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Sophie
Ich bin auf der Durchreise. Den Abend verbringe ich in einem Lokal names Real Life, laut Reiseführer ein „gemütlicher Ort, an dem sich Studenten und Künstler zum Plaudern treffen“. Ich trinke ein kleines Bier an der Bar und schaue in die Runde. Es ist nicht allzu voll hier und ich fühle mich durchaus wohl in dieser Gesellschaft. Die paar Leute scheinen sich alle gegenseitig zu kennen und man unterhält sich ruhig und wohlwollend miteinander. Dieser Ort hat die Bezeichnung „gemütlicher Szenetreff“ einigermassen verdient, soll so sein. Die Wände sind in dunklem orange gehalten, die Sessel und Tische sind aus dunkelbraunem Holz und die Bar aus dunklem Metall, insgesamt wirkt trotzdem alles hell und freundlich. Aus den Lautsprechern tönt „Let it be“ von den Beatles. Warum nicht wieder mal Beatles? Ich entspanne mich. Es verspricht ein vielleicht langweiliger, aber gemütlicher Tagesausklang zu werden. Morgen bin ich ohnehin wieder weg aus dieser etwas provinziellen Stadt. Was solls.
Plötzlich kommt sie ins Lokal. Zartes Gesicht, schlanke Gestalt, langes schwarzes Haar – diese Frau ist hübsch und ich steh in ihrem Bann von dem ersten Moment an in dem ich sie sehe. In ihrem Blick liegt etwas suchendes, entrücktes - anmutig ihre Bewegungen. Sie setzt sich alleine an einen Tisch, kramt ein Buch aus ihrer Tasche, liest. Noch nie in meinem Leben habe ich auf diese Weise jemanden lesen gesehen. Sie verfolgt den Text mit einer Hingabe, sie sieht öfters auf, über den Text sinnierend mit verklärtem Ausdruck. Was um Himmels Willen liest diese Frau? In meinem Männerhirn beginnt die Phantasie wilde Blüten zu treiben. Eine Liebesgeschichte? Mir wird heiß. Ein kräftiger Schluck Bier. Der Kellner bringt ihr Kaffee, scheinbar ist sie regelmäßig hier. Ohne den Kellner zu beachten greift sie nach der Tasse, nimmt einen Schluck, immer weiterlesend. Plötzlich legt sie das Buch zur Seite, sieht unsicher in den Raum als ob sie etwas suchen würde. Sucht sie Kontakt? Ich würde ihr gerne zeigen, dass die Realität mehr zu bieten hat, als sämtliche Romangeschichten zusammen.
„Hallo, du bist wohl zum ersten mal hier.“ Ich schrecke auf. Neben mir steht ein etwa 30 jähriger Typ und grinst mich an. „Ja. Toller Schuppen.“ Aus den Gedanken gerissen fällt mir keine bessere Antwort ein. Aber sie dürfte ohnehin ausreichen. „Hast du gestern das Match zwischen ..?“ „Ich interessiere mich nicht für Fussball.“ Hoffentlich habe ich ihn jetzt beleidigt, aber zu einem Fussballgespräch habe ich jetzt wirklich keine Lust. „Kennst du diese Frau dort alleine an dem Tisch?“ Ich bin möglicherweise taktisch unklug, aber es kennt mich ohnehin niemand hier. „Du meinst Sophie. Ja. Ich kenne sie ...“, er hält inne, ist nervös. Sophie. Sie ist wieder völlig in ihren Text versunken, konzentriert den Buchstaben folgend. „Ist sie immer alleine hier?“ Manchmal bin ich wirklich unmöglich, meistens hab ich Erfolg. Mein Gesprächspartner ist unangenehm berührt. Er kratzt sich am Hinterkopf und sein Gesichtsausdruck wirkt angespannt. „Naja. Also .. Weißt du Sophie .. Ich meine ..“ Was hat der Kerl? Ich werde ungeduldig. „Ist sie vielleicht ein Transvestit?“ Ich könnte mich für diese idiotische Bemerkung ohrfeigen. Versuch ich jetzt witzig zu sein, oder was? Diese Frau strahlt eine Gefühlstiefe und Leidenschaft aus, die mich fast um den Verstand bringt. Und aus meinem Mund kommt verbaler Schrott. Er scheint das nicht so zu sehen. Unglaublich erleichtert greift er dieses Thema auf. „Ich hatte mal einen Bekannten, der hat eine Megabraut kennengelernt. Angeblich mit den längsten Beinen ..“ Unter anderen Umständen könnte mich das vielleicht amüsieren, aber im Moment sind diese „im Bett hat sich herausgestellt, dass ..“ Geschichten das letzte was ich brauche. Die Unterhaltung verspricht nicht besser zu werden. Und dort sitzt sie, die Frau meiner Träume. Mir bleibt nur die Flucht nach vorne. „Tut mir leid. Ich statte mal einen Besuch ab.“ Ich lasse ich den armen Kerl hinter mir.
Und dann stehe ich plötzlich vor ihr. Sie sieht zu mir auf mit verschleiertem Blick. Ich werde schwach bei diesem hintergründigen, geheimnisvollen Augen. Was soll ich jetzt sagen? Was um Himmels willen soll ich jetzt sagen? „Ich weiss nicht was ich sagen soll.“ So ein doofer Satz ist mir noch nie im Leben in einer solchen Situation über die Lippen gekommen. Gewöhnlich bin ich ein cooler Typ, der weiss wie man mit Frauen umgeht. Was hat das zu bedeuten, dass in ihren grünen Augen jetzt ein noch drängenderer, fast flehentlicher Ausdruck liegt. Gefalle ich ihr? Bei diesem Gedanken wird mir fast schwindlig.
„Gibt es eine Grenze von Wissen und Nichtwissen, wo ich zwar weiss, dass ich etwas nicht weiss, aber auch weiss, dass ich das, was ich nicht weiss, nie wissen werde?“ bricht es aus ihr heraus. Würde sie diese Worte nicht mit einem verzweifelten Ernst an mich richten, wäre so eine Frage in einer solchen Situation wohl einer der größten Tiefschläge meines Lebens. Aber es scheint ihr tatsächlich ein Bedürfnis zu sein. Was ist mit dieser Frau? Ist sie wahnsinnig? Was hat das zu bedeuten? Was soll ich tun?
„Setz dich.“ Von der Nähe ist sie noch verwirrender, von einem unsichtbaren geheimnisvollen Schleier umgeben. „Kann von dem, was ich nicht weiss etwas erhofft werden?“ Sie dräng, ist ungeduldig. Ich möchte davonlaufen, kann nicht. Tiefste Verwirrung breitet sich in mir aus. Ihre Frage – was soll diese Frage? Ich schließe die Augen, denke. „Kann von dem, was ich nicht weiss etwas erhofft werden?“ Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Let it be, in einer Coverversion von Nick Cave, dringt an mein Ohr. Mein Zustand wird immer verzweifelter, Schweiss steht mir auf der Stirn. Ich kann nicht flüchten, schlage die Augen wieder auf. Sophie ist von einer überirdischen Schönheit. Eine engelsgleiche Ruhe geht von ihr aus. Sie hält mir ihr Buch vors Gesicht - Logik von Immanuel Kant - flüstert: „Was ist der Mensch?“.
Die Wände sind in einem hellen braun gehalten, die schwarzen Tische und Stühle sind ausgebleicht, die Bar ist milchig weiß, die Luft ist verraucht. Ein düsterer Ort. Die Stimmung im Lokal ist hektisch, nervös. Die Leute sind einander entfremdet. Nur Sophie strahlt, in ihrer Gelassenheit. Sie nimmt mich bei der Hand.
Auf einer rosa Wolke schweben Phil&Sophie aus dem Raum.