Southend-on-Sea
Die Handlung dieser Geschichte ist frei erfunden und historisch vollkommen falsch.
Danke für Ihr Verständnis.
SOUTHEND-ON-SEA
28. Februar 1918
Gefreiter Hannes Mergel
1. DIV EMPIRE, Rotterdam
An Annemarie Mergel
Potsdamer Str. 10
BERLIN
Liebste Annemarie!
Du weißt, ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr, seit dem Tag, an dem wir an die niederländische Grenze fuhren. Das ist schon zwei Monate her.
Wie du bestimmt schon gelesen hast, sind wir unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Unsere Truppen haben Stellung vor Paris bezogen, und das ist keine Propaganda. Unser Deutsches Kaiserreich ist wirklich kurz davor, diesen Krieg zu beenden.
Den Schotten sei dank.
Wenn du meine letzten Briefe erhalten hast, weißt du, dass unsere Flotte 40 der 41 noch übrigen britischen Schiffe versenken konnte. Das letzte wird versuchen, in Brighton anzulegen, doch Oberfeldwebel Stulze hat gesagt, dass wir es dort bereits erwarten werden. Für uns stellt es keine Gefahr dar.
Wir sind 40 000 Mann. Die Erste Division Empire. Wir sollen Southend-on-Sea sichern, damit die Zweite, Dritte und Vierte landen können. Es wird einfach. England ist so gut wie erledigt.
Um 8 Uhr abends, gestern, habe ich Nachrichten von der Ostfront erhalten. Schlechte Nachrichten. Letzte Woche haben die Russen eine unserer Linien durchbrochen und 40 deutsche Offiziere hingerichtet. Unter ihnen war Josef Böttcher. Ich weiß, es ist schwer für dich. Zumindest wird es das. Aber ich bitte dich, du darfst den Mut nicht verlieren. Wir alle haben Josef sehr geliebt. Er war ein Bruder für mich. Doch das Leben geht weiter, der Krieg ebenfalls. Erst recht der Krieg. Doch ich versichere dir, der ist bald vorbei.
Morgen um 4 Uhr früh legen unsere Schiffe ab. Es ist eine schöne Strecke von Rotterdam nach Southend-on-Sea. Übermorgen Nacht sind wir dort.
In Liebe,
dein Hannes.
P. S. : Ich habe mir Rotterdam angesehen. Glaub mir, zu Hause ist's noch am Schönsten.
1. März 1918
Gefreiter Hannes Mergel
1. DIV EMPIRE, Trns-Schiff SIEGFRIED-112
An Annemarie Mergel
Potsdamer Str. 10
BERLIN
Liebste Annemarie!
Wir sind pünktlich um 4 Uhr gestartet. Ich fiebere dem Sieg entgegen.
Ich habe mit Oberfeldwebel Stulze gesprochen. Er hat gerade in seine Pickelhaube Bier eingeschenkt bekommen(wir haben 5 große Fässer auf dem Schiff) und verriet mir, voll wie ein Franzose, was uns morgen in Southend-on-Sea erwarten wird. Er sagte, die Briten wären so gut wie alle in Schottland stationiert, um die Aufstände zu zerschlagen. Es würde sehr ruhig werden.
Um diesen Brief zu schreiben, musste ich meine guten Wollsocken gegen Wuchtigs Tinte tauschen. Mach dir keine Sorgen, ich habe schon paar Mal ohne Socken gekämpft.
In Liebe,
dein Hannes.
P. S. : Ich habe nochmal über Stulzes Pickelhaube nachgedacht... Keine Ahnung, wie er damit kämpfen will.
2. März 1918
Gefreiter Hannes Mergel
1. DIV EMPIRE, Trns-Schiff SIEGFRIED-112
An Annemarie Mergel
Potsdamer Str. 10
BERLIN
Liebste Annemarie!
Ich habe Angst. Es ist fast nichts, aber immer mehr Zweifel überkommen mich wegen Southend-on-Sea. Stulze war schließlich betrunken. Vielleicht haben die Briten die Aufstände zerschlagen und sind wieder in den Süden gezogen, um uns aufzuhalten. Sie kennen unser Vorhaben vielleicht. Ich hörte gestern gegen 11 Uhr nachts wie der Funker aufgeregt schnell auf den Kapitän einredete. Als ich reinkam und fragte, was eigentlich los sei, verstummten sie. Schließlich schickte der Kapitän mich wieder schlafen, um Kraft für den Angriff zu sammeln. Ich tat, was er sagte.
Mein Schlaf war schlecht. Ich träumte von der Nacht. Wir verließen das Schiff, gingen an den Strand. Es war ruhig. Verdammt ruhig. Plötzlich durchzuckten gelbe Blitze den Himmel. Das Wasser hinter uns staute sich zu einer Welle auf. Sie kroch auf uns zu. Da schoss jemand. Die Welle zerplatzte zu Hunderten von schlammigen Strängen und fiel ins Meer. Aber es war kein Meer. Das Wasser war zu einer dicken Masse erhärtet, Schützengräben formten sich in einem zähen, pulsierenden Wellengang. Es war wie ein Erdrutsch. Hochgeplatschtes Wasser erstarrte in der Luft zu Stacheldraht.
Da hoben sich Gestalten aus den Gräben. Die Erde pulsierte, sie schien zu atmen.
Die Gestalten waren Franzosen. Ich erkannte ihre Waffen und ihre blitzblank geputzten Uniformen. Ihre Gesichter verrieten nichts. Sie waren weißgewaschen von unmenschlichen Wassern, und manch Gesicht ergoss sich in frischem Blut. Die Augen aufgerissen, kein Blinzeln. Da hoben sie ihre Waffen, und im Gleichschritt auf uns zu marschierend, formten ihre Lippen einen gespenstischen Vers. Drei Wörter, drei Wörter nur in einer Sprache, die ich nicht verstand. Sie kamen auf uns zu.
Immer diese Worte... die unverstandenen Worte in einem Rhythmus, der immer langsamer zu werden schien.
Die Blitze am Himmel zuckten, aber sie schlichen eher. Schliche über das Firmament wie ein Dieb durch das ehrliche Haus.
Und je langsamer die Worte(jene Worte! Unverzeihliche, Schwarze Worte!), umso langsamer die Blitze(sie standen still! Standen still und näherten sich uns, wie müd gewordene Geschosse), umso langsamer bewegten sich die Franzosen, diese Gestalten in ihrem blitzblank geputzten Uniformen. Nur das Blut klebte an ihnen, frisches, junges Blut.
Jemand von uns hob die Waffe und schoss. Eine der Gestalten fiel um, ohne ein Zucken im Gesicht. Doch dafür standen zwei für diese aus den Schützengräben auf.
Wir schossen erneut. Und wieder. Und wieder. Mit jedem Schuss wurde ihr Schritt fester, mit jedem Schuss wurden sie mehr - und ihre Gesichter wurden starr. Ihre Lippen bewegten sich nicht, die Gewehre in ihren Händen pulsierten wie Därme frisch aufgeschlitzter Schweine.
Die Worte!
Sie umgaben alles.
Sie wiederholten sie(wer? WER?), schrieen sie in einem festgehakten Rhythmus.
Die Worte!
Sie legten sich in mein Ohr, bis es schmerzte. Die Blitze... und sie der Donner.
Die Blitze erloschen. Der atmende Boden unter ihren Füßen strahlte weiß auf. Die Haut der Gestalten schmolz von ihren Leibern, sie schrieen, doch kein Zucken in ihren weißgewaschenen Gesichtern.
Da begriff ich.
Ich schrie.
Da erwachte ich schweißgebadet in meinem Feldbett.
Die Worte lagen mir auf de Zunge.
"Southend-on-Sea", flüsterte ich fast unhörbar in die dunkle Kammer. Southend-on-Sea. Das waren die Worte gewesen, die der Tod auf den Lippen trug. Das waren die Worte, die mein Ende markierten.
Ich schlief wieder ein. Als ich aufwachte, waren meine Stiefel weg. Es waren gute Stiefel. Wenn ich den Kerl erwische, der sie gestohlen hat, leg ich ihn um, Kamerad hin oder her. Wer im Krieg ohne Stiefel ist, ist verloren.
Die Tinte war zum Glück noch da.
Eigentlich weiß ich nicht, warum ich dir das alles erzähle. Du machst dir ja doch nur Sorgen.
Aber vielleicht erreicht dich dieser Brief gar nicht. Wir kommen nachts an. Vielleicht ist dann ja alles vorbei.
In Liebe,
dein Hannes
P. S. : Die Stiefel hab ich jetzt wieder. Hab ich bei Löffelholz gegen Bettlaken und Löffel getauscht. Der hatte die von Schind. Weiter konnt ich's nicht verfolgen. Sei's drum.
3. März 1918
Mergel
AN BERLIN
Annemarie!
ES WAR EINE FALLE!
Ich habe es gewusst ich habe es gewusst ich habe es gewusst ich habe es
ICH HABE ES WIEDER GESEHEN!
Wir landeten gestern um Mittarnacht. Der Himmel war klar und rein wie ein deutscher Fluss.
SIEGFRIED 1-50 gingen uns voraus. Sie legten am Ufer an. Die Männer verließen die Schiffe. Es mussten knapp 20 Tausend Mann gewesen sein.
Muntere Rufe.
Ich habe sie die deutsche Hymne singen gehört.
SIEGFRIED 51-100 legten an. Die Männer liefen - tanzten - aus den Transportern. Das frohe Herz nach außen gekehrt.
Ich schätzte 35 Tausend Mann da vor mir auf den Strand verteilt.
Ein Blitz fuhr durch den Himmel. Ein gelber Blitz.
Die Männer bückten sich, sie liefen durch die Gegend wie erschrockene Kinder, als etwas ins Wasser fiel und mit einem tiefen Ton Wellen schlug.
Der Kapitän ließ unser Schiff wenden. Wir trieben auf das Gegenufer zu. Wieder Blitze. Der Takt war wieder da, er hämmerte gegen den Himmel und zerschlug unsere Schiffe.
Stummes Rattern, anonym und unheilvoll wie eine Hure. Ich sah roten Dunst von unseren Männern aufsteigen. Da wusste ich. Es war vorbei.
Zwei Granaten schlugen auf unser Schiff und rissen das Backbord in Fetzen. Die Rettungsboten waren auf dem Backbord. Alles zu Staub. Der Rumpf kenterte zur Seite, und eine dritte Granate schlug ein. Das Schiff zersplitterte. Ich wurde durch die Luft gewirbelt und lag mit einer Quetschung in der Brust im seichten Wasser. Ohne Gewehr.
Sie gingen mit Flammenwerfern durch unsere Reihen. Schutzanzüge und Gasmaske im Gesicht.
Ich erhob mich. Da sah ich es. 30 000 Soldaten, dazwischen drei Dutzend vermummte Feinde, Feuerbälle schleudernd. Die Bunker auf den Felsen - ich konnte sie sehen - schossen wahllos auf alles Bewegte.
Ein Ameisenhaufen, ein Ameisenhaufen!
Da sah ich es!
In der Bewegung der fallenden Leiber sah ich in seine Augen. Der Mann unter der Gasmaske war kein Brite. Er war einer von Ihnen. Er war Franzose, einer dieser seelosen, weißgewaschenen Kreaturen ohne Stimme, ohne Denken - seine Uniform spiegelte sich in den Augen.
Wie ich sie in Erinnerung hatte.
Weiß und regungslos schaute er mich an. Frisches Blut floss sein Gesicht hinab, frisches, junges Blut. Als er zu Boden stürzte, kamen zwei andere seiner Art für ihn hinter den Hügeln hervor.
Unsere Männer schrieen, sie schossen, die Haut schmolz von ihren Körpern, da Feuer!
ES WAR WIEDERGEKEHRT, VERSTEHST DU MICH JETZT?
Weißes Licht erfüllte meine Augen, ich war blind. ES WAR WIEDERGEKEHRT! Sie wackelten, sie zitterten und tanzten unter der Macht des Taktstockes, das anonymen Ratterns.
Ich versuchte, aufzustehen, doch etwas schlug mich zu Boden. Ich weiß es, es waren ihre Blicke, ihr hasse, der mich auf die Erde drückte.
Die Blicke!
Niemand schrie, und dennoch alle. Ein Tosen erhob sich gen Himmel von dem Ameisenhaufen, als ich, auf dem Rücken liegend, mein Augenlicht zurückbekam. Ich sah die Blitze, wie Spiegelungen auf den Wellen.
Waren es die Wellen?
Der Blitz und der Donner, WEISST DU NOCH? WEISST DU NOCH?
Zwischen Hunderten... Tausenden von Leibern, anmutig und abstoßend schwangen Dutzende von... diesen ... ihre Köpfe und Rümpfe schlangen sich durch den Strand, nach Leben suchend. Der Takt ist der weg, doch die Tänzer wissen es nicht. VERSTEHST DU? DER TAKT IST DER WEG, DOCH DIE TÄNZER TANZEN WEITER, MITGERISSEN VON DER EBENHEIT JENEN VERGÄNGLICHEN TAKTES?
Die Blitze waren fort, ebenso die TÄNZER, als ich meine Augen öffnete. Ich... es muss mittags sein. Der 3. März, Tag des Triumphes... sie sind tot. Sie sind alle tot. Aus dem Augenwinkel sah ich seinen Schatten, das 41. Schiff war hier, ich sah seinen Schatten... Wir haben gewonnen. Wir haben sie entlarvt. Wir wissen, wer die Tänzer sind, wir wissen es wir wissen es wir wissen es w
Die Siegfriedschiffe sind versenkt. Alle 125. Oder waren es 115?
Ich mache mich dann mal auf den Weg. Es ist eine lange Strecke nach Hause zu schwimmen. Aber morgen schon tanze ich in Hamburg an. Versprochen.
ICH TANZE DORT AN!
12. April 1918
Annemarie Mergel
An Gefreiter Hannes Mergel
1. DIV NIEDERLANDE
Geliebter Hanni!
Seit du dich freiwillig gemeldet hast und in den Zug stiegst, habe ich nichts mehr von dir gehört. Ich mache mir größte Sorgen! Wie geht es dir? Ist viel passiert? Wie kommt ihr voran in den Niederlanden? Hoffentlich kommt dieser Brief überhaupt an.
Bitte schreibe mir!
In Liebe, deine
Annemarie
P. S. : Wie geht es eigentlich Josef Böttcher? Irgendetwas Neues über ihn gehört?
26. August 2002