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Späte Liebe
Monika mochte Kinder nicht besonders. Trotzdem arbeitete sie in einem Kinderheim. Auch die Kinder mochten Monika nicht besonders, weil sie oft böse schaute und mit drohender Stimme sprach: „Wenn ihr nicht bald Ruhe gebt, passiert was!“
Einmal, als ein etwas verwachsenes Mädchen beim Abholen von ihren Eltern liebevoll in den Arm genommen wurde, meinte Monika zu einer Kollegin: „Wie kann man so ein hässliches Kind nur lieben?“
Das Schicksal sollte es ihr zeigen.
Monika konnte keine Kinder bekommen, sie hatte es akzeptiert. Auf irgendwelche Experimente wollte sie sich nicht einlassen, schließlich arbeitete sie ja jeden Tag mit Kindern. Damals war Monika noch verheiratet gewesen. Über die Jahre hatte sich die Ehe totgelaufen, sie hatten sich scheiden lassen, schliefen aber trotzdem noch ab und zu miteinander. Aus Gewohnheit.
Bei einer Routineuntersuchung entdeckte der Frauenarzt Monikas Schwangerschaft. Ein Wunder war geschehen. Sie konnte es kaum glauben. Alle Vorsorgeuntersuchungen waren problemlos, und Monika sah der Geburt des Kindes hoffnungsfroh entgegen. „Wie das Kind wohl aussehen wird?“ Monika wünschte sich von Herzen einen Jungen, und er sollte blonde Haare haben.
Auch die Geburt verlief normal. Gleich würde sie ihren hübschen Jungen in den Armen halten. ´Warum sagt die Hebamme nichts und warum wimmert ihr Kind nur so leise?´ Die Hebamme und der Arzt waren seltsam einsilbig. „Wie soll das Mädchen heißen?“ fragten sie endlich. „Ein Mädchen?“ Monika überlegte eine Weile und sagte dann: „Saskia“. „Herzlichen Glückwunsch zur Geburt von Saskia, aber wir müssen einen Kinderarzt holen. Sie erscheint uns etwas klein.“ Monika wiederholte für sich: `Zu klein ist mein Kind. Nun ja, ich bin auch kein Riese, und ihr Vater auch nicht. Ist ein kleines Kind schlimm?` Der Kinderarzt untersuchte das neugeborene Kind, rief nach einem Krankenwagen mit einem Inkubator, und schon war ihr Kind verschwunden. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihr Kind zu betrachten. `Was hatte das alles zu bedeuten?` Monika war traurig, hatte sie sich doch so auf den Augenblick gefreut, wenn sie ihr Kind in den Armen halten konnte. Sie wollte es wiegen und streicheln, und ihm leise zärtliche Worte ins Ohr flüstern. Tausend Mal hatte sie sich das in Gedanken ausgemalt, und nun war alles anders. Überhaupt, ist es möglich, das man ihr so mir nichts dir nichts ihr Kind wegnimmt? Monikas Traurigkeit war nun verschwunden und einer Wut gewichen. Sie schimpfte auf die Hebamme ein: „Kann man hier nicht sein eigenes Kind sehen? War es wirklich so dringend, dass nicht einmal Zeit war, mein eigenes Kind kennen zu lernen? Die Hebamme antwortete sanft: „Ich verstehe ihre Enttäuschung. Aber ich denke es war besser so. Im Falle ihres Kindes zählte jede Minute. Wir wissen gar nicht, ob Ihr Kind überlebt.“ Diese Worte trafen Monika wie einen Hammerschlag.
An den Verlauf der nächsten Tage konnte sich Monika nicht mehr genau erinnern. Ihr waren Medikamente gegeben worden, damit sie den Schock vorerst besser verkraftete. Die Gesichter die mit ihr sprachen, waren verschwommen und klappten ihre Münder seltsam auf und zu. „Ihr Kind ist schwerstbehindert, es kann nicht sehen, kaum hören und wird nicht wachsen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es seinen ersten Geburtstag nicht erlebt.“
Monika war wie betäubt. Die Großeltern standen weinend am Bett, und versuchten sie zu trösten. „Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm wie es die Ärzte jetzt machen. Vielleicht ist es alles gar nicht wahr?“
Monika hatte bald keine Tränen mehr. Was sollte sie hoffen? Will sie die Mutter eines behinderten Kindes sein? Muss sie mit ansehen, dass ihr Kind, ihr ersehntes Baby, leiden und sterben muss?
Schließlich kam der Tag, an dem sie ihr Kind besuchen durfte. Zögernd betrat sie die Kinderstation. Aus manchen Zimmern drang Babygeschrei, aber aus einigen auch die Töne der Aufzeichnungsgeräte für die Herztöne. Eine freundliche Schwester brachte sie zu ihrem Kind: „Sie müssen jetzt stark sein!“ sagte sie leise und eindringlich.
Monika trat an den Glaskasten heran, und sprang gleichzeitig zurück. „Das sollte ihr Kind sein? Niemals! Das war eine Verwechslung!“
Aber über dem Bett stand auf einem Schild der Name. Saskia. Monika trat noch einmal näher.
Das Kind hatte farblose Haare, ein kleines Gesicht, und nur einen winzigen Hinterkopf. Ihre Hände waren dünn und die Augen lagen tief und geschlossen in den Augenhöhlen.
Der Kinderarzt bat Monika in einen Nebenraum. Mit klopfenden Herzen folgte sie ihm und setzte sich auf den Rand des Stuhls. „Ich möchte nicht wissen, welche Behinderung mein Kind hat. Was ich gesehen habe reicht mir. Bitte entfernen sie alle Schläuche. Ich will, dass mein Kind stirbt, damit es nicht leiden muss.“ Schluchzend nahm Monika die Hände vor das Gesicht und hoffte, dass sie sofort aus diesem bösen Traum erwachte.
Der Arzt schaute die heulende Monika betroffen an. Er war ein junger Arzt und hatte noch nie erlebt, dass eine Mutter den Tod ihres Kindes wünschte. Zum Glück kam der Oberarzt eben in das Zimmer, interpretierte allerdings das Weinen Monikas falsch. Er sprach tröstend auf sie ein: „Ihr Kind wird überleben. Es hat ein starkes Herz, die schlimmste Gefahr ist vorbei. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer für sie ist, aber wir werden ihrem Kind helfen!“
Monika erstarrte. Wusste dieser Arzt was er da sagte? War es nicht ihr Kind, und konnte sie nicht bestimmen, was mit ihm geschieht? Wieso mischten sich diese fremden Leute in ihre Privatangelegenheiten? Sie wollte ihr Kind nicht leiden lassen. Monika war sich nie so sicher gewesen.
Langsam stand sie von ihrem Stuhl auf, strich ihre Hose glatt, und verließ ohne ein Wort zu sagen den Raum.
Die beiden Ärzte schauten sich betreten an.
Monika hatte sich entschlossen. Wenn es die Ärzte nicht tun würden, würde sie es selbst tun.
Ihr Kind lag still in dem Kasten, die Anzeigegeräte am Kopfende des Bettes zeichneten den Herzschlag ihres Kindes auf, eine Flüssigkeit tropfte in einen Schlauch, der in die Nase des Babys führte.
Dann ging alles sehr schnell. Sie riss die Stecker aus der Steckdose, klappte den Glaskasten auf und zog an den winzigen Schläuchen die ihr Kind mit den Apparaturen verbanden. Als der Alarm losging, hatte sie schon ihr Kind in den Armen, und rannte mit ihm zur Tür der Kinderstation. Schwestern und Ärzte versuchten sich ihr in den Weg zu stellen, aber sie konnte sich losreißen, und rannte auf die Eingangstür der Klinik zu. Saskia wimmerte leise und bewegte suchend die Arme.
Nun war sie endlich draußen und erst einmal im Menschengewimmel untergetaucht. Fest presste sie ihr Kind an sich. Dann verließ sie die belebte Straße und kam in einen kleinen Park. Erleichtert setzte sie sich auf eine Bank und streichelte ihrem Kind liebevoll über das winzige Gesicht. Jetzt würde sie nachholen, was sie sich gewünscht hatte. Monika fühlte den warmen Körper ihres Kindes, er war in eine Wolldecke eingehüllt. Sie schlug die Decke zurück, und betrachtete den kleinen Körper. Mit ihren Händen fühlte sie ruhig und fest die Konturen des Kindes nach. Saskia schien es zu gefallen. Der Brustkorb hob und senkte sich, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Saskia schnaufte leise und hielt Monikas Finger fest umschlossen. Tiefe Liebe und Zärtlichkeit durchströmte Monika. Sie war jetzt ganz ruhig. Niemand würde ihr diese letzten Minuten mit ihrem Kind nehmen können.
Ein Vogel sang im Baum sein Lied.