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Späte Rache
Eines Morgens wachte ich auf und war tot. Einfach so. Im Schlaf einen Herzstillstand gehabt. Völlig unspektakulär also. Ich erhob mich aus meinem nunmehr überflüssig gewordenen Körper und wunderte mich darüber, das ich mich nicht wunderte. Irgendwie war tot sein gar nicht so schlimm, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich fühlte mich eigentlich sogar ziemlich gut. Nur, was ich jetzt tun sollte, war mir ein Rätsel. Ich hatte zu Lebzeiten einige Berichte von Menschen gelesen, die bereits klinisch tot gewesen waren und alle hatten übereinstimmend berichtet, das sie durch einen langen Tunnel auf ein Licht zugeschwebt waren. Doch hier war weder ein Tunnel, noch ein Licht zu sehen. Das einzige das stimmte, war die Sache mit dem Schweben.
Da ich nicht wußte, wohin ich gehen und was ich tun sollte, beschloß ich, erst einmal die Lage zu sondieren. Ich vermutete, das ich unsichtbar war, und überlegte mir, raus auf die Straße zu gehen, um das zu testen. Nur, wie sollte ich aus meiner Wohnung kommen? Ich versuchte, die Klinke herunterzudrücken, dabei stellte ich fest, das ich nicht in der Lage war, materielle Gegenstände zu bewegen, jedenfalls nicht so, wie als lebender Mensch. Dafür besaß ich seit neuestem offensichtlich die Fähigkeit, durch Wände und Türen zu schweben. Überhaupt stellte Materie für mich kein Hindernis mehr da. Ein tolles Gefühl, das mußte ich zugeben.
Also schwebte ich durch den Hausflur hinunter zur Straße. Unten stand meine Nachbarin und leerte gerade ihren Briefkasten. „Hallo Helga, “ grüßte ich sie freundlich und sah ihr geradewegs in die Augen. Keine Reaktion. Ihr lick ging einfach durch mich hindurch. Also stimmte es, ich war tatsächlich unsichtbar. Ich wußte noch nicht so genau, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Auf jeden Fall interessant.
Ich fragte mich allerdings nach wie vor, warum ich noch hier war und nicht im „Jenseits“, wo immer das auch sein mochte. Oder gab es gar kein Jenseits und man blieb einfach hier, nachdem man seine irdische Hülle verlassen hatte? Vielleicht mußte ich noch etwas erledigen, bevor ich in die nächste Welt durfte, überlegte ich. Aber was? So sehr ich mir auch den Kopf zerbrach, mir fiel dazu nichts ein. Ich hatte mit niemandem Streit und war mit mir und meiner Umwelt ziemlich im Reinen. Der einzige Mensch, dem gegenüber ich negative Gefühle hatte, war mein Chef. Zu Lebzeiten (mein Gott, wie sich das anhörte) hatte ich bei einer großen Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Der Job an sich war nicht schlecht und die meisten Kollegen sehr nett. Der einzige Wermutstropfen war mein Chef, Herr Bülles. Er leitete die Abteilung nach dem Prinzip „Herrsche und teile“, zu deutsch: stifte möglichst viel Unfrieden unter den Kollegen, dann sind sie sich so uneins, das keine Gefahr besteht, das sie sich gegen dich verbünden Er hatte von dem, was meine Kollegen und ich taten, nicht den Hauch eines Schimmers. Trotzdem maßte er sich an, die Qualität unserer Arbeit zu bewerten und uns herunterzuputzen, wenn ihm danach war. Anfangs fand ich ihn einfach nur blöd, aber harmlos. Allerdings änderte sich das schlagartig, nachdem ich nach einer zweiwöchigen Krankschreibung wegen Grippe zu ihm ins Büro zitiert wurde. Herr Bülles warf mir vor, ich würde mit meinen häufigen Fehlzeiten (es ging in diesem Fall um 13 Tage in einem Jahr!) seiner Abteilung schaden. Überhaupt wäre meine Leistung dermaßen schlecht, das er mir gerne einen Aufhebungsvertrag anbieten würde, ohne Abfindung natürlich. Ich war sehr versucht, ihm einen Vogel zu zeigen, hielt mich aber gerade noch zurück. Meine Leistungen waren absolut in Ordnung, das wußte ich mit Sicherheit. Und die bombastische Zahl von 13 Fehltagen in einem Jahr war auch kein Beinbruch. Ihm paßte es einfach nicht, das ich nicht immer seiner Meinung war und das auch offen sagte. Er wollte eine Abteilung, die nur aus Arschkriechern bestand, die er nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte. Und ich war zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen, mich dem anzupassen. Deshalb versuchte er, mich loszuwerden. Da hatte er allerdings keine Chance, weil ich einen unbefristeten Vertrag hatte und mir nichts zuschulden kommen ließ.
Wie auch immer, Hans-Werner Bülles war der einzige Mensch, mit dem ich eine Rechnung offen hatte. Also beschloß ich, meinem ehemaligen Arbeitsplatz einen Besuch abzustatten.
Es war ein äußerst merkwürdiges Gefühl, meinen Kollegen zu begegnen, ohne daß sie mich wahrnahmen. Ich ging zu dem einen oder anderen ins Büro, lauschte ihren Gesprächen. Die Nachricht von meinem plötzlichen Tod hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer und war Gesprächsthema Nummer eins. Die meisten waren wirklich traurig darüber. Nur einige wenige Kollegen, mit denen ich mich schon zu Lebzeiten nicht abgegeben hatte, weil sie sich im Hintern meines Chefs allzu wohl fühlten, zogen über mich her. Das war mir allerdings reichlich egal. Über solche Menschen regte ich mich schon lange nicht mehr auf, ich ignorierte sie einfach.
Langsam schwebte ich durch die Gänge zum Büro meines Chefs. Ich ging im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Kopf durch die Wand und schaute mich in seinem Zimmer um. Hans-Werner Bülles saß an seinem Schreibtisch und starrte wie hypnotisiert auf seinen Rechner. Ich betrat das Zimmer ganz und schwebte hinter ihn, um zu sehen, was es da so interessantes zu sehen gab. Auf dem Bildschirm sah ich eine sehr junge nackte Frau, die sich gerade zwischen den Beinen eines ebenfalls nackten Mannes zu schaffen machte. „Soso“, dachte ich, „uns peitschst du über den Tag und selbst schaust du dir hier Pornos an. Na warte!“ Während ich noch überlegte, wie ich ihm eins auswischen könnte, formte sich ein Gedanke in meinem Kopf und drängte sich massiv in den Vordergrund. „Du kannst alles machen, was du willst. Du bist nicht mehr an die physikalischen Gesetze irdischen Lebens gebunden.“ Keine Ahnung, woher diese Gewißheit kam, aber das war auch eigentlich egal. Auf jeden Fall mußte ich das sofort ausprobieren. Ich hatte da so eine Idee. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, das es genau 12.45 war. Optimal! Zu dieser Zeit war die Kantine im Haus voll besetzt. Ich konzentrierte mich und schwupps stand ich inmitten des großen Raumes mit dem Glaskuppeldach, in dem meine Kollegen sich ihr wohlverdientes Mittagessen schmecken ließen. Wieder konzentrierte ich mich und unvermittelt verstummte das Stimmengewirr um mich herum. Alle Köpfe drehten sich in Richtung Essensausgabe, wo Hans-Werner Bülles splitterfasernackt und mit hochrotem Kopf stand. Er schien überhaupt nicht zu begreifen, wie ihm geschah. Alle starrten ihn an. Ich schaute mich um und sah, wie sich auf den ersten Gesichtern ein Grinsen ausbreitete. Dann begann irgendjemand zu lachen, erst ganz leise und verschämt, dann immer lauter. Einer nach dem anderen fielen die Kollegen ein und schließlich war der ganze Raum erfüllt von schallendem Gelächter. Auch ich lachte, bis ich vor lauter Lachtränen nichts mehr sehen konnte. Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, öffnete ich die Augen wieder und zu meinem Erstaunen befand ich mich nicht mehr in unserer Kantine, sondern mitten auf einer grünen Wiese, die mit blühenden Blumen übersät war. Da wußte ich, das ich mein altes Leben endgültig hinter mir gelassen hatte.