst du machen?“, flüsterte er.
Einar drehte sich um und grinste. „Wir sind zum Pilze sammeln gekommen, nicht?“, sagte er, stellte den Korb ab und bückte sich.
Als er einen am Rand stehenden Pilz vorsichtig abdrehte, war er sicher, dass ein Zittern über das grüne Meer ginge. Wie eine Welle schien es sich auszubreiten über die kleinen Kappen hinweg.
Er stand auf und kam zurück.
„Ich hätte wetten können, dass die anderen Pilze gespürt haben, wie ich den hier gepflückt habe“, sagte er.
Dreenkrögen antwortete „Unsinn.“, drehte sich um und ging wieder in den Wald hinein.
Da sie keine Pilze gefunden hatten – zumindest keine essbaren – mussten sie mit Trockenfleisch und Brot zum Abendbrot vorlieb nehmen. Dreenkrögen schien Hunger zu haben, er aß, bis der Tisch leer war.
Als sie Ruhe fanden, entzündete Einar ein Feuer im Kamin, und sie beide setzten sich darum. Der eine skizzierte den Inhalt für einen neuen Heftroman auf einem Blatt Papier. Der andere saß ihm gegenüber und blätterte in einem solchen mit dem Titel: „Invasion der Schleimmonster“.
Das hin und wieder knackende Feuer unterstrich die Stille, Einar schrieb und Dreenkrögen las und schüttelte dann und wann seinen Kopf.
„Was ich nicht verstehe“, sagte er irgendwann in diese Idylle hinein. „Wie kriegst du deine Manuskripte zum Verleger und die Druckfahnen zurück, wenn du von der Außenwelt abgeschnitten bist?“
Einige Sekunden benötigte Einar, um sich im Hier zurechtzufinden. Eben noch hatte er gemeinsam mit seinem Dämonenfänger Harry Spicer einen der berüchtigtsten Vampir-Ghoule zur Strecke gebracht. Er sah auf und nahm seine Lesebrille ab.
„Das war doch nur ein Witz: Von der Außenwelt abgeschnitten! Ich bekomme meine Zeitungen, Briefe. Regelmäßig.“
Dreenkrögen legte das Heft ab. „So kommt doch jemand her?“
„Natürlich, einmal in der Woche schaut der Briefträger vorbei und beliefert mich mit Post und Zeitungen. Er macht es nicht gern, aber er ist immer pünktlich.“
„Einmal die Woche?“
„Übermorgen, ja.“ Einar griff sich den Schürhaken, hockte sich vor den Kamin und stocherte im Feuer. „Und etwa einmal im Monat fahre ich mit dem Pick-Up in die Stadt und fülle meine Vorräte nach.“ Er hängte das Eisen wieder weg und strahlte Dreenkrögen an. „Shopping-Day.“
Er wurde wieder ernst und sagte: „Was waren das für seltsame Pilze auf der Lichtung?“
„Pilze, halt.“
„Ich hab solche noch nie gesehen.“ Er setzte sich wieder und trank einen Schluck Bier. Dann steckte er sich eine Zigarette an und setzte hinzu: „Und ich kenn ’ne Menge Pilzsorten.“
Dreenkrögen vertiefte sich wieder in sein Heftchen und murmelte etwas von „Mutationen, vielleicht“ und Stille kehrte wieder ein.
In der Nacht schreckte Einar aus dem Schlaf. Hatte er ein Geräusch gehört? Er hätte es schwören können, allerdings konnte es auch ein Traum gewesen sein.
Er stand auf und schlurfte hinaus. Es war halb zwei und er musste pinkeln. Als er an Dreenkrögens Zimmer vorbeikam, sah er, dass die Tür offenstand. Er warf einen Blick hinein – das Zimmer war leer.
Er konnte kein Licht machen, der Generator schaltete sich nachts ab. Der Kühlschrank lief in der Zeit auf niedrigster Stufe und von einer Batterie gespeist.
So schlich Einar mit einer Taschenlampe durch die Dunkelheit und suchte Dreenkrögen. Er konnte ihn nicht finden und wurde langsam panisch. Er suchte noch einmal die gesamte Hütte ab, sogar in der kleinen Vorratskammer, der Andere war nicht auffindbar.
Irgendwann gab er dem Druck seiner Blase nach und ging nach draußen aufs Klo. Als er wieder zurück war, fand er Dreenkrögens Tür geschlossen, als ob nichts geschehen wäre.
Am anderen Morgen kam ihm sein Erlebnis vor wie ein schlechter Traum. Er ließ es unerwähnt, auch weil er sich nicht lächerlich machen wollte.
Während Einar am Vormittag arbeitete, konnte er durch das Fenster sehen, dass Dreenkrögen sich im Garten betätigte. Er holte die letzten Kartoffeln aus der Erde, grub das Beet um und hatte, als er sich aufrichtete, tatsächlich schmutzige Hände.
Als sie sich im Bad trafen, wo sie beide ihre Hände wuschen, sagte Dreenkrögen: „Gut möglich, dass ich einiges verpasst habe in meinem Leben.“
Einar sollte sich freuen darüber, doch seltsamerweise verspürte er Eifersucht, einen kleinen hässlichen Knoten im Bauch.
Den Nachmittagsspaziergang führten sie in die andere Richtung – ebenfalls Kiefernwald, doch hierdurch führte die einzige Straße der Gegend. Wobei Straße natürlich ein Euphemismus war.
Als sie den Weg entlanggingen, sprach Einar etwas an, das ihm schon vorher aufgefallen war.
„Als du hier ankamst“, sagte er vorsichtig. „Du kamst aus der entgegengesetzten Richtung. Woher bist du gekommen, Haake?“
Dreenkrögen war dabei, einen Maulwurfshügel am Wegrand zu untersuchen. Er hatte sich nieder gehockt und stocherte mit einem Ast darin herum.
„Maulwurf“, sagte er. „Eine seltsame Spezies.“
„Ihre Hügel findest du um diese Zeit zu Hunderten. Du weichst aus.“
Dreenkrögen blickte auf und sagte: „Ich bin nicht aus der anderen Richtung gekommen.“
Einar stand jetzt neben ihm und blickte auf ihn herab.
„Was? Aber ich habe dich deutlich gesehen.“
„Du hast gar nichts gesehen! Du hast am Boden gehockt und in der Erde gewühlt.“ Er stand auf, Einar kam es so vor, als sei er gewachsen. „Ich bin aus dieser Richtung gekommen.“
„Haake, ich habe ganz deutlich gesehen, wie du …“
Er brach ab, weil er entsetzt war. In Dreenkrögens Augen tauchten die Schatten wieder auf. Wie zwei winzige dunkle Wolken zogen sie in den Augäpfeln Dreenkrögens vorüber. Dann waren sie verschwunden wie schlechtes Wetter.
„Ich kann mich auch getäuscht haben“, murmelte Einar, drehte sich um und ging weiter.
Abends saßen sich beide gegenüber und aßen wortlos ihr Brot. Dreenkrögen konzentrierte sich auf jeden Bissen, Einar konnte nicht umhin, ihn immer wieder zu beobachten.
Als er das bemerkte, unterbrach Dreenkrögen seine Kaubewegungen und blickte Einar fragend an. Nur einen Moment lang, dann kaute er weiter.
Seltsam, dachte Einar, es schien ihn nicht im Geringsten zu stören.
Mit exakten Bewegungen nahm Dreenkrögen sich eine weitere Scheibe Brot aus dem Korb, schnitt ein Stück Wurst ab, legte es darauf und fuhr fort zu essen.
Seine Gesichtshaut war straffer geworden, sie schien weich zu sein. Einar bemerkte, dass er frisch rasiert war, und ihm fiel auf, dass er eigentlich immer frisch rasiert war. Allerdings hatte er den Kerl noch nie beim Rasieren gesehen.
Die Schatten in seinen Augen! War Dreenkrögen krank? Warum aber verhielt er sich so merkwürdig? Es bestand kein Zweifel daran, dass er aus der Richtung angekommen war, in der sich weit und breit keine Ortschaft befand.
Warum war er hier?
„Warum bist du hier?“, fragte er in die Stille hinein.
Drennkrögen hörte wieder auf zu kauen. Er blickte Einar an.
Diese Augen! Trotzdem sie nichts Ungewöhnliches an sich hatten, schienen sie eisig.
„Hast du das schon vergessen? Ich brauche Informationen von dir über meine Vergangenheit.“
„Aber.“ Einars Mund war trocken. „Aber warum kommst du gerade zu mir? Ich kann dir nur wenig helfen.“
Dreenkrögen lächelte. „Nein, nein. Du kannst mir sehr gut helfen. Erzähl mir nur alles, was du weißt.“
Was macht einen Menschen aus? Was macht ihn zu dem, was er ist, und wo beginnt der Mensch den anderen und sich selbst etwas vorzuspielen?
Einar lag die halbe Nacht wach, er konnte nichts dagegen tun, er musste philosophieren.
Was war an Dreenkrögen anders, was war er selbst? Was fremd?
Obwohl sie sich so lange nicht gesehen hatten und auch damals nicht eng bekannt gewesen waren, hatte Einar doch das Gefühl, dass sein ehemaliger Schulkamerad nicht er selbst war.
Irgendwann konnte er nicht widerstehen, musste aufstehen und nachschauen, ob Dreenkrögens Tür offenstand.
Sie war geschlossen, er stand im Dunkeln im Flur und kam sich lächerlich vor.
Der nächste Tag war ein ganz besonderer, an dem Einar kaum arbeiten konnte vor Aufregung. Posttag!
„Eigentlich versuche ich ja stringent durchzuarbeiten“, sagte er, als sie beide am Fenster standen und warteten. „Aber wenn Elof kommt, krieg ich das nicht fertig.“
„Stringent?“, fragte Dreenkrögen humorlos. „Ich dachte so sprechen nur Buchhalter.“
Kurz vor dem Mittag kam Elof. Einar wunderte sich jedes Mal, wie er es wagen konnte, mit diesem Auto auf ungewisse Reise zu gehen.
Wie immer aß Elof einen Happen mit, nachdem er Einar die Post übergeben hatte.
Einar hoffte insgeheim, Drennkrögen würde sich entschließen, mit ihm in die Stadt zufahren und so aus seinem Leben zu verschwinden.
Das geschah nicht. Elof stieg in sein Gefährt, nachdem er Einar die Hand geschüttelt und gesagt hatte: „Richtig was los in der Welt. Wer weiß, wo das endet.“ Dann nickte er düster, brauste los und sie waren wieder allein.
Einar versuchte sich wie immer zu zügeln. Er las zuerst die ältesten Exemplare und arbeitete sich dann immer weiter bis zur Gegenwart vor. Dabei verging meist ein guter Nachmittag.
Danach nahm er sich Briefe vor und als allerletztes nach dem Abendbrot, wenn er eine Büchse Bier vor sich zu stehen hatte, sah er die amtlichen Schreiben durch, Rechnungen und ähnlich unangenehme Dinge.
Ihm fiel die Schlagzeile der neuesten, der heutigen Ausgabe ins Auge, als er den Stapel ablegte und die älteste heraussuchen wollte: „Ist die Menschheit in Gefahr? Neue Anschläge aufs Trinkwassernetz.“
Er zog sich in sein Zimmer zurück und las. Angefangen hatte es vor vier Tagen in einer Kleinstadt in Deutschland. Das Wasser des zentralen Versorgungsnetzes war vergiftet worden. Wer dafür verantwortlich gewesen war oder ob es sich um einen Unfall gehandelt hatte, wusste man nicht. Das Insektizid war so stark, dass Hunderte Tote zu beklagen waren.
Einar suchte hastig das Exemplar des nächsten Tages heraus. Dort musste er von neuerlichen Anschlägen lesen. England war betroffen und Belgien. Hier waren jeweils Netze einer größerer Städte betroffen, zehntausende Tote. Von Unfällen konnte nicht mehr die Rede sein.
Einar legte die Zeitung beiseite und starrte aus dem Fenster. Die Birken vor dem kleinen Garten bewegten sich in einem leichten Wind. Blätter wehten davon. Es war immer noch warm
Merkwürdig, dachte er. Es ist doch alles ganz friedlich!
Auch im Haus herrschte Stille.
Am dritten Tag kamen Städte in Brasilien, in China, Australien und einer Reihe europäischer Staaten dazu. Man ging von Anschlägen aus, aber gegen wen sich diese Anschläge richteten, von wem sie begangen worden waren, konnte niemand sagen.
Es schien, als sei die Menschheit selbst Ziel der Attacken, denn der nächste Tag brachte die Nachricht, dass der Jemen, Saudi Arabien und auch der Iran betroffen waren.
Panik überall, natürlich! Einar konnte sich gut vorstellen, wie es zuging. Natürlich versuchten die Menschen Gegenmaßnahmen zu ergreifen, doch was nützte gegen vergiftetes Wasser? Noch dazu, wenn man darauf angewiesen war?
Einar wankte aus seinem Zimmer. Dreenkrögen saß im Wohnzimmer und las eines der Science-Fiction Heftchen.
„Da“, sagte Einar und hielt ihm eine Zeitung hin. Der nahm sie herüber, warf einen Blick darauf. Einar konnte sehen, wie die kalten Augen hin und her glitten.
„Ja?“
„Das …das ist furchtbar.“
Dreenkrögen legte die Zeitung aus der Hand.
„Einar.“ Seine Stimme klang jetzt beinahe warm. „Ist nicht der Grund, aus dem du hierher gezogen bist, identisch mit dem, was da draußen vor sich geht?“
Wahrscheinlich war das der Zeitpunkt, zu dem Einar das erste Mal Angst vor Dreenkrögen verspürte.
Er wollte allein einen Spaziergang durch den Wald unternehmen. Damit er besser nachdenken konnte, und damit er letztlich entscheiden konnte, wie er sich jetzt weiter verhalten sollte. Er hatte keine Verwandten da draußen, jedenfalls keine, die ihm nahestanden. Eben sowenig waren Freunde betroffen von den Katastrophen. Der Einzige, der ihm etwas bedeutete und zu dem er einen lockeren Kontakt pflegte, war Gunnar Tetjen, der aber mindestens ebenso einsam lebte wie er selbst.
Doch Dreenkrögen schloss sich ihm ungefragt an, und so kamen sie – Dreenkrögen die Hände auf dem Rücken verschränkt, Einar so angespannt wie selten – ins Gespräch.
„Es scheint dich wenig zu berühren, was da draußen vor sich geht.“ Einar hatte zwar einen Korb mitgenommen, aber das wohl eher als Alibi. Normalität und Alltag, zweifelsohne das beste Mittel gegen eine Krise.
„Ich bin wohl dabei, mich von der restlichen Welt abzunabeln wie du“, antwortete Dreenkrögen nach einer ganzen Weile.
Es war immer noch lau, aber ein Wetterwechsel kündigte sich an. Der Himmel war bedeckt und Schwalben umschwirrten sie, als wäre der Himmel versperrt.
„Aber hast du keine Freunde, Verwandten da draußen? Menschen, die dir nahestehen?“
Einar wusste, Dreenkrögen war verheiratet und hatte eine Tochter. Als Staatssekretär war er ein öffentlicher Mann.
„Hast du denn Freunde da draußen?“
Sie blieben stehen. Einar wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen.
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, was passiert ist“, sagte Einar leise. „Was deinen Erinnerungsverlust ausgelöst hat.“
Dreenkrögen wandte sich um und ging weiter.
„Das brauchst du nicht zu wissen“, sagte er in die andere Richtung.
Sie liefen schweigend nebeneinander her, als Einar das grüne Leuchten wiedersah.
„Da!“ Er deutete darauf.
„Ja“, erwiderte Dreenkrögen ungerührt. „Die Pilze.“
„Die Pilze, natürlich!“ Einar nahm einen tiefen Atemzug. „Aber sie sind viel dichter, viel dichter als das letzte Mal!“
Er lag auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Doch die entspannte Haltung trog.
Mehrere Male schon war er drauf und dran gewesen, hinaus zum Auto zu gehen, einzusteigen und loszufahren. Und dann?
Was sollte er dann tun? Wo sollte er hin? Der einzige, der ihm einfiel, war Gunnar.
Bei dem Gedanken an ihn fiel Einar ein, dass er die Briefe noch nicht durchgesehen hatte. Als er den Stapel durchblätterte, stieß er auf Post von Gunnar.
Selten, dass sie sich schrieben; wenn es etwas Wichtiges zwischen den beiden gab, dann setzte sich der eine ins Auto und fuhr zum anderen. Vierzig Kilometer.
Gunnars Ton war unaufgeregt, der Brief geschrieben einen Tag bevor der erste Anschlag auf ein Trinkwassernetz gemeldet worden war.
Neben Belanglosigkeiten meldete sich Gunnar, um ihm mitzuteilen, dass er seit einigen Tagen Besuch hatte. „Du ahnst nicht, wer hier ist.“ schrieb er und eröffnete, dass Haake Dreenkrögen in seinem Haus weile. „Du kennst ihn sicher noch aus unserer Schulzeit.“
Er wäre vollkommen fertig, schrieb Gunnar, leide an Gedächtnisverlust und wolle sich für ein paar Wochen erholen. „Nun, ganz recht ist mir das zwar nicht, aber sei es drum. Es scheint ein netter Kerl aus ihm geworden zu sein, und so kann man über vergangene Zeiten reden.“
Einar merkte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als er kräftig einatmen musste. Vor seiner Tür knackte es.
Was ging hier vor? Ihm war plötzlich kalt. Warum schien es so, als wäre Dreenkrögen bei Gunnar, wo er doch hier in Einars Hütte – vor der Tür zu Einars Zimmer – war?
Hatte Dreenkrögen einen Zwillingsbruder? Ausgeschlossen. Einen Doppelgänger? Aber wer von den Beiden war dann der richtige, der echte Haake Dreenkrögen?
Oder hatte Gunnar sich geirrt? Ihn angelogen?
Einar lief hektisch im Zimmer auf und ab. Draußen war Bewegung zu hören. Scheiße, dachte Einar, Scheiße! Er wollte seine stille, einsame Welt wiederhaben!
Er öffnete die Tür und sah vorsichtig hinaus. Dreenkrögen war nirgends zusehen. Sollte er versuchen nach draußen zum Auto zu kommen und machen, dass er wegkam?
Stolz regte sich in ihm. Natürlich würde er das nicht tun; das hier war sein zu Hause, sein Reich. Und Dreenkrögen war derjenige, der eingedrungen war. Also würde Dreenkrögen auch derjenige sein, der es verlassen würde.
Er schlich den kleinen Flur entlang und spähte durch jede Tür. Jetzt war kein Geräusch mehr zu hören, das ganze Haus war still.
Dreenkrögen saß im Wohnzimmer und schaute ihn erwartungsvoll an. Nichts Auffälliges, Einar konnte nicht anders, ihn wieder eingehend zu mustern.
Die Augen, die wachsam und kalt in die Welt blickten. Die Nase vielleicht ein wenig zu kräftig um schön zu sein, der Mund dazu, zusammengekniffen und gerade wie eine Linie. Und die Haut in seinem Gesicht weich und glattrasiert.
„Haake, ich möchte dich bitten, deine Sachen zu packen, damit ich dich nach Hause fahren kann.“
Der Strich wurde zu einem Bogen – Dreenkrögen lächelte. „Warum, Einar? Was ist geschehen?“
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn weiter aufmerksam an. „Können wir uns auf eine Nacht einigen?“
Einar antwortete nicht, er versuchte immer noch herauszufinden, ob er den richtigen Dreenkrögen vor sich hatte.
„Lässt du mir eine Gnadenfrist bis morgen früh?“
„Morgen früh, okay“, sagte Einar, drehte sich um und ging zurück in sein Zimmer.
Der Rest des Tages legte sich bleischwer über die kleine Hütte im Wald. Einar verbrachte die Zeit mit Warten. Darauf, dass die Zeit selbst verging und dass es früh morgens wurde.
Obwohl damit seine Probleme keineswegs gelöst sein würden, im Gegenteil. Wenn er daran dachte, was draußen in der Welt los sein musste, fühlte er sich hilflos. Und einsam.
Als er nach Stunden des Aus-dem-Fenster-Starrens auf die Toilette schlich, traf er auf Dreenkrögen.
„Jetzt, wo ich abreisen werde“, sagte der, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen, „kannst du mir noch einige Fragen über meine Vergangenheit beantworten?“
Der Ausdruck in seinen Augen schien Wärme zu sein, wenigstens hob er die Brauen, als bitte er um Nachsicht.
Einar war überrascht. Er sah keinen Grund, die Bitte abzuschlagen und als Dreenkrögen sprach, forschte er in dessen Augen.
„Wie hieß meine erste Freundin?“, fragte er und lächelte unschuldig.
„Elin“, sagte Einar. „Elin Jaspers. Du hast sie sitzen lassen.“
„So.“
„Genau wie Klara Lindström. Auch Rieke Torffen und Linga Fraunssing.“
„Aha.“
„Du bist nicht gerade fein umgegangen mit den Damen. Aber sie flogen auf dich.“
Dreenkrögen sagte kein weiteres Wort. Bevor er sich umdrehte, starrten sie sich einige quälende Momente in die Augen. Dann ging er zurück in sein Zimmer und Einar blieb allein stehen.
Je aktueller die Zeitungen wurden, desto mehr beschäftigten sie sich mit den Anschlägen auf die Trinkwassernetze. Die jüngste Ausgabe – von gestern – war voll mit Artikeln, Analysen und Interviews zu dem Thema.
Einar las quer und stieß dabei auf ein Gespräch mit Staatssekretär Haake Dreenkrögen, der über die Lage referierte und über die Möglichkeit, dass hier ebensolche Anschläge passieren könnten.
Der Staatssekretär im Gesundheitsministerium sagte, er verbürge sich dafür, dass die hiesigen Trinkwassernetze sicher seinen. Auch und gerade das größte und wichtigste – das der Hauptstadt – sei sicher. Absolut, dafür stehe er mit seinem Namen.
Es gab also drei Dreenkrögens auf der Welt, mindestens. Einer davon saß in einer bedeutenden Stellung, vielleicht der bedeutendsten in diesen Zeiten.
Und die beiden anderen besuchten ehemalige Klassenkameraden.
Einar versuchte der Lösung des Rätsels auf den Grund zu kommen. Er lag auf dem Bett, lief in seinem Zimmer auf und ab, starrte aus dem Fenster.
Dreenkrögen war nicht Dreenkrögen. Er kam auf keine Möglichkeit, es sei denn, er schloss die allzu phantastischen mit ein.
Klone? Er konnte es nicht glauben, obwohl er sich alle Denkbarrieren versagte.
Masken? War es jemandem gelungen, täuschend echt aussehende Masken zu entwickeln? Vielleicht aus Biomaterial.
Er sollte sich auskennen mit solch abwegigen Überlegungen. Wenn er schrieb, musste er auch alle Hemmungen fallenlassen und spielte mit allen Möglichkeiten.
Gesetzt den Fall, die Version der Masken traf zu: Wer sollte so einen Aufwand betreiben? Wozu? Wer war in der Lage dazu?
Kurz bevor die Dämmerung einsetzte, machte er zwei furchtbare Entdeckungen.
Als er sich müde von der Liege erhob und ans Fenster trat, stellte er fest, dass das Meer der olivgrünen Pilze bis an seinen Garten herangekommen war. Wie ein lauerndes Tier lag es da und schien zu atmen.
Einar wollte aus dem Zimmer laufen, doch er sah einen Wagen den Weg heraufkommen. Ein Auto!
Es war Gunnars Wagen. Er stellte das Fahrzeug ab und stieg aus. Sein Freund Gunnar war gekommen, er war hergekommen, um ihn abzuholen. Er sah gehetzt aus, wie ein Kaninchen auf der Flucht.
Als er sich abwenden und Gunnar entgegeneilen wollte, sah er Dreenkrögen das Haus verlassen.
Er ging langsam auf Gunnar zu, Schritt für Schritt. Die Beiden unterhielten sich kurz, Gunnar schüttelte den Kopf.
Dann versuchte er, sich an Dreenkrögen vorbeizudrängen, der tat einen Schritt nach rechts und holte einen Spaten hervor, den er an der Seite verborgen gehalten hatte. Er holte kräftig aus und schlug gegen Gunnars Gesicht.
Der Kopf prallte nach hinten, Einar meinte das Knacken durch das Fenster zu hören. Gunnar sackte zusammen, Dreenkrögen wandte sich um und blickte zu Einar herüber.
Er wich zurück und konnte eben noch sehen, wie Dreenkrögen sich umdrehte und hinüberging zum Auto.
Kurz sackte Einar auf der Liege zusammen und starrte vor sich hin. Dann begann er zu weinen, sein Leib wurde von einem Zitteranfall geschüttelt. Unkontrolliert flogen seine Glieder, er ließ es geschehen.
Er kam wieder zu sich und stand auf. Er musste sehen, wie es Gunnar ging, vielleicht war er nicht tot. Er musste sich zusammenreißen.
Er schlich durch seine eigene Hütte. Mit angehaltenem Atem und bemüht, sich nicht wieder von Panik übermannen zu lassen, huschte er über den Flur.
Dreenkrögens Zimmer stand offen. Vorsichtig und Zentimeter für Zentimeter arbeitete er sich vor, um in den Raum blicken zu können. Er war leer.
Als er sich weiter vortastete, kam ihm in den Sinn, dass man jemandem, der Duplikate von anderen Menschen anfertigen konnte, auf diese Art sicher nicht entgehen konnte. Aber es schien dazuzugehören.
Die Haustür stand offen. Er konnte Gunnar sehen, der auf dem Weg lag, ein Bein abgewinkelt und eine Blutlache unter sich, die immer größer wurde. Dreenkrögen kehrte eben von Gunnars Auto zurück und ging zur Garage hinüber. Er beachtete die Beiden nicht.
Einar hastete geduckt hinüber zu Gunnar. Der bewegte sich nicht, hatte aber die Augen geöffnet. Ohne den Kopf zu drehen, sah er zu ihm auf.
„Scheiße, Einar. Was ist das für ein Mist?“, krächzte Gunnar.
„Was ist hier los, Mann?“
Einar sank vor Gunnar auf die Knie und fing wieder an zu schluchzen.
„Weiß nicht.“ Gunnar musste husten und würgte blasiges Blut hervor.
Einar sah hinüber zur Garage, in der Dreenkrögen verschwunden war.
„Dreenkrögen kam zu mir, hat mich alles Mögliche gefragt und benahm sich seltsam.“ Er hustete wieder. „Dann fing der Scheiß mit dem Trinkwasser an.“
Er regte sich; sein Bein zuckte wie wild. Ein Stöhnen, dann: „Einar!“ Das Blut lief ihm das Gesicht hinunter. „Die Menschen …Wir sind im Arsch!“
„Warum, Gunnar? Warum das alles?“
„Sie wollen die Erde übernehmen.“
„Wer?“
Gunnar stöhnte wieder. Er schloss die Augen, schluckte schwer und als Einar befürchtete, dass er tot war, schlug er die Augen wieder auf und sah ihn an.
„Ich weiß nicht. Sie sind uns so fremd. So fremd.“
Ein Geräusch von dem Pilzmeer, beide sahen hinüber, Gunnar ohne sich Kopf zu bewegen.
„Aber warum das Ausfragen? Warum wollte er das alles wissen?“
„Die Sicherung.“ Gunnars Stimme wurde schwächer. „Wir sind das einzige Land, in der sie die Trinkwasserversorgung noch nicht geknackt haben.“ Er schluckte noch einmal. „Passwort, es muss mit Dreenkrögens Erinnerungen zusammenhängen.“
Einar stand auf. „Ich muss ihn aufhalten.“
„Du kannst ihn nicht aufhalten“, murmelte Gunnar mit geschlossenen Augen.
In diesem Moment kam Dreenkrögen aus der Garage. Er sah kurz herüber, doch es interessierte ihn nicht, was er sah. Denn er wandte sich dem Meer aus Pilzen zu.
Langsam, beinahe bedächtig, ging er darauf zu und als er die olivgrüne Fläche erreicht hatte, zerteilte sie sich, wich vor ihm zurück und gab den Weg frei.
Ohne auf seine Umwelt zu achten, zog er sich aus. Nackt ließ er sich dann inmitten der Pilze nieder und legte sich flach auf den Boden.
Das grüne Meer um ihn herum vibrierte, es zog sich zusammen und schloss den Kreis wieder.
Er lag ruhig auf dem Rücken, man sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Doch er atmete nicht, er vibrierte in derselben Weise, wie die kleinen Wesen um ihn herum. Er pulsierte, die Haut zuckte.
Dann brach sie plötzlich auf. Sie öffnete sich wie ein Vulkan und spie in Dutzenden von Schwaden eine Art schwarzen Dampf aus, einen unablässigen Strom kleinster Partikel. In dunklen Wolken strömten sie aus dem leblosen Körper heraus.
Der Leib sank in sich zusammen. Er schlug Falten, fiel langsam ein, bis schließlich nur noch die Hülle, die Haut übrigblieb. Sie lag wie ein loses Bündel inmitten der Pilzfläche.
Über dem Platz schwebte die schwarze Wolke wie ein Schwarm giftiger Fliegen.
Einen Moment verharrte das Gebilde über ihnen, dann machte es sich mit einem wütenden Summen in die Luft davon.
Zurück blieb Stille.
Und Einar, der neben Gunnar stand. Er blickte der Wolke noch hinterher, als sie schon längst verschwunden war.
Er beugte sich hinab. Gunnar hatte zwar die Augen geöffnet, schien ihn aber nicht zu sehen.
Leise weinend kniete Einar sich wieder hin und begann Gunnars Gesicht zu streicheln. Er flüsterte leise, unterbrochen nur von seinem Schluchzen.
Er würde warten, bis Gunnar gestorben war.
Dann konnte er sehen, ob die Menschheit zu retten war.