Spätes Glück
I
Ob sie manchmal nachts, wenn auch sie nicht einschlafen kann, über mich nachdenkt und sich dann vorzustellen versucht, weshalb wir uns seinetwillen getrennt haben? Ob sie vielleicht dahinter kommt?
Es ist lange her, daß ich S. das letzte Mal sah. Wir haben uns gut verstanden damals, sie und ich. Zumindest dachten wir das. Alle dachten das, wenn wir uns Arm in Arm in der Öffentlichkeit zeigten, und kopfschüttelnd strafende Blicke wirkungslos an uns abprallten.
Bevor ich S. kennenlernte war ich eine wie alle anderen, eine von vielen, unauffällig, schrecklich normal. Ich ging damals auf eine dieser Schulen, auf die alle gehen, die man vermißt, wenn es vorbei ist, was man später für kindisch hält. Das Leben breitete sich vor mir aus, nichtssagend und voller Möglichkeiten, von denen ich keine so recht wahrnehmen wollte und mich daher für einen Aufschub entschied.
Aus Protest wählte ich ein Studienfach, das weder meinen Neigungen noch den biederen Erwartungen meiner Eltern entsprach. Wir hatten beide Unrecht.
Die Eingewöhnungsphase, die allgemeinhin als üblich gilt, kostete ich in vollen Zügen aus. Eigenes Auto, eigene Wohnung, neue Freunde und welche, die es werden wollen, und Papa bezahlt. Das ging so lange gut, so lange ich zum Wäsche waschen nach Hause kam.
Meistens fuhr ich schon samstags und blieb über Nacht, später dann gerade noch pünktlich zum gemeinsamen Mittagsessen. Dann gingen mir die vielen Fragen auf die Nerven.
S. fuhr nie nach Hause oder nur selten. Ihre wenigen Klamotten wusch sie auf der Hand. Manches brachte sie in die Reinigung. In den Semesterferien ging sie jobben, weil es niemand gab, der immer noch bereitwillig die Rechnungen bezahlte. Eigentlich hatte es nie jemanden gegeben.
Sie hat nie viel darüber erzählt. Das war auch nicht wichtig. Alles, was wir voneinander wissen mußten, lasen wir uns von den Augen ab.
II
Sie hat sich ziemlich verändert seit damals. Wir beide haben das. Auch der Blick ist nicht mehr derselbe. Müde und abgespannt ist er geworden, mit deutlichen Ringen unter den Augen. Mit drei Kindern ist das wohl nicht anders zu erwarten.
P. ist anders als ich erwartet hatte, nicht unsympathisch, nur eben anders. Wenn sie etwas tut, das ihm nicht paßt, dann kann er ziemlich ruppig werden. Ich glaube fast, er ist stolz darauf, daß sie sich das gefallen läßt. Vermutlich hat es Jahre gekostet.
Es war ihr nicht recht, als ich sie einlud, damit sie auch K. kennenlernt. Ich wußte das, ich spürte es, und ich tat es trotzdem. P. sagte sofort zu. Sie sind erst vor kurzem hergezogen und haben noch nicht viele Kontakte.
K. ist kein Blender. Witze erzählen kann er nicht. Aber wenn er von seinem Beruf erzählt, taut er auf. Er weiß Bescheid darüber, was im Theater läuft. Mit den wichtigsten Galeristen ist er befreundet. Die Bilder in unserem Haus zeugen davon. Er kennt die besten Jahrgänge der Weine und weiß, wo man sie am günstigsten einkauft. Seine Anzüge sind weder modisch noch bieder. Wenn er in die Praxis geht, trägt er eine Krawatte. Zu Hause zieht er sie aus. Ich glaube, S. kann ihn nicht leiden.
III
Erst ein halbes Jahr später treffe ich sie wieder, wieder zufällig, aber diesmal ohne P. und ohne die Kinder. Wir gehen wieder spazieren, so wie damals, durch den Park, und zurück, Hand in Hand. Sie hat das Studium wieder aufgenommen. Sie ist ganz sicher, daß sich alles ändert, sobald sie eine Stelle findet, die ihr zusagt. Zufällig stimme ich ihr zu, zufällig hat sie gute Laune und lacht, zufällig schlafen wir wieder miteinander.
In den Semesterferien lieben wir uns auch tagsüber, wenn es niemand sieht sogar im Park, hinter ein paar Büschen, rittlings am See. Es ist beinahe so wie früher. Doch meistens ist sie zu müde dazu. Sie kommt abends nach Hause, spricht kaum, küßt nicht, lächelt nicht, schlüpft aus den Schuhen, sieht nur kurz nach den Kindern, die ich zu Bett bringe, ißt eine Kleinigkeit von dem, was ich vorbereitet habe und verschwindet im Arbeitszimmer.
Wenn ich Bekannte von früher treffe oder Freunde von K., dann wird dies meist peinlich. Ich weiß dann nicht, wie ich ihnen beibringen soll, daß ich kein kleines Mädchen mehr bin sondern eine Person, die weiß, was sie will, die man zu respektieren hat.
Ich wollte mit S. darüber sprechen, aber die hat im Moment Wichtigeres im Kopf. Sie sieht bleich aus und hat wieder Augenringe bekommen. Sie arbeitet einfach zuviel. Das reibt sie völlig auf. Auch sie führt ihre Schweigsamkeit, die ich ihr vorwerfe, auf die Arbeitsüberlastung zurück. Wer dauernd unter Stress steht, ist nicht in der Lage, auf jede Stimmung des Partners einzugehen. Sobald sie das Studium beendet hat, wird alles besser werden.
IV
Manchmal nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, denke ich über uns nach und versuche mir vorzustellen, weshalb wir uns ihretwegen getrennt haben. Aber ich komme einfach nicht dahinter.
Dann ist es endlich geschafft, und wir lassen eine riesen Party steigen. Auch meine Eltern sind da. Meine Mutter hilft sogar bei den Vorbereitungen. Wir feiern das ganze Wochenende. Sekt und Bier fließen in Strömen. Einer kotzt in die Badewanne. Am zweiten Abend kreuzt die Polizei auf, da man nicht zwei Mal hintereinander auf den Langmut der Nachbarn zählen darf. Trotzdem war es ein tolles Fest. S. ist stolz und überglücklich, und ich freue mich für sie.
Als ich K. das erste Mal wiedertreffe, weiß ich erst nicht, was ich sagen soll. Die Blagen an meiner Seite benehmen sich, als wären es meine. K. sieht darüber hinweg. Ich glaube, er liebt mich noch immer.
V
Seit unserem Urlaub in G., das ist jetzt auch schon wieder ein halbes Jahr her, habe ich wieder öfters an sie gedacht. Eigentlich mehr an die Kinder. Ob sie mich wohl vermissen? Ganz sicher tun sie das.
Ich freue mich für S., daß sie endlich eine Stelle gefunden hat, die ihr zusagt. Wer eine Aufgabe hat, die ihn befriedigt, ist eher in der Lage, auf die Wünsche und Launen des Partners einzugehen.
Ich vermisse die Kinder sehr. Ich glaube, ich möchte auch welche. K. hat nichts dagegen. Er weiß, daß ich nicht deshalb zu ihm zurückgekehrt bin.
VI
Manchmal nachts, wenn wir beide mal nicht einschlafen können, denken wir nicht mehr darüber nach, weshalb wir jetzt glücklich sind. Wir versuchen uns auch nicht länger vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn alles ganz anders gekommen wäre. Im Nebenzimmer ist alles ruhig. Zufrieden schlafen wir dann endlich ein.