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Soul Café
Camara schrie, wie man noch nie einen Menschen hat schreien hören.
Es war kein „normales“ Schreien, nicht etwa kurz und durch Erschrecken verursacht. So wie das spitze Aufschreien, wenn man plötzlich eine Spinne unter dem Bett hervorkrabbeln sieht. Oder wenn man sich beim Brotschneiden den Finger verletzt und einen schnellen Schmerz verspürt.
Nein, Camara schrie lang und anhaltend, ohne Pause, schrill. Es klang fast wie diese Sirenen, wie man sie manchmal noch auf Häuserdächern sieht und die früher alle Jahre mal zu Katastrophenschutz-Übungen aufheulten. Nur, dass das hier mehr nach verwundetem Tier, nach Todesangst klang.
Die gerade volljährig Gewordene hatte schon deutlich vernehmlich vor der Tür des Cafés geschrien. Erst, als sie beim Hereinstolpern an der Türschwelle fast hingefallen wäre, unterbrach sie dieses ausdauernde, den anderen Gästen im Ohr brennende Brüllen für einen winzigen Sekundenbruchteil - nur, um dann sofort wieder anzufangen: mit weit aufgerissenen Augen, scheinbar ohne Luft zu holen, die rechte Hand auf das weiße T-Shirt unterhalb des Herzens gepresst, wo sich in diesen Augenblicken ein roter Fleck ausbreitete. Sie stolperte nach zwei Schritten ein weiteres Mal, fiel auf die Knie, kippte mit dem Oberkörper wie ein umgestoßenes Brett einfach nach vorne. Regungslos blieb sie vor der Theke liegen. Das Schreien verstummte von einem Augenblick auf den anderen. Die rote Lache breitete sich wie in einem schlechten Krimi der Sechziger Jahre langsam unter Camara aus.
Die Gäste des Lokals reagierten nicht. Niemand schaute auch nur für einen Moment von seiner Kaffeetasse oder seinem Sandwichteller auf. Geschäftig und ohne jede Gefühlsregung bewegte sich Jana, die kleine, rundliche Bedienung, mit zwei Longdrinks auf einem silbernen Tablett um die am Boden liegende Frau auf den Ecktisch neben der Tür zu. Zwei ältere Männer warteten dort offenbar schon ungeduldig auf ihre Bestellung. Noch während sich die Gläser in der Hand der Kellnerin und einen halben Meter vor den Augen der Gäste befunden hatten, nahmen die beiden kahlköpfigen Alten ihr kichernd die hohen Gläser gierig aus der Hand. Beide wagten zeitgleich noch einen nicht zu übersehenden lüsternen Blick auf das üppige Dekolletee Janas, bevor sie überaus lautstark an ihren Getränken herumzuschlürfen begannen. Das waren gleich zwei Aktionen, die Jana mit einem angewiderten Blick quittierte. Zumindest das doch ziemlich unangenehme Geräusch war es auch, was die ein paar Meter weiter am Nebentisch sitzende kleine Familie dazu brachte, die beiden Greise mit einem indignierten "bösen" Blick zu bestrafen. Aber sie sagte nichts. Nur die Augen flackerten bei allen vier Personen in einer Mischung aus Abneigung, Angst und Unwissenheit. Die inzwischen leise stöhnende Frau am Boden wurde weiterhin von niemandem in dem Raum weiter zur Kenntnis genommen.
„Jana, noch ein Bier, aber fix!“
Der röchelnde Thomas in der hintersten Ecke des schummrigen Lokals machte (nicht zum ersten Mal an diesem Abend, übrigens) lautstark auf sich aufmerksam, während er sich schwerfällig erhob und sich hinkend in Richtung der roten Tür mit der Aufschrift „Toilette” begab.
“Ich hab´ heut´ schließlich noch was vor...“. Auf seinem Weg stieß er mit dem Fuß unabsichtlich an Camaras linken Oberschenkel. Sie rührte sich immer noch nicht.
„Nana, nu´ mach mal langsam, mein Dickerchen“, lächelte ihn die Bedienung auf dem Rückweg vom Ecktisch zu. „Du wirst heute nirgendwo mehr hingehen, glaub mir.“
“Warts nur ab“, grinste Thomas mit seinen dicken Lippen aus dem aufgequollenen Gesicht ebenso zurück. „Heute schaff ich es! Ganz sicher! Ich spürs!“
„Träum weiter“. Auch Jana hatte Camara jetzt mit dem Fuß angestoßen. Im Gegensatz zu Thomas blickte sie kurz auf den Körper der Frau hinunter. „Sorry, Babe“, haspelte Jana kurz und ging weiter in Richtung Theke. "Er wär der Erste, der es in so kurzer Zeit schafft", murmelte sie noch vor sich hin, während sie dem beleibten Thomas fast schon ein wenig mitleidig hinterschaute..
Die Frau am Boden schnaufte jetzt vernehmlich. Nach zwei, drei lauter werdenden pfeifenden Atemzügen fing sie dann an zu wimmern. Immer lauter und eindringlicher wurden die Geräusche. Schließlich hob sie den Kopf ein paar Zentimeter vom Boden hoch, blickte dann mit irrlichterndem Blick in die Runde des Cafés, schlug dann mit nickenden Bewegungen mehrfach mit dem Gesicht auf den Boden. Beim vierten Aufschlagen setzte dieses extreme Schreien wieder ein. Es war jetzt sogar noch lauter als zuvor, als sie so unvermittelt in das Café buchstäblich hineingefallen war. Ihre zerkratzten Arme zitterten und begannen zu rudern, und mit den Beinen in den zerrissenen roten Jeans strampelte sie jetzt wie ein Schwimmer auf dem Trockenen.
Nun schauten auch die beiden Alten zu ihr hinüber und hinunter. Und die vier Mitglieder der jungen Familie, die Eltern und ihre beiden kleinen Töchter, hatten jetzt ebenfalls doch einen wenigstens flüchtigen Blick für sie übrig. "Ist das nicht...?", murmelte der mit Schnitten im Gesicht übersäte Vater mehr zu sich selbst. Seine Frau strich sich über die verbrannten blonden Haare, wandte sich von dem seltsamen Anblick ab und nickte dem Mann fast unmerklich zu. Die Kinder sollten nichts mitbekommen. "Doch, ich bin ziemlich sicher... etwas später als wir...."
„Wo....verdammt ….was ist...?“ Camara schrie jetzt Wortfetzen zwischen den in Teilen auftretenden Schreiattacken hinaus. Weiterhin hektisch strampelnd, als wolle sie mit aller Macht noch auf dem Boden liegend wegrennen, schaute sie sich mit immer wilder werdendem Nicken und Drehbewegungen ihres von blutigen Schrammen übersäten Kopfes um, kam nach einigen erfolglosen Versuchen aufzustehen sogar irgendwann zitternd auf die Knie. Schließlich konnte sie sich schwerfällig mit beiden Händen auf dem schmutzigen Boden aufstützen. Ihr Blick fiel auf den dicken Thomas, der gerade von der Toilette zurückkam und schnaufend an ihr vorbeihumpelte. Als sie das riesige, nur von Stofffetzen umhangene längliche Loch bemerkte, das sich bei ihm vom Hals bis zur Lendengegend fast über die ganze Breite seines massigen Leibes erstreckte, wankte sie erneut. Für Außenstehende wäre es eine interessante Frage gewesen, wo genau er in diesem desolaten körperlichen Zustand eigentlich sein gerade bestelltes letztes Bier hinschütten wollte. Für Camara indes war der Anblick schlicht ein gewaltiger Schock. In diesem Moment war denn auch ein (auch akustischer) Damm gebrochen. Das extreme Schreien, das während ihres unbeholfenen Aufstehversuchs in ein lautes Schniefen und Weinen übergegangen war, setzte augenblicklich wieder ein, wurde immer lauter, hysterischer, schier unerträglich für alle, die um sie herum waren und zwangsläufig zuhören mussten.
„Mensch, das ist ja nicht auszuhalten!“ Bennybub, der junge, wie seine Kollegin nicht ganz schlanke Kellner, der bis jetzt nur stumm an der Kasse hinterm Tresen gestanden hatte, stieß seinen Stapel mit Rechnungsblättern weg, trippelte mit kleinen, schnellen Schritten um die Thekenschranke herum los und kniete sich schließlich drei Meter weiter schwerfällig neben Camara nieder.
Bisher hatte es ihm noch nie etwas ausgemacht, wenn eine "Neue" hier schreiend ins Café hereinfiel. Das passierte schließlich dauernd, und er, Jana und die schon länger hier ausharrenden Gäste hatten sich alle längst an diese Anblicke und Laut-Kulissen gewöhnt. Aber das hier, dieses Mädchen und ihre extreme Reaktion, das war diesmal doch irgendwie etwas anderes, Besonderes - und auch Unangenehmes.
Fürsorglich nahm der neben ihr knieende Kellner Camaras Hand und begann beruhigend auf die immer noch wie irre schreiende junge Frau einzureden.
„Was zum Teufel...?“- Die junge Frau beruhigte sich zunächst kaum, aber irgendwie hatte Bennybub wohl doch etwas an sich, was sie ganz allmählich, wenn auch anfangs nur fast unmerklich, besänftigen konnte. Es dauerte mehrere Minuten, in denen jetzt auch die umsitzenden Gäste mit einiger Aufmerksamkeit das Geschehen interessiert verfolgten. Camaras Atem wurde immer ruhiger, und ihr zuvor unerträglich lautes Geschrei war denn auch irgendwann tatsächlich in ein, wenn auch ziemliches konvulsivisches, Zucken und Schluchzen übergegangen. Bennybub mit seinem Babygesicht und der sanften Stimme - falls es das denn war, was sie zur Ruhe kommen ließ - leisteten offenbar ganze Arbeit.
„Ganz ruhig, Mädchen“, sagte er noch leiser als bisher, ganz nah an Camaras Ohr. „Alles ist gut...“
„Alles gut???“ Camara zuckte zusammen und richtete sich noch ein Stück weit mehr auf. Mit einem Ruck saß sie auf dem Boden, die Beine verschränkt. „Alles gut? Echt jetzt?" Sie funkelte ihn an, am ganzen Leibe zitternd. "Was ist das denn hier, zum Teufel?" Ihre Arme griffen schlenkernd in den Raum um sie herum hinein. "Eine gottverdammte Geisterbahn oder was?" Sie sah sich kurz und unsicher um, wobei sie freilich ihren Irrtum schnell erkannte. Nein, das hier war offenbar ein Café, wenn auch ein etwas ungwöhnliches. Ihre Erkenntnis hinderte sie nicht daran, weiter aufzubrausen. Im Gegenteil, sie wurde immer ungehaltener.
"Und wo, verflucht noch mal, ist Jenny? Sie saß doch gerade eben noch neben mir im Auto... Und wie komm ich überhaupt hierher? Und ..... wieso blute ich wie eine Sau?"
Bei ihren letzten Worten schaute Camara entsetzt an sich herunter. Der anfangs eher kleine rötliche Fleck auf ihrem weißen Shirt hatte sich inzwischen tiefrot auf dem ganzen Hemd ausgebreitet. Ebenso glich die Stelle auf dem Boden, auf der sie bis dahin gelegen hatte, mittlerweile eher eine roten Pfütze...
„Das sind viele Fragen auf einmal“, stellte Bennybub fest und kratzte sich, anscheinend etwas ratlos, hinterm rechten Ohr – oder besser gesagt an der Stelle, wo es einmal gewesen war und jetzt eine große, nach rohem Steak aussehende Wunde klaffte. „Sagen wirs mal so...“ und er hielt die rechte Hand Camaras in diesem Moment noch ein bisschen fester in seiner weichen Linken. Was jetzt kam, fiel ihm offensichtlich nicht leicht. „Kindchen, pass auf. Es ist nämlich so...du bist tot...“
Die beiden leichenblassen Alten brachen an ihrem Tisch in gackerndes Gelächter aus. "Ich wette, die versteht gar nix", lachte der eine, Hagerere der beiden, mit kreischend-hoher Fistelstimme, und sein neben ihm sitzender Kumpel prustete mit einem dröhnenden, aber nicht minder unangenehmen Bass los: "Ich habs auch erst beim dritten Mal mitgekriegt - aber die da ist ja noch ein bissel jünger als ich! Die hätts doch eigentlich viel schneller..." - "Und wenn die jetzt auch noch wüsste, was nun alles auf sie zukommt...ohaaaaaa, hehehe", fiel der erste wiederum ein. Sie lachten so laut und derb auf, dass die dicken, weißen Kanülen an ihren Unterarmen mehrmals schmatzend auf die Tischplatte knallten. Die Beiden kriegten sich gar nicht mehr ein.
Die Familie ein paar Meter daneben blieb dagegen weiterhin absolut stumm. Ihre Mitglieder in ihren schmutzigen, zerrissenen Kleidern sahen betreten vor sich auf ihre inzwischen leeren Teller. Ihnen schienen besonders die letzten Worte des betagten Duos Angst gemacht zu haben...
„Hättest du ihr das nicht etwas schonender beibringen können?“, tadelte Jana ihren bubihaften Kollegen (daher schließlich auch sein Name), und räumte das schmutzige Geschirr des nun ziemlich gequält dreinblickenden Quartetts weg. Jana hatte wie zuvor mit Thomas auch mit der Familie Mitleid, wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen. Aber aus Erfahrung wusste sie, dass da nun jeder selbst durchmusste. Mitleid haben, Hilfe anbieten, Trost spenden, das half hier fast nie - von Ausnahmen wie gerade eben bei Camara mal abgesehen.
Wer bei ihnen hier angekommen war, hatte zwar schon einiges hinter sich, musste sich seinen Ängsten und seinem weiteren Schicksal aber jeder für sich ganz individuell stellen. Manche wie jene beiden alten Krankenhaus-Patienten versuchten es dabei mit einer speziellen Art von Humor, andere waren resigniert und voller Angst wie diese Familie hier, die in diesem Moment wohl an ihr eigenes Unfall-Schicksal (und das, was jetzt noch kommen sollte) erinnert worden war... Allen gemeinsam war, dass sie zuerst einmal gar nichts richtig mitbekamen. Danach kam meistens irgendwann die Erkenntnis, nach und nach erfuhr man die übrigen Informationen und zum Schluss gabs das lange Warten - oder das Abhauen (aber das ist eine andere Geschichte).
Jeder macht und erlebt das Ganze aber auf seine Art, jeder kriegt es anders gebacken, reagiert dann auch ganz unterschiedlich. Nur das Prozedere hier am Ort, das ist im Prinzip immer gleich: Infos häppchenweise mitgeteilt bekommen, warten, zu flüchten versuchen, essen und trinken (ja, auch das musste man merkwürdigerweise in diesem Zustand und an diesem Ort, aber auch das ist eine andere Geschichte), warten und dumme Bemerkungen machen, warten und Gäste bedienen (jedenfalls taten Letzteres einige von den Leuten hier, und zwar so lange, bis sie - aber das ist auch so eine.....na, man weiß schon...), und dann warten und warten dann wieder warten. Irgendwann geht "es" dann weiter. Aber für alle ist alles letztlich ein Soloprojekt, selbst für eine Familie, auch, wenn man mit Freunden hier ist, selbst bei großen Katastrophen mit Dutzenden von Todesopfern. Beim Sterben ist jeder allein...
„Ach, was solls", erwiderte Bennybub endlich auf Janas leichten Vorwurf und schlurfte wieder gemächlich hinter seinen Tresen. "Sie hätte es ja doch irgendwann erfahren. Dann besser gleich. Und jetzt hat ja auch wenigstens diese irre Schreierei aufgehört“. Fast schon etwas stolz starrte er bei seinen Worten auf die ohnmächtig zusammengesunkene Camara schräg vor ihm. "Wenn ich selbst mal von hier wegkomme, dann werde ich mich garantiert nicht so anstellen wie sie hier", und reckte sein Doppelkinn erklärend in die Richtung Camaras. Jana hatte für diese Bemerkung nur ein augenzwinkernd-verächtliches Schnauben übrig. Sie wusste noch allzu gut, wie sich Bennybub einst hier bei seiner Ankunft aufgeführt hatte. Dagegen war das Verhalten Camaras fast schon harmlos. Warum sollte es später, wenn "es" noch viel unangenehmer weitergeht in die finale Region, warum sollte da ausgerechnet der zarte Bennybub .....
Weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht. Draußen vor der Tür des "Soul Cafés" hatte sie ein lautes Wimmern gehört, das jetzt rasch näherkam und in ein langgezogenes Schreien überging....