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Soukup
Soukup glotzt „Explosiv - Das Magazin“. Vor ein paar Stunden ist ein LKW in der Fußgängerzone über Fußgänger gerollt. Über hundert Verletzte, elf Tote, bis jetzt. Der IS bekennt sich zu dem Anschlag. Handyvideos zeigen die Leichen und Verletzten, deren Gesichter unkenntlich gemacht wurden. Die brünette Moderatorin kündigt weitere brisante News zum Terroranschlag an. Dann ist Werbung.
Die Brünette ist ein Grund für Soukup „Explosiv - Das Magazin“ zu glotzen. Soukup steht auf Brünette. Hilda, seine Frau, war früher auch brünett gewesen. Früher, früher war da auch Liebe gewesen, als Soukup dreiundsechzig, achtzehn Jahre alt, von Polen nach Deutschland zog. Ohne Schulabschluss, aber mit Charisma und Selbstironie hatte er in der Gastronomie Karriere gemacht, war vom Kellner zum stellvertretenden Leiter eines Catering-Service aufgestiegen; die Polenwitze entpuppten sich dabei als gesellschaftlicher Türöffner, er musste nur mitlachen. Hilda war sofort in Soukup verschossen gewesen, diesen großen, schönen Mann, der so gut mit Menschen konnte; und er war auch ein bisschen in Hilda verliebt gewesen. Es folgte die Heirat, die Einbürgerung, ein Sohn, Alex.
Soukup greift zur Urinflasche, drückt den Schwanz rein, pisst, und stellt sie zurück auf den Tisch. Dann nimmt er einen Fetzen Klopapier, wischt sich die Penisspitze ab, formt ein Bällchen, zielt, wirft, verfehlt den Mülleimer. Sein Sohn Alex sagt, er sei ein Messi, eine Drecksau. Sein Sohn Alex, der Soukup das Auto wegnahm, Soukup die Kreditkarten wegnahm, weil er nicht mit Geld umgehen könne. Sein Sohn Alex, sein Bevollmächtigter, sein Betreuer, sein Gefängniswärter.
Zweitausendeins wurde Soukup arbeitslos, da war er sechsundfünfzig und zu der allabendlichen Flasche Rotwein kam Gin dazu. Die Ersparnisse reichten nicht, um sich totzusaufen, und Soukup musste Sozialhilfe beantragen. Das ausgefuchste Amt brachte Soukup in die Klapse, zum Entzug. Mit den Diagnosen Alkoholabusus und Verdacht auf schizophrene Psychose kam er wieder raus. Er begann im Park spazieren zu gehen, auf Parkbänken zu sitzen und den Vögeln zuzuhören. Soukup mochte Tiere, keine Haustiere, Tiere, die in der freien Natur lebten, Enten, Spatzen, Amseln, Raben, Schwäne - Vögel vor allem. Ein Arzt vom Amt attestierte Soukup dann eine schwere Depression. Er erhielt Invalidenrente und begann wieder zu trinken. Eine Flasche Rotwein am Abend, zwei, drei, vier, fünf Gläser Gin, Soukup lebte so dahin.
Soukup legt die Beine auf den Hocker. Die vom Pflegedienst sagen, er solle die Beine so oft wie möglich hochlagern, das sei gut für den Heilungsprozess. Soukup glaubt ihnen nicht, aber manchmal werden die Schmerzen weniger dadurch. Er betrachtet die dicken Verbände an seinen Beinen. Chronisch venöse Insuffizienz, Ulcus cruris, hatte Soukup in seiner Akte gelesen, der Akte des Pflegedienstes. Im Pflegebericht stand, er würde keine Compliance zeigen und täte sich schwer damit Hilfe anzunehmen. Seine Beine waren offen von der Wade bis vor zum Schienbein, aufgeplatzt, entzündet, wegen dem ganzen Wasser, den Ödemen.
Seine verdammten Beine ...
Vor einem Jahr hatte er das letzte Mal versucht, die vierzig Treppenstufen hinunterzusteigen, um sich im Supermarkt Rotwein und Gin zu kaufen; aber schon nach den ersten zehn Stufen war der Schmerz in seinen Beinen unerträglich geworden. Und Hilda, seine Hilda, kaufte ihm keinen Rotwein, keinen Gin. Alles was sie ihm mitbrachte war Schokolade, Chips und Zitronenlimo. Doch wenn er mit ihr schimpfte, begann der Köter zu knurren und zu bellen.
Der Köter hasste Soukup, und Soukup hasste den Köter. Diese englische Bulldogge, den hässlichen Hund. Soukup war sich sicher, dass Hilda den Köter mehr liebte als ihn. Vier Stunden war sie am Vormittag mit ihm Gassi, kam mittags nur heim, um für Soukup das Mittagessen zu kochen, um dann wieder für fünf Stunden mit dem Köter zu verschwinden. Der Köter schlief sogar bei seiner Frau im Bett, und er musste auf der Couch schlafen, als einzige Gesellschaft den Fernseher.
Schön, Soukup musste nicht, er schlief freiwillig auf der Couch, weil er die Gegenwart seiner Frau nicht mehr ertrug, und die Vorstellung, neben ihr in einem Bett zu schlafen nur noch Ekel in ihm hervorrief. Außerdem war die Gesellschaft des Fernsehers definitiv besser als die seiner Frau. Seiner Hilda, seiner Verrückten, der manisch-depressiven, die sogar mehr Pillen schlucken musste als er.
Bis vor zwei Jahren nahm Soukup fünfzehn Pillen über den Tag verteilt. Jetzt war er runter auf elf, die alle von der Pflegeversicherung bezahlt wurden. Sein Sohn Alex, sein Bevollmächtigter, hatte nämlich nachgefragt, warum die anderen vier Pillen nicht von der Pflegeversicherung bezahlt wurden, und es kam raus, dass es sich dabei um Pillen handelte, deren therapeutische Wirksamkeit nicht hundertprozentig erwiesen war, die aber höchstwahrscheinlich der Entstehung einer Demenz entgegenwirkten.
Sein Sohn Alex fand, Soukup brauchte keine fadenscheinige Hoffnung auf Demenzprävention, sparte das Geld lieber und strich ihm auch die Vitaminpräparate. Setz dich lieber mal raus an die Sonne, sagte er, sein Bevollmächtigter Alex, da kriegst du auch dein Vitamin D. Soukup wollte aber nicht raus auf den Balkon, überhaupt war der besetzt von den Pflanzen seiner Frau, und die Aussicht auf ein Gespräch mit den Nachbarn, den ständig kichernden Althippies auf dem Balkon nebenan, vertrieb ihm jegliche Lust auf Vitamin D.
„Du Idiotin“, sagt Soukup zu der Brünetten vom Pflegedienst, die den Verband um seine Beine wickelt. „Das ist zu eng. Du Idiotin.“
„Es muss eng sein, Herr Soukup“, sagt die Brünette professionell. „Sonst bringt der Verband nichts.“
„Du bist eine Idiotin“, sagt Soukup, und setzt mit ein paar polnischen Schimpfwörtern nach. Die Brünette springt auf, stemmt die Hände in die Hüften. „Ich lass mich von Ihnen nicht beleidigen, Herr Soukup. Von Ihnen nicht!“
„Ich sag nur, was ich fühle.“
„Sie beleidigen mich, Herr Soukup.“
„Ich sag nur, was ich fühle.“
„Ist mir egal, was Sie fühlen.“
Soukup schweigt, die Brünette schweigt, und nach einer Weile Schweigen kniet sie sich wieder hin und wickelt den Verband weiter, wickelt viel zu eng, aber Soukup schweigt. Er weiß, der Pflegedienst kostet seinen Sohn eine Menge Geld, und irgendwie ist er auch froh, dass er kommt. Danach sieht er auf die Uhr, zückt den Kugelschreiber, schreibt auf einen Notizblock: Zwanzig Minuten Verbandswechsel. Von Melissa Karajkovic. Pflegedienst ist Teil des Systems! Er unterstreicht Systems, und überfliegt kurz, was an diesem Tag bis jetzt passiert ist.
7:04 Uhr: Stuhlgang. Tabletten genommen. Frühstück ohne Eier. (Hilda hat versprochen, heute welche kaufen zu gehen.)
8:02 Uhr: Hilda ist mit dem Köter raus, sagt, ich soll auch mal an die Sonne. (Idiotin.)
8:45 Uhr: Urinflasche
10:30 Uhr: Urinflasche. (Die Vögel kommen heute nicht ans Fenster.)
11:11 Uhr: Zwanzig Minuten Verbandswechsel. Von Melissa Karajkovic. Pflegedienst ist Teil des Systems!
Soukup kam mit sechsundsechzig das zweite Mal in die Klapse. Diesmal hatte ihn sein Sohn eingewiesen. Sein Sohn wollte Hilda auch zur Scheidung überreden, brachte aber nicht mal die Abschiebung ins Altersheim durch. Hilda wurde überm Auge genäht und besuchte Soukup in der Klapse, als die Blutergüsse zurückgegangen waren.
Soukup bekam jetzt Seroquel und Haldol; zwischenzeitlich kam er ins Krankenhaus, weil sein Herz Zicken machte, und um Nierensteine entfernen zu lassen. Zurück in der Klapse, meinte die Ärztin irgendwann bei der Visite, er sei jetzt gut eingestellt mit den Medikamenten, solle aber Alkohol meiden.
Soukup nickte nicht.
Hilda hatte während seiner Abwesenheit einen alten Köter aus dem Tierheim aufgenommen. Der Köter haarte, stank nach Verwesung und Tod, und Hilda fütterte ihn in seinem Körbchen mit Milch und Wurst. „Eine Woche vor deiner Entlassung bin ich mit ihm noch spazieren gegangen“, sagte Hilda zu Soukup. „Doch seit drei, vier Tagen geht’s rapide bergab.“
Nach dem Köter kam der Köter, der jetzt noch lebt. Die englische Bulldogge, die ständig unter Apnoe litt. Der hässliche Hund. Soukup hasste den Köter auf Anhieb und sagte das Hilda auch. „Du hasst doch jeden“, sagte Hilda, und der Köter knurrte und bellte, als Soukup zu schreien begann. „Dich selbst auch“, sagte Hilda, und verschwand mit dem Köter die Treppe runter.
Soukup hatte Respekt vor dem Hund, Angst auch. Breites Maul, starker Kiefer, scharfe Zähne. Ein Wadenbeißer, dachte Soukup. Und wenn die Dogge gähnte, schien es Soukup, als würde der Köter ihm die Zunge rausstrecken.
Soukup konnte ganz passabel Englisch, angeeignet in seiner Tätigkeit als Partyorganisator, und glaubte, die englische Dogge in seiner Gegenwart sprechen zu hören. Hey, lazy old man. Listen! You are shit, old shit, sitting there on the couch, doing nothing but shit. I am the boss in the house now! I sleep with your wife in your bed. And she streichelt me, she streichelt me. She never streichelt you. She loves me more than you. You are just an old man, sitting on the couch, doing nothing but pissing and watching TV. You are almost dead, and I am the boss in the house now. You sleep on the couch, and I fuck your wife in your bed with my dog dick when you dream.
Soukup versuchte es mit Rattengift, aber der Köter überlebte.
„Der Tierarzt meint, es sei ein Wunder, dass Hugo überlebt hat“, sagte Hilda. „Und er wird wohl auch keine bleibenden Schäden davontragen und wieder ganz gesund werden.“
„Schade“, sagte Soukup.
„Stepan“, sagte seine Frau. „Der Tierarzt meint, Hugo sei vergiftet worden.“
„Vergiftet worden? Der Idiot hat sich sicher selbst vergiftet.“
„Tu nicht so, Stepan“, sagte seine Hilda und hielt die Packung Rattengift hoch. „Das hier hab ich unter deiner Couch gefunden.“
„Das gehört nicht mir“, sagte Soukup.
„Stepan, ich würde gerne ..."
„Und außerdem! Was schnüffelst du in meinen privaten Sachen rum, du Idiotin!“
Hilda verließ das Wohnzimmer, aber Soukup fühlte sich zu schwach, um ihr zu folgen und ihr Respekt beizubringen. Er fühlte sich sogar zu schwach zum Schreien.
Am nächsten Tag wies ihn der Arzt ins Krankenhaus ein. Soukup unternahm einen letzten erfolglosen Versuch und behauptete, vom Totenbett zurück im Leben, dass die Sepsis daher gekommen war, weil der Köter in der Nacht heimlich an seinen offenen Wunden geleckt hatte. Niemand glaubte ihm, und seine Hilda, seine verrückte Hilda, glaubte ihm schon gar nicht.
Der Köter wurde nicht eingeschläfert, aber Soukups Dosis Seroquel erhöht.
Kurz darauf kam Soukup für einen Monat ins Pflegeheim, von der Pflegeversicherung bezahlt, weil seine Ehefrau Hilda angeblich unter emotionaler Erschöpfung litt und Pause brauchte. Im Pflegeheim ging es Soukup gut. Er bekam drei Mahlzeiten am Tag, den Hintern abgewischt, und mittwochs und sonntags gab es am Nachmittag Kuchen zum Kaffee.
Er fasste Vertrauen zu einer brünetten Pflegerin mit großen Brüsten, die nicht Teil des Systems zu sein schien. Zumindest war sie die Einzige, die ihm den Kompressionsverband nicht zu eng wickelte, wenn er das verlangte.
In der Nacht, bevor er das Altersheim wieder verlassen sollte, suchte er das Gespräch.
„Morgen muss ich wieder heim.“
„Ich werd Sie vermissen, Herr Soukup“, log die Pflegerin.
„Sie verstehen nicht“, sagte Soukup. „Daheim … Daheim bin ich verloren.“
„Wieso?“
„Meine Frau liebt den Hund mehr als mich.“
„So?“
„Ach, Sie verstehen gar nichts.“
„Ich versteh schon, Herr Soukup“, sagte die Pflegerin „Aber es wird schon einen Grund haben, weshalb Ihre Frau den Hund mehr liebt als Sie.“
„Sie verstehen nicht“, sagte Soukup. „Sie Idiotin verstehen einfach gar nichts.“
Die Pflegerin zog die Kompressionsbinde straff an.
„Nicht so eng“, sagte Soukup.
„Das muss so sein“, sagte die Pflegerin und wickelte straff weiter. „Sonst bringt der Verband nichts.“
Soukup glotzt „Explosiv - Das Magazin“. Die Brünette berichtet mit ernster Miene und vorgestelltem nacktem Knie brisante News von dem Terroranschlag. Über hundert Verletzte, zwölf Tote, bis jetzt. Der IS beteuert, schwört, dass der Anschlag auf sein Konto geht. Der Rock der Brünetten hat die Farbe von Butterblumen und an der Seite einen Schlitz.
Nochmal jung sein, denkt Soukup.
Auf dem Balkongeländer landet ein Vogel. Als Soukup das Fenster öffnet, flattert der Spatz weg. Und die Brotkrumen in seiner Hosentasche zerbröseln zwischen alten Fingern.