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Sozialer Abstieg

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19.06.2001
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Sozialer Abstieg

SOZIALER ABSTIEG


Timothy Fathergill, sechsundfünfzig Jahre alt, gut aussehend und gebildet, hatte im Stehen gepinkelt. Eigentlich hätte er sich hinsetzen müssen, so wie es Anstand, Sitte und Gesetz verlangten, aber an diesem Tag tat er es nicht. Er hatte im Bad gestanden, in den Spiegel geschaut und leise zu sich selbst gesagt: "Heute! Heute ist es soweit!" Also stand er breitbeinig vor der Toilette, hob den Deckel hoch und pinkelte fröhlich pfeifend in ausgiebigen Bögen gegen die weiße Keramik. Ein gutes Gefühl, wie er fand. Er erinnerte sich, wie er in seiner Kindheit zusammen mit Spielkameraden Schimpfwörter in den Schnee uriniert hatte. Man erwischte sie, verdonnerte jeden einzelnen zu dreizehn Stunden Resozialisierungsfernsehen, und den Eltern wurde eine saftige Geldstrafe aufgebrummt. Fathergill zuckte spöttisch mit den Mundwinkeln. Beim ausgiebigen Händewaschen beschlichen ihn kleine Schuldgefühle, die er jedoch schnell verdrängte. Heute konnte ihm keiner was anhaben, heute war Fathergills großer Tag. Die Funkuhr auf der kleinen Ablage links neben dem Spiegel verriet, dass er noch genügend Zeit hatte, bevor er in die Firma mußte.

"Guten Morgen, Timothy." sagte Shaker.
"Morgen...", nuschelte Timothy gelangweilt. Shaker war das Standardhologramm, millionenfach in den Haushalten installiert, mit den Servern des Konzerns verbunden, und auf jeden einzelnen Konzernkunden persönlich abgestimmt. Shaker hatte heute einen Seitenscheitel, der links ausgerichtet war. "Frisur geändert?", fragte Timothy eher beiläufig und öffnete die Kühlschranktür. Zur Auswahl standen belegte Brötchen oder Rührei mit Speck. "Hm..." Kurz überlegte er und entschied sich dann für die Brötchen. Er nahm die kleine Kunststoffschachtel und schloss den Kühlschrank.
"Möchten Sie zuerst die Sportnachrichten hören?", fragte Shaker höflich.
"Mir egal..." Timothy öffnete die Mikrowelle, legte die Schachtel hinein, drückte die Vorderfront wieder zu, bis sie einklinkte, und wählte dann den Schalter 'Frühstück'.
"Möchten Sie zuerst die Sportnachrichten hören?", wiederholte Shaker die Frage. Höflich, wie immer.
"Nur zu... Ja!" Timothy zählte einen Countdown von Vier abwärts, es machte Pling, und zufrieden öffnete er die Mikrowelle. Der Kunststoff hatte sich aufgelöst. Drei mit europäischer Salami belegte Brötchen arrangierten sich zwischen Schnittlauchkrümelchen und Petersilienkränzen auf einem Teller, der einhundertprozentig recyclebar war. "Okay..." Timothy nahm den Teller und setzte sich an die schmale Küchentheke, wo er hungrig in eines der Brötchen biss. "Fußball, einverstanden?"
"Wie Sie wünschen, Timothy", antwortete Shaker. "Südeuropäische Liga? Nordeuropäische Liga? Südamerikanische Liga? Panasiatische Liga? Australi..."
"Stop!", rief Timothy laut. Augenblicklich fror das Hologramm ein. "Shaker ausschalten!" Mit einem leisen Summen verschwand das Hologramm. Nur noch der anderthalb Meter breite und fünf Zentimeter schmale Sockel zeugten davon, dass vor kurzem ein in unregelmäßigen Abständen flackernder Mann namens Shaker die Küche mit Timothy Fathergill teilte. "Jenson Pledge..." Ganz plötzlich hatte sich dieser Name in den Vordergrund gedrängt. Timothy schluckte den Bissen hinunter und legte das Brötchen auf den Teller zurück. "Verdammt!" Jenson Pledge war ein Krüppel gewesen, mit einem linken Bein verflucht, was gut zehn Zentimeter kürzer als das rechte war. Jenson hatte mit ihnen damals in den Schnee gepinkelt. Angewidert schob Timothy den Teller zur Seite. Er erinnerte sich an den Jungen. Pledges Eltern waren dem Burton-Urteil zum Opfer gefallen: Personen, die weit unterhalb des Haushaltindex katalogisiert wurden, hatten ihre Existenzberechtigung verloren. Eine kontroverse Maßnahme des Konzerns, aber durchaus nötig, um der Überbevölkerung Herr zu werden. Und da Pledges Eltern dadurch nicht die nötige Geldsumme aufbringen konnten, wurden Jenson nicht nur dreizehn Stunden Resozialisierungsfernsehen verabreicht... "Mann! Schöne Scheiße!" Timothy stand auf und verließ die Küche. Es war ohnehin Zeit. An der Wohnungstür bestätigte Fathergill die vier Codes des Sicherheitsstandardprogramms des Konzerns und verließ sein kleines Reihenhaus, was sich von den anderen einhundertvierundvierzig Reihenhäusern im Südviertel der südlichen Vorstadt nicht unterschied. Alle hatten weiße Holzverkleidungen, einen kleinen Schornstein, aus dem nie Rauch quoll, und gleich daneben Sonnenenergieanlagen. Dass er am wichtigsten Tag seines Lebens ausgerechnet an Jenson Pledge denken mußte, verärgerte Fathergill dermaßen, dass er seinem Drexler, ein Schienenwagen der zweiten Klasse, einen Tritt gegen die Seitenverkleidung verpaßte. Die entstandene Delle war nach wenigen Sekunden wieder verschwunden. Drexler warb sogar damit, dass gefrustete Menschen beliebig auf den Schienenwagen einschlagen durften. Wenn alle vier Codes richtig bestätigt wurden, öffnete sich automatisch die Fahrertür eines Drexlers. Ausgeklügelte Systeme gaben automatisch Meldungen von Sensor an Sensor weiter. Zerknirscht setzte sich Timothy in den Wagen. "Tür schließen!" Harry King, ein Mann jenseits der einhundert Jahre, lugte über den kunstvoll verzierten Heckenzaun und winkte ihm zu. "Keine Zeit, alter Mann!" Kurz drückte Timothy mit dem Daumen gegen eine kleine Glasscheibe, hinter der winzige Objektive den Daumenabdruck kontrollierten. Leise startete der Wagen. "Büro!", wies Timothy den Computer an.

Zehn Minuten später reihte sich der Drexler ohne Probleme in den von Satelliten gesteuerten Verkehr ein. Fathergill lehnte sich zurück und sah gelangweilt aus dem Fenster. Er befand sich in der mittleren Spur. Ganz links zischten Drexler der Luxusklasse an ihm vorbei. Wenn alles gut ging, würde er auch bald auf der Überholspur fahren. Dort, wo in einem Auto früher das Lenkrad gewesen war, befand sich ein Display. Unten zeigte ein Fließtext alle relevanten Konzerndaten, oben wechselten sich in schneller Reihenfolge Werbebanner ab, die einem alles mögliche versprachen – und auch einhielten. Die Zeiten der Vorgaukelei durch sogenannte Marketingstrategen waren endgültig Vergangenheit. In der Mitte lief die Aufzeichnung eines Basketballspiels zwischen zwei europäischen Topmannschaften. Timothy interessierte sich nicht wirklich dafür, er konnte sich auch nicht erinnern, es angefordert zu haben. Vielleicht war es ja Shaker gewesen, dachte er und zuckte mit den Schultern. In nicht mehr allzu weiter Ferne zeichnete sich die Skyline der Stadt ab. Wie immer ein erhabener Anblick, wenn die acht Türme des Drexler-Konzerns größer und größer wurden, bis sie scheinbar in den Wolken verschwanden. Natürlich, und das war jedem klar, nur eine täuschend echte Illusion, aber was für eine! Plötzlich ertönte das Signal für Posteingang. E-Mails gehörten zum Alltag wie das Atmen zum Leben. Ungewöhnlich, und das erschreckte Fathergill ein wenig, war die Tatsache, dass zum ersten Mal Post in den Speicher des Bordcomputers übermittelt wurde. Auf dem Display erschien ein Briefumschlag, der von einer virtuellen Scheere aufgerissen wurde, Bruchteile von Sekunden später verschwand der Briefumschlag und die Nachricht wurde eingeblendet. Timothy runzelte die Stirn. "Was zum..." Eher zufällig bemerkte er, wie sein Drexler dem vor ihm fahrenden Wagen gefährlich näher kam. Nicht einmal ein Meter, und er würde... "Achtung! Bremsen!" Er schaffte es gerade noch sich am Sitz festzuhalten, bevor er mit dem anderen Wagen zusammenstieß. Fathergill wurde nach vorne geschleudert und schlug mit dem Kopf hart gegen das Display. Das letzte, was er sah, war die Nachricht, die er erhalten hatte. 'Man pinkelt nicht im Stehen, Arschloch! Warte nur ab, was du davon hast!' Und dann krachte der Wagen hinter ihn in den Drexler. Um Timothy Fathergill herum wurde alles dunkel.

Er erwachte in einem verschommenen Etwas. Eine Stimme sagte aufgeregt: "Ja, Menschenskind, Timmy-Boy!" Simon Fistler. "Wieder unter den Lebenden!"
Nach und nach verwandelte sich das verschwommene Etwas in ein übersichtliches Krankenzimmer, zumindest was die Decke betraf. Timothy lag auf dem Rücken, auf eine weiche Matraze gebettet. Dünne, langgezogene Neonröhren leuchteten grell und summten leise. "Simon?" Langsam drehte er seinen Kopf etwas zur Seite, was ein schmerzhaftes Stechen irgendwo im Hals zur Folge hatte.
"Ruhig, Timmy!" Beschwichtigend hob Simon beide Arme und lächelte seinen Freund und Arbeitskollegen freundlich an. Im Grunde genommen gab es so etwas wie Freundschaften nicht mehr. Entweder war man verheiratet und hatte statistisch gesehen exakt eineinhalb Kinder, oder man lebte allein für sich. Aber er und Timothy redeten oft miteinander, und nicht nur über die Arbeit. So hatte Simon für sich selbst Timothy Fathergill als Freund definiert, obwohl er sehr genau wußte, dass dies gegen Anstand, Sitte und Gesetz verstieß. Organisation und Kontrolle. Das waren die Zauberwörter des Drexler-Zeitalters. "Nur nichts überstürzen!" Er fragte sich, wie er es Timothy am besten beibringen konnte...
"Was ist eigentlich passiert?" Fathergill richtete sich stöhnend auf. Dankbar nahm er die Hilfe von Simon an, der ihn stützte. "Ich weiß noch, dass das Satellitensystem irgendwie zusammengebrochen sein muß."
"Das kannst du laut sagen", bestätigte Simon. "Ein ziemliches Chaos hast du da verursacht..."
"Ich?" Entsetzt starrte Timothy den dicklichen Mann an, der neben ihm am Bett stand. "Ich habe nichts getan!"
"Tim!" Simon räusperte sich und zupfte an der Krawatte herum. "Die konnten das alles recht gut nachvollziehen. Die Memopacks wurden bereits ausgewertet..." Memopacks waren das, was früher einmal die Black Box war: Unzerstörbar, und imens wichtig für Rekonstruktionen mittelgroßer bis ziemlich wahnwitziger Katastrophen. Seit dreißig Jahren wurden die Memopacks überall eingebaut, sei es nun in die Bordcomputer von Drexler-Standardautos oder in hyperschallschnelle Drexler-Düsenjets. Memopacks waren einfach herzustellen, klein und billig. An ihrer Entwicklung waren unter anderem auch Simon Fistler und Timothy Fathergill beteiligt, zusammen mit zehntausend anderen, die rund um den Globus verteilt am heimischen PC saßen und neue Techniken austüftelten.
"Ich habe nichts getan, Simon!", wiederholte Timothy zerknirscht. Was war eigentlich genau passiert? Er hatte im Wagen gesessen, und dann... "Da kam eine E-Mail!"
"So?", fragte Simon interessiert. "Was stand drin?"
"Das..." Timothy holte tief Luft und schluckte. "Das ist nicht so einfach, weißt du?" Im Stehen pinkeln war eine Sache, es jemanden anderen auch noch zu sagen... "Was ergaben die Auswertungen der Memopacks?"
"Nun..." Simon winkte ab und ging zum Fenster. Er pochte mit den Fingerknöcheln gegen die Scheibe, die in der Mitte ein Drexler-Logo zierte. "Die Daten zeigen, dass du offensichtlich im Systemkern des Bordcomputers... hm... herumgepfuscht hast... Ach, ich weiß auch nicht, ich meine, wie soll das gehen?" Er drehte sich um und schüttelte den Kopf. "Schöne Scheiße, Timmy-Boy!"
Verblüfft und sprachlos saß Fathergill aufrecht im Bett. Jemand hatte sich am Computer zu schaffen gemacht. Aber warum? Wozu? 'Man pinkelt nicht im Stehen, Arschloch! Warte nur ab, was du davon hast!' Es war unmöglich, das System zu manipulieren. Das System war perfekt. Die Welt von Drexler war perfekt. "Simon!" Er krallte seine Finger in das gelbliche Bettlaken. "Simon!" Ihn überkam panische Angst. "Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, und das weißt du auch!"
Fistler hustete. "Entschuldige..." Er holte ein Taschentuch aus der Hosentasche hervor und wischte sich den Mund ab. "Ich kann nur glauben, was ich sehe, Timothy." Ungelenk wickelte er das Taschentuch um seine Finger herum, lockerte es wieder, und begann das gleiche Spielchen erneut. "Und ich kann nur tun, was man mir von mir verlangt..." Umständlich lehnte er sich gegen die Wand.
Fathergill runzelte die Stirn. "Was soll das? Bist du hier, um mir zu sagen, dass ich draußen bin?"
Es dauerte etwas, doch dann nickte Simon leicht mit dem Kopf. "So verhält es sich, ja." Er steckte das Taschentuch weg. "Die Kosten übernimmt die Versicherung. Gleichzeitig kündigt Drexler alle mit dir bestehenden Verträge. Eventuelle Ersatzansprüche durch Schäden... Da kümmert sich die Drexler-Rechtsabteilung drum. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen."
Für einen kurzen Moment glaubte Timothy, ein Grinsen in Simons Gesicht gesehen zu haben. "Ich bin draußen..."
"Es tut mir Leid, Tim..." Simon sah auf die Uhr. Eine sündhaft teure Rolex, deren Armband sich automatisch dem jeweiligen Träger anpaßte. "Ich..."
"Schon gut", winkte Timothy ab. Die Enttäuschung war zu groß. Eigentlich war er in die Stadt gefahren, um eine Ebene im Drexler-Imperium höher zu klettern, doch nun... "Ich weiß, dass du gehen mußt." Er legte sich wieder auf den Rücken und starrte zur Decke.
"Also dann... Man sieht sich, und wenn du Hilfe brauchst, dann..." Simon beendete den Satz nicht und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen.

Danach ging alles ziemlich schnell. Fathergill bekam eine Injektion, die bewirkte, dass es ihm mindestens zwei Tage gut gehen würde. Auf Kosten der Versicherung wurde ihm ein Fahrdienst bestellt, der ihn nach Hause fuhr. Timothy Fathergill hatte noch vierundzwanzig Stunden, um das nötigste zusammenzupacken.

Die Funkuhr auf der kleinen Ablage links neben dem Spiegel verriet, dass er in einer Stunde abgeholt werden würde. Eine gepackte Reisetasche sowie ein notdürftig mit Klebeband zusammengehaltener Karton mit persönlichen Dingen standen unten vor der Wohnungstür. In sechszig Minuten würde Fathergill sein bisheriges Leben in ein Leben eintauschen, das im totalem Widerspruch stand. Wenn man die Stadt mit dem Sonnensystem verglich, so bildeten die Drexler-Türme die Sonne, den Mittelpunkt allen Seins. Seine jetzige Position war mit der des Jupiters vergleichbar, sehr weit draußen, aber es reichte, um einen Schienenwagen sein Eigentum zu nennen. Ihm stand ein Umzug in die Bahn des Plutos bevor: Eine ringförmig um die Stadt gelegene Siedlung aus Wellblechhütten. Das Niemandsland ohne Recht und Ordnung. Drexler stellte nur das Wasser zur Verfügung, mehr aber auch nicht. Fathergill stand vor der Toilette und überlegte, ob er im Stehen pinkeln sollte. Irgendjemand hatte es ihm krumm genommen, und dieser Jemand hatte für den Ausfall des Bordcomputers gesorgt. 'Man pinkelt nicht im Stehen, Arschloch! Warte nur ab, was du davon hast!' Seufzend hob er den Deckel hoch und setzte sich in. Und dann entdeckte er die Miniaturkamera. "Elender Mistkerl!", fluchte Timothy, verrichtete sein Geschäft und verließ das Badezimmer, ohne zu spülen, und ohne sich die Hände zu waschen.

"Shaker?" Er war sich sicher, dass das Hologramm längst abgeschaltet war...
Sofort erschien der perfekte Mann. "Was kann ich für Sie tun, Timothy?"
Zufrieden nickte Fathergill. "Verbindung zu Simon Fistler! Nur Audio!"
"Wie Sie wünschen, Timothy." Shaker schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und sagte: "Verbindung hergestellt."
"Simon?"
"Tim? Was ist los? Ich kann dich nicht sehen..."
Angespannt trommelte Fathergill mit den Fingern auf die Marmorplatte der Küchentheke. "Mein Shaker spinnt ein wenig...", sagte er und ignorierte den erstaunten Blick des Hologramms. "Ich habe nicht viel Zeit, also mache ich es kurz. Du weißt, dass ich eigentlich befördert worden wäre?"
"Ja, klar, alle wußten das, Timothy. Um so schrecklicher..."
"Wenn ich nicht wäre, wer wäre dann an der Reihe gewesen?" Fistler schwieg. "Du bist ein richtig mieses Arschloch, Simon!" Verärgert wischte er mit der Hand durch das Hologramm. Shaker blieb unbeeindruckt und lächelte freundlich.
"Was? Was ist denn in dich gefahren? Hör mal, ich kann verstehen, dass du..."
"Nein!", rief Timothy. "Du konntest es einfach nicht abwarten, oder? Verdammt, Simon! Ich habe die Kamera gefunden. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, ins Haus zu kommen, aber das..."
"Jetzt halt mal die Luft an, okay!"
"Machst du das bei anderen auch? Geht dir einer ab, Leute beim Pissen zuzusehen?"
"Ich weiß nicht, wovon du redest."
"Jetzt stell dich nicht als unwissend hin, Simon! Nicht jetzt! Verdammt, mein ganzes Leben geht in einigen Minuten den Bach runter!" Timothy ballte die Hände zu Fäusten. "Es ist deine Kamera, Simon! Dein Projekt!" Schweigen. "Fühlst du dich ertappt, ja? Das ist gut! Denn weißt du, es ist..."
"Meine Kameras sind noch nicht einmal in der Marktreife. Die Abteilung der Vorgesetzten hatte noch Mängel in der optischen Auflösung erwähnt. Verdammt nochmal, von was redest du eigentlich?"
"Ich..." Wütend schlug er gegen den Kühlschrank. "Was? Was sagst du?"
"Wir sind noch nicht soweit, Tim. Was immer bei dir los ist, ich..."
"Verbindung trennen!", zischte Fathergill, beugte sich über die Theke und erbrach sich im Spülbecken.
"Alles in Ordnung mit Ihnen, Timothy?", fragte Shaker besorgt. Und auch wenn es nur ein Hologramm war, es klang aufrichtig.
Timothy wischte sich über den Mund. "Ach, nichts..." Er sah zu Shaker. "Neue Frisur?" Shaker trug einen Mittelscheitel. Jemand hatte Timothy gründlich die Zukunft im Drexler-Universum vermasselt, und Timothy Fathergill wußte weder, wer es sein konnte, noch, warum dieser Jemand das getan hatte. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Statistisch gesehen würde er noch vierzig Jahre inmitten der Wellblechhütten ein Dasein fristen.

Als man seinen Nachbarn abholte, um ihn ins Niemandland umzusiedeln, stand Harry King am Zaun und beobachtete das Szenario. Er lächelte Timothy Fathergill an. Die Leute vom Drexler-Sicherheitsdienst verstauten die Reisetasche und den Karton im Kofferraum des Wagens. Nur sie verfügten über Autos, die noch mit Allradantrieb fuhren und nicht an das Satellitensystem gekoppelt waren, so auf ungewöhnliche Dinge entsprechend schnell reagieren konnten. Fathergill lehnte mit dem Kopf an der Scheibe. Er sah unglücklich aus. Harry King konnte es verstehen. Als sich alles wieder beruhigte, ging er gemächlichen Schrittes zurück zum Haus und schnupperte an den Blumen, die er vor der Veranda angepflanzt hatte. Im Wohnzimmer kontrollierte er die vier Computer, die vierundzwanzig Stunden am Tag mit dem Drexler-Netz verbunden waren. Einen Teilerfolg hatte Harry King nun verbuchen können. Die Pläne für die Miniaturkameras waren aus ihm unverständlichen Gründen im Netzwerk von Drexler frei ersichtlich. Also hatte er eine davon gebaut, sich Zugang zum Haus des Nachbarn verschafft, und sie im Bad installiert. Dass manche Männer immer noch im Stehen pinkelten versetzte ihn in Erstaunen. Harry King holte sich ein Drexler-Bier aus dem Drexler-Kühlschrank und setzte sich in den gemütlichen Sessel. "Tja...", murmelte er und trank einen Schluck. "Heute der Nachbar, morgen die ganze Welt!" Er war einhundertundsieben Jahre alt, und das Interesse, das System ein wenig herauszufordern, hatte ihn ein Jahr zuvor übermannt. Was hatte er auch großartig zu verlieren? Laut Drexler-Statistiken war er seit einem Jahr tot. Grund genug, ein wenig die Welt zu stören. Die Testphase mit Timothy Fathergill war schließlich ein Erfolg gewesen. Harry King grinste und rülpste. Was Drexler wirklich gut konnte, und das mußte er anerkennend eingestehen, war, ein richtig gutes Bier herzustellen.


ENDE


copyright by Poncher (SV)

 

"verdonnerte jeden einzelnen zu dreizehn Stunden Resozialisierungsfernsehen" :lol: :thumbsup:
Hab mich totgelacht, kann nicht weiter lesen ...

 

OK, dank meiner virtuellen Unsterblichkeit konnte ich weiter lesen.

Also: Super Geschichte. Eine nicht zu geradlinige Handlung mit Wendungen und einem überraschenden, schwer erahnbaren Ende, ein prima Running Gag (mit der Frisur), viele nette Einzelideen und ein cooler Schlusssatz.

Das Zukunftsszenario erscheint mir allerdings etwas zu konstruiert und an ein paar Stellen überzogen (z.B. die nur scheinbar hohen Gebäude). Kontrolle und Ordnung, die Maximen des Konzerns, erinnern doch stark an Mechanismen in Diktaturen. Deren Empfindlichkeit gegenüber Manipulation oder Korruption spiegelt sich durchaus hier wider. Aber für meinen Geschmack hätte man die Geschichte noch ein wenig komprimieren können. Einige Dinge wie "E-Mails gehörten zum Alltag wie das Atmen zum Leben." muss man gar nicht extra erwähnen (wenngleich es hier nett formuliert ist).

Fazit: gut geschrieben, interessante Handlung mit vielen sozial relevanten Gedanken, insgesamt sehr unterhaltsam. Ab auf die Empfehlungsliste.

:thumbsup:

Uwe
:cool:

 

Hallo Poncher,

Hut ab, eine wirklich gute Geschichte, leider hat mir Uwe Post zum großen Teil meine Kritik vorweg genommen. Die Idee der Moralüberwachung bis auf die Toilette hat was. Ich fühlte mich etwas an Orwell erinnert, aber Deine Geschichte hat eher satirische Elemente.
Einige Selbstverständlichkeiten, siehe E-Mails, sind überflüssig, haben mich insgesamt aber wenig gestört.
Der Schluß ist wirklich grandios.

Grüße von
chianello

 

So,

jetzt muß ich Dir mal gewaltig in Deinen faulen Hintern treten.

Ich lese zum xten Mal eine sehr gute Geschichte von Dir - der man aber leider, wie praktisch allen Deinen anderen übrigens auch, anmerkt, daß Du es nicht für nötig hältst, etwas mehr Energie hineinzustecken und ordentlich daran zu feilen.

Kleine Stilunschönheiten, Fehler und Logik-Knicke trüben das Leservergnügen, was unendlich schade ist, da Du auch hier wiedermal eine geile, abgefahrene Idee im gewohnt lässigen Poncherstil umgesetzt hast. Das hier könnte eine Perle sein!!

Ich rede wahrscheinlich gegen eine Wand, aber vielleicht dringt meine Botschaft durch die öffentliche Demütigung ein wenig zu Dir durch :D:

Es ist wirklich beeindruckend, daß Du eine Geschichte nach der anderen fabrizieren kannst. Wir alle bewundern und beneiden Dich dafür. :huldig:
Aber es wäre vielleicht mal angebracht, einen Gang zurückzuschalten und den bereits vorhandenen Geschichten die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie verdienen. Bilde Dir nicht ein, daß Du mit einer so überragenden Begabung gesegnet bist, daß Du es nicht nötig hast, Deine Geschichten wieder und wieder und wieder zu überarbeiten, sie zu schleifen und an ihnen zu feilen, damit sie perfekt sind!

Für Dich ist die Arbeit an einer Geschichte beendet, wenn Du den letzten Satz getippt und vielleicht einmal drübergelesen hast. Eigentlich fängt sie da aber erst richtig an. So genial bist Du nicht, daß Du eine qualitativ wirklich hochwertige Geschichte einfach aus dem Ärmel schütteln kannst. Da brauchst Du schon etwas mehr Einsatzwillen!

Bis jetzt hast Du viele, viele Rohdiamanten. Nett, aber wenn Du wirklich irgendwann mal Geld damit verdienen willst, solltest Du mal ein paar Brillanten draus machen.

 

Oha, nach einer Ewigkeit mal wieder ein SciFi-Geschichtlein, und gleich in der Empfehlung gelandet, schon toll. :)

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, mag sein dass einige Dinge zuviel sind, mich stört es nicht wirklich.

Wer war gleich nochmal Sav? :hmm:

Gruß,
Poncher

 

Hi Poncher,

Obwohl angenehm zu lesen, finde ich, das diese Story eine deiner schwächern ist.
Sehr gut fand ich den Anfang, doch dann ging es bergab.
Einmal ist die Idee mit dem alles kontrollierenden Konzern nicht neu und irgendwie kamen mir viele Dinge vertraut vor.
Dann wird nicht klar, warum der Nachbar eine Aversion gegen Pinkeln im stehen hat. Er scheit ein Hacker zu sein und damit ist er doch gegen die Normen.
Dieser unvermittelte Angriff ist für mich ein Problem und damit erscheint mir die ganze Geschichte etwas unvermittelt.
Sprachlich sind mir nur zwei Kleinigkeiten aufgefallen:

von Sensor an Sensor
von Sensor zu Sensor
dann krachte der Wagen hinter ihn in
hinter ihm

Grüße
bernhard

 

Hallo Poncher!

Das ist die erste Sf-Story, die ich von dir lese. Ich muss mich in groben Zügen meinem unmittelbaren Vorredner anschließen und natürlich raven, mit dem Arschtritt, der offensichtlich noch nicht gewirkt hat.:D

Entschlackst du die Geschichte, bleibt der Protagonist, der im Stehen pinkelt (den Zeitbezug wird kaum einer übersehen können) und der Nachbar, der sich ein büschen als Revoluzzer betätigt. Also genau was man gewohnt ist von dir (und von dem man auch immer wieder überrascht wird) Du nimmst eine altbekannt Geschichte, mischt die Karten und erzählst sie neu.

Bei vielen deiner anderen Stories hatte ich das Gefühl, dass du uns etwas eminent wichtiges zu sagen hast, ich aber nicht drauf komme, was das ist. Hier scheint mir das umgekehrt.
Z.B. Jenson Pledge? Warum führst du ihn ein? Er ist vollkommen unwichtig für das Geschehen, zumindest für das spätere. Ich weiß, Atmosphäre schaffen, das Umfeld erläutern. Aber warum hast du ihn dann so wichtig? Ich hatte permanent das Gefühl, dass dieses Mann später die Bühne betreten wird.
Du kannst jetzt sagen, er betritt tatsächlich die Bühne, indem er Timothys Schicksal vorweg nimmt, dann allerdings hätte ich mir gewünscht, dass ich zum Ende nochmal was von ihm gelesen hätte. Die Einführung dieser Figur ist durchaus auch ein wenig unmotiviert und holperig, Tim denkt eher grundlos an Pledge - ich hätte ihm einen kleinen Anlass gegeben. Wenn Pledge für dich so wichtig war, wie ich jetzt mittlerweile annehmen, hätte er sicher eine etwas bessere Behandlung verdient.:D

Memopacks waren das, was früher einmal die Black Box war:

Warum?
Warum traust du dem Leser zu wenig zu? Das ist der Punkt, der mich am meisten stört: Du erklärst Sachen, die für den Rezipienten neu sind. Und auch wenn ich von SF nicht so viel Ahnung habe, wie die meisten hier, das aber weiß ich: Das macht man nicht!

Viel eleganter ist es, das Ding, was es zu erklären gilt, einzusetzen und damit den Sinn zu erläutern.
Das zieht sich aber durch die gesamte Erzählung, du müsstest mal dran feilen! (Mach mal, sei nicht so faul!)

In nicht mehr allzu weiter Ferne

Was'n das?

Ab der Nachricht, die sichtbar wird, wurde es rasant und spannend.

sechszig

Ne ne, sechzig!

...würde Fathergrill sein bisheriges Leben in ein Leben eintauschen...

gegen ein Leben - m.M. nach

Seufzend hob er den Deckel hoch und setzte sich in.

Entweder hin oder in die Schüssel:cool:

von was redest du eigentlich

Ich war immer ein Anhänger der Wendung wovon

Tja, wäre hier nicht der typische "Ponch"-Faktor, ich würde die Story wohl nicht mögen.

Viele Grüße von hier!

 

Hab grad bei der Lordschuft 'ne Bemerkung von dir gelesen und möchte hier darauf antworten:

Das ist die erste Sf-Story, die ich von dir lese. Ich muss mich in groben Zügen meinem unmittelbaren Vorredner anschließen und natürlich raven, mit dem Arschtritt, der offensichtlich noch nicht gewirkt hat.
Doch, doch! Glaub mir, hat er. Danke fürs Lesen!

Grüße nach dort!
Ponch

 

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