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Sopor
Der Wechsel der Jahreszeiten war Hannah zuwider. Die Kälte schmerzte in den Knochen. Die Hände in den Taschen vergraben, zu Fäusten geballt. Der ständige Regen, das klebrige Laub im Stadtpark und matschige Erdklumpen an den Schuhen, die man bis nach Hause trägt. In der Abenddämmerung war alles noch ungemütlicher. Alles was sie sah, stärkte nur noch das Verlangen so schnell wie möglich wieder nach Hause zu gehen und bis zum Frühling dort zu bleiben.
Der Spielplatz verursachte ihr Kopfschmerzen. Quengelnde Kinder, die sich weigerten, nach Hause zu gehen, Eltern, die drohten sie hier zu lassen und mehrfach bis drei zählten. Sie war froh diesen Ort endlich verlassen zu können. Raus aus dem Park, über die Straße und runter in die U-Bahn.
Die Station quoll über – so wie fast jeden Tag.
Sie bahnte sich einen Weg durch Pendler, Senioren und Schulkinder - hustende Menschen in regennassen Jacken hin zu den Toiletten. Hastig verschloss sie die Kabinentür und setzte sich auf den Toilettendeckel. Da lag etwas, direkt zwischen ihren Füßen fand sie ein Messer, ganz aus Metall, mit den eingravierten Initialen - “M.B.“
Ein kurzer Blick, dann stieß sie es mit dem Fuß in die Nachbarkabine.
Für einen Moment entspannte sie sich und genoss die Ruhe in dem kalten Raum, bevor sie die Spritze aus der Tasche zog, zusammen mit dem in Plastikfolie eingewickelten Klumpen. Routiniert wanderte der Löffel erst über das Feuerzeug und dann unter die Watte. Sie löste den Gummischlauch von ihrem Arm und rutschte vom Klodeckel auf den Boden. Ihr Körper wurde taub und die Sinne stumpf.
Das Neonlicht schmerzte in ihren Augen, als sie wieder zu sich kam. Kraftlose Hände sammelten ihr Handwerkszeug, öffneten die Kabinentür und klammerten sich an eines der Waschbecken. Sie füllte ihren trockenen Mund mit Wasser und versuchte dabei ihrem Spiegelbild auszuweichen. Trotz leichter Kopfschmerzen und Schwindelgefühl wollte sie zurück auf den Bahnsteig, nach Hause und in ihr Bett. Sie setzte sich auf einen der freien Plätze des leeren Bahnsteigs und wartete. Eine Stunde verging in der ihr Kopf klarer wurde und ihr erstmals auffiel dass die Station völlig verlassen war. Kein Mensch, kein Zug, keine Durchsagen. Der helle Ort wurde wirkte unnatürlich groß. Eine weitere Stunde verging, ohne Zug oder das etwas passierte. Hannah hatte genug, sie verließ ihren Platz am Bahnsteig und ging nach oben.
Als sie sich dem oberen Treppenabsatz näherte und den Nachthimmel schon sehen konnte, hörte sie ein Wimmern. Sie stoppte noch auf der Treppe und sah, durch das Geländer zur Straße, eine Frau. Auf dem Boden sitzend, vor der offenen Fahrertür eines Autos, weinte sie in ihre Hände. Nicht weit von der Frau zeichnete der klare Vollmond den Schatten einer Straßenlaterne, der sich ausbeulte. Zuerst, nur eine kleine Beule. Dann wölbte sich das Gebilde und blähte sich auf zu einer Übermenschen großen Blase. Getragen von vier kurzen Stummelfüßen bewegte sich die transparente Gestallt auf die Frau zu und stoppte unmittelbar vor ihr.
Hannah erstarrte.
In der Kugel begann sich ein kleiner Spalt zu öffnen und wuchs zu einem mit unzähligen Zähnen bewährten Maul. Die Frau auf dem Boden schien es nicht zu sehen, oder nicht sehen zu wollen. Langsam senkte sich das Maul über die Frau und die Kugel schloss sich wieder. Die Farbe blätterte von dem Geländer als Hannah ihre Hände darum schloss und das Wesen wieder im Boden versank.
Verstört löste sie sich von der Szene und stolperte die Treppe runter, zurück in die U-Bahn. Minutenlang ruhte ihre Hand auf dem Geländer, Fingernägel knackten zwischen ihren Zähnen, die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf. Kalter Wind zog durch ihren Nacken und drückte sie tiefer hinein, in den verlassenen Untergrund. Zaghaft löste sie sich von dem Geländer. Schritt für Schritt tastete sie sich den Gang hinunter.
Hannah stoppte. Der Herzschlag in ihrer Brust schmerzte. Ihr Kopf dröhnte.
Mit trockener Kehle öffnete sie ihren Mund und versuchte ein Wort über die Lippen zu bekommen, ein magisches Wort, dass diese Situation in Wohlgefallen auflösen würde, dass dieses Missverständnis von Fakt und Fiktion klären würde - aber sie sagte nichts.
Tränen füllten ihre Augen als sie es sah.
Eine dünne Gestallt, die sich unter der flachen Decke krümmte. Aus der Seite des ausgebeulten Körpers ragte ein menschliches Bein, dass unkontrolliert zuckend, immer wieder gegen die Toilettentür trat. Der obere Teil des Körpers drehte sich in ihre Richtung. Es war nichts zu erkenne, das ein Gesicht hätte sein können, weder Augen, noch Ohren oder eine Nase, nichts dass sie hätte sehen, hören oder wittern können. Und trotzdem fühlte sie die Blicke an ihr haften, als würde es sie ansehen und wüsste dass sie da ist. Das Wesen stieß sich mit beiden Armen vom Boden ab, versuchte sich zu voller Größe aufzurichten und stieß an die Decke. Hannah schreckte zurück, zögerte eine Sekunde und rannte los. Ohne zurückzublicken stürmte sie aus der U-Bahn, die Treppe hinauf, weg von dem Ort an dem die Frau verschwand, weg von dem Park, weg von dem spöttischen Mond, der wie ein nimmermüdes Auge auf sie herab blickte. Sie rannte ohne Ziel, ohne zu wissen wohin, solange bis ihre Muskeln zitterten und der Magen rebellierte.
Hannah ging zu Boden.
Zwischen zwei Häusern brach sie zusammen und spuckte unter Krämpfen schaumige Magensäure in die Gasse.
Erschöpft kauerte sich an die Wand. Während ihre Gedanken nachließen und der Schlaf sie langsam übermannte, strich sie unbewusst über die Einstichstelle an ihrem linken Arm. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in der Finsternis zwischen zwei Gebäuden, glänzte ein Augenpaar aus Perlen im Mondlicht. Eine schwarze Katze trat auf die Straße und fixierte sie mit sanftem Blick.
Eine innere Stimme hielt sie wach, flüsterte ihr zu, rief sie zu sich, in Sicherheit. Aber sie konnte nicht mehr laufen, sie wollte keine Sicherheit, nur Schlaf.
Hannah war müde.
Etwas griff nach ihr, packte sie bei ihrem Bewusstsein und riss sie aus ihrer Trance. Sie öffnete die Augen und sah eine Frau die mit festem griff an ihrer Jacke zog.
Die Frau wiederholte die Worte aus Hannahs Gedanken. Hannah stand auf und folgte der Frau durch eine Tür.
In dem kleinen Hinterzimmer einer Poststelle kauerte eine Gruppe von Menschen. Keiner von ihnen sagte ein Wort.
Hannah setzte sich auf den Boden. Die Knie an die Brust gedrückt und die Arme verschränkt, sah sie sich die Handvoll Menschen an. Unbekannte Gesichter die Blickkontakt vermieden. Ängstlich. Müde. Keiner zeigte einen Funken Hoffnung – sie alle hatten aufgegeben.
Hannah zitterte als sie von der fremden Frau geweckt wurde, den der Morgen war kalt und dunkel. Der Mond, der über allem hing, hatte sich auch nach Stunden keinen Zentimeter bewegt. Noch etwas desorientiert wurde Hannah an die Tür zur Straße, zu den Anderen geführt. Ein großer und kräftiger Mann, mit einer Art Werkzeug in der Hand, hatte die Tür aufgehebelt und streckte jetzt den Kopf hindurch. Einen Augenblick später hob der große Kerl eine Hand, winkte und ging nach draußen.
Der Rest folgte ihm.
Zwischen den Menschen fühlte sich Hannah zumindest etwas sicher und konnte sich das erste mal richtig umsehen. Vor der Poststelle schien alles frei zu sein, frei von Menschen und jeglichen Geräuschen. Die Straßenlaternen waren im Mondlicht fast überflüssig und die Schäden in der Stadt wirkten nicht besonders groß.
Die Scherben eines zerbrochenen Fensters lagen auf der Straße, nahe einer Kreuzung neigte sich eine Laterne zur hälfte hinab und in der nähe hatten sich zwei Autos ineinander verkeilt.
Und wieder sagte keiner auch nur ein Wort. Dicht an der Wand und in einer Reihe bewegten sie sich daran vorbei. Alle sahen den leeren Kindersitz in einem der Autos.
Der Rest begann mit einem leisen Knirschen, ein kaum merkliches Knacken, das Hannah hörte. Daraus wurden quietschende Reifen und das ächzen der Karosserie. Zwischen den beiden Fahrzeugen zwängte es sich empor und verdrängte die Autos. Der Wagen stoppte an der Bordsteinkante, türmte sich auf und stürzte zwischen die Gruppe auf den Gehweg.
Hannah war abgeschnitten.
Der Schatten bäumte sich über das umgestürzte Fahrzeug und drückte es mit all seiner ungreifbaren Masse nieder. Das mit Zähnen bewährte Maul am Ende eines langen Halses, schnappte in die Menge jenseits des Wagens. Der große Kerl griff nach ihr und zerrte sie von dem Wagen bevor sein Arm in dem Schatten verschwand.
Für einen Moment schloss Hannah ihre Auge und hörte ein Weinen - tief aus ihrem Inneren. Ein Blitz zuckte durch ihr Rückenmark und sie rannte los, rannte durch die Finsternis auf der suche nach halt. Sie streckte ihre Hand in das Nichts und öffnete die Augen.
Alles war still um sie herum.
Hannah starrte auf die Worte vor ihr: “Morpheus’ Babylon“
Krampfhaft umklammerte ihre nassen Hände den schweren Messinggriff einer Glastür. Die Worte, die sie zuvor gelesen hatte, prangten, jetzt spiegelverkehrt, vor ihr. Erschrocken drehte sie sich um und fand sich im Foyer eines Hotels wieder.
Es war schlicht und wirkte trotzdem elegant. Der rote Teppichboden, die gemütlichen Lehnsessel und der aufwendig verzierte Stuck konnten nicht davon ablenken, dass der Innenraum zu groß für das Gebäude war – zumindest fühlte es sich so an.
Die massive Rezeption aus dunklem Holz war unbesetzt. Sie lies ihre Hand kurz über die Klingel schweben und genoss das Gefühl ein wichtiger Gast zu sein, bevor sie sie wieder zurückzog. Ohne großes Zögern nahm Hannah den Schlüssel zu Zimmer 217 von dem Schlüsselbrett und suchte die Aufzüge. Das Geräusch, wenn ein Fahrstuhl anhält und sich die Türen öffnen, kannte sie nur aus Filmen. Die Kabine brachte sie nach oben und die Türen im 2. Stock öffneten sich. Sie lauschte einen Moment, wartete und beugte sich dann in den Flur. Er gefiel ihr und passte zum Rest des Hotels.
Das Zimmer war schnell gefunden und der Schlüssel passte. Das Licht war grell und der Raum kleiner als erwartet. Auf dem Tisch stand noch das Frühstück der letzten Bewohner. Brot und Brötchen mit den verschiedensten Beilagen. Eine Kanne mit kaltem Kaffee und eine zweite mit Tee nebst Orangensaft. Hannah nahm sich eines der Messer mit den eingravierten Initialen des Hotels und ein Brötchen - das wieder erwarten noch nicht hart war. Sie steckte das Messer in ihre Jacke und belegte die beiden Hälften großzügig mit frischem Schinken und Käse. Der Geschmack zwang sie zu einem Lächeln. Sie kaute auf zwei herzhafte Bissen als ihr übel wurde. Ein widerlicher Gestank aus Urin und Erbrochenem stieg in ihre Nase. Sie spuckte das Essen auf den Tisch. Hannah kannte diesen Geruch, der vom Flur herzukommen schien. Aber sie verdrängte es, sie verdrängte alles was damit zu tun hatte, überwand das widerliche Gefühl, dass sich bis in ihren Magen ausgebreitet hatte und zwang sich zu noch einem Bissen. Ihre Kiefer pressten sich zusammen und ihre Kehle schnürte sich zu – sie drohte zu ersticken.
Hannah spuckte auf einen dreckigen Kachelboden. Ein kalter Schauer ließ sie erzittern. Ihre Haut wurde klamm als sie die Gleiße entlang in den Tunnel blickte.
Der Tunnel starrte sie an. Tief, so unendlich tief. Hannah rannte bevor sie wusste was geschah – sie fühlte dass es nach ihr griff. Mit ihrem ganzen Körpergewicht warf sie sich gegen die Toilettentür und flüchtete in eine der Kabinen, legte ihre Hände auf den Mund und stemmte die Beine gegen die Tür. Für eine Sekunde war alles still, dann zuckte sie zusammen als das Monster die Tür zur Toilette einrannte. Langsam begann es den Raum zu fluten und für sich einzunehmen. Spiegel platzten, Waschbecken gingen zu Boden und zersprangen. Mit zitternder Hand griff Hannah in ihrer Jackentasche nach dem Messer und leerte dabei den gesamten Inhalt auf den Boden. Sie stockte. Stille. In Panik tastete sie unter sich nach dem Messer. Der Schatten presste sich gegen die Kabinentür und unzählige Arme drückten sich durch die Spalten. Hannah schob Spritze und Löffel beiseite bis sie das Messer zu fassen bekam. Verzweifelt streckte sie es dem Wesen entgegen um es abzuwehren, doch ein Netz aus transparenten Armen bedeckte bereits ihre Beine. Sie stach in sie hinein, aber es passierte nichts. Sie zerrte an den Armen, fuhr mit dem Messer hindurch und strampelte so sehr sie konnte, aber es half alles nichts. Schließlich, als die Tür unter dem massiven Druck der schattenhaften Bestie drohte nachzugeben, richtete Hannah das Messer unter Tränen gegen ihre Kehle. In diesem Augenblick konnte sie das Meer rauschen hören. Sie schmeckte die salzige Seeluft und fühlte den Sand auf ihrem Körper.
Copyright: Marcus Brasse, März 2017