Sophie und ich - das war einmal wir
So viele E-Mails in meinem Postfach und doch habe ich seine sofort entdeckt. Marc.
Meine Hände beginnen zu zittern.
ich weiß genau, was der Grund dafür ist. Ich weiß es, aber ich möchte nicht daran denken.
Was soll das überhaupt? Dass er mir plötzlich schreibt? Er soll sich einfach verpissen und seine verdammten Gespenster mitnehmen. Entschlossen lösche ich seine Nachricht. Ungelesen. Danach fühle ich mich wieder richtig gut. Wenigstens eine Weile.
Aber es lässt mir keine Ruhe. Tagsüber verdränge ich es, nachts funktioniert das nicht mehr
Schlaflos liege ich im Bett und segle im Meer meiner Gedanken. Da ist sie, die Klippe die ich so lange umschifft habe. Sie kommt gefährlich nahe.
Ich springe auf. Verdammt. Nun sind sie wach, die Gespenster. Dank Marc. Nun kann ich ebenso gut lesen, was er will.
Während mein Rechner hochfährt, trommle ich mit meinen Fingern auf den Schreibtisch.
Ich finde seine E-Mail in den gelöschten Nachrichten. Soll ich wirklich? Tief durchatmen.
Ja. Ich beginne zu lesen, zuerst mit angehaltenem Atem dann, mit jeder Zeile, entspannter.
Leicht fliegen mir seine Worte entgegen. Er schreibt, wie es ihm geht. Von seinem Studium in den Staaten und dass er jetzt in Berlin lebt und als Architekt arbeitet. Wie sehr es ihm dort gefällt, in der Großstadt. Und wie sehr er unserer Kleinstadt manchmal vermisst. Ob ich immer noch dort wohne und ob wir uns auf einen Kaffee treffen wollen, wenn er bald in der Gegend ist.
***
„Er ist so süß“, schwärmt Sophie und lässt sich nach hinten in ihr Bett fallen. Sie drückt ihr Kopfkissen an sich und vergräbt ihr Gesicht darin.
Sie ist verliebt. So richtig. Schon seit Stunden schwärmt sie von Marc. Wie gut er aussieht. Wie toll er ist. Wie klug. Wie sportlich.
Ich weiß das alles selbst. Das und noch viele Dinge, die sie niemals wissen wird.
Ich könnte ihr sagen, wie sich seine Hand anfühlt – trocken, ganz rau und immer warm. Oder dass es da eine Stelle an seinem Bauch gibt, die ganz besonders kitzelig ist. Und dass an seinem Schneidezahn ein kleines Stück fehlt. So klein, dass es mit dem Auge nicht zu erkennen wohl aber mit der Zunge zu spüren ist.
Und nicht nur das weiß ich. Ich weiß vielmehr. Ich weiß, dass er seinen Vater nicht leiden kann und Angst vor ihm hat. Dass er davon träumt, irgendwann ins Ausland zu gehen. Dass er mich mitnehmen möchte und seine Augen leuchten, wenn er davon spricht.
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„Ich bin mir sicher“, sagt Sophie jetzt, „dass er auch in mich verliebt ist. Heute hat er mich so angeschaut. Ganz speziell, ich kann das gar nicht beschreiben.“
Ich weiß, dass das nicht stimmt. Natürlich nicht. Aber ich schweige.
***
Jemand rennt über den Pausenhof hinter mir her und als ich mich umdrehe, sehe ich Laura.
„Was ist eigentlich mit Sophie los?“, fragt sie mich atemlos. „Wie die aussieht!“
„Keine Ahnung“, sage ich.
„Du musst echt mal mit ihr reden!“ Laura sieht mich ernst an.
Ich merke, dass ich wütend werde. Weil ich nichts dafür kann. Weil ich nichts unternehmen kann. Weil mich andauernd irgendjemand darauf anspricht. Weil ich genauso ratlos bin wie sie alle.
„Warum isst sie denn nichts?“, bohrt sie weiter.
„Keine Ahnung“, sage ich nochmal.
„Kannst du nichts machen?“, fragt sie mich.
„Soll ich sie fesseln und ihr essen in den Mund stopfen?“, frage ich Laura.
„Nein, natürlich nicht. Weißt du nicht, was mit ihr los ist?“
„Nein.“
Es stimmt. Ich weiß es nicht.
Aber eines weiß ich: Ich habe es satt von allen danach gefragt zu werden. Von allen. Selbst die Lehrer fragen mich. Und ihre Eltern.
Ich habe es so satt. Ich mag nicht einmal mehr darüber nachdenken.
„Hast du jemals gefragt, warum sie das macht?“
„Was denkst du denn?“, fauche ich sie an.
Natürlich habe ich sie gefragt. Ganz oft. Immer wenn ich bestimmte Wörter in den Mund nehme, passiert etwas mit ihr. Essen ist so ein Wort. Abnehmen. Gewicht. Krank. Kalorien. Krank. Wenn ich eines dieser Wörter sage, dann hört sie mir nicht mehr zu. Jedes Wort perlt an ihr ab, rollt herunter und versickert in der Erde.
Inzwischen frage ich nicht mehr.
Laura läuft schweigend neben mir her.
„Sie sieht so hässlich aus. Ich ekle mich vor ihr“, platze ich plötzlich heraus.
Ich höre meine Worte und weiß nicht, warum ich sie gesagt habe. Aber es stimmt. Natürlich stimmt es. Trotzdem: Ich schäme mich. Was ist nur mit mir los?
Es geht doch um Sophie. Meine Sophie. Die Sophie, mit der ich mein ganzes Leben verbracht habe. Die Sophie, die all meine Geheimnisse kannte. Die Sophie, mit der ich Zungenküsse geübt habe. Meine Sophie. Meine beste Freundin.
Laura nickt. „Ich weiß was du meinst. Sie sieht schrecklich aus, wie ein KZ-Opfer.“
„Es ist so ekelhaft.“ Plötzlich kann ich nicht mehr aufhören zu reden. Wort für Wort sprudelt heraus. Je länger ich rede, desto mehr Details fallen mir ein. Ihre durchscheinende Haut. Der Schädel, der fast wie ein Totenkopf aussieht. Die spitzen Knochen. Der Haarausfall. Die brüchigen Fingernägel. Dass sie nie isst und wenn, dann nur ekliges Zeug wie rohen Fisch. Dass sie aus dem Mund stinkt.
Später schäme ich mich. Ich schäme mich so sehr, dass ich mich in mein Zimmer verkrieche. Obwohl die Sonne scheint. Obwohl Marc schwimmen gehen wollte. Aber ich habe das nicht verdient. Heute nicht.
Ich schäme mich so sehr, als hätte ich Sophie geschlagen.
Und es gibt noch viel mehr, für das ich mich schämen muss. Dafür, dass ich sie manchmal hasse. Dafür, dass ich ihr manchmal aus dem Weg gehe. Dafür, dass sie in Marc verliebt ist und ich mit ihm zusammen sind. Dafür, dass sie das nicht einmal weiß.
Dafür, dass mir das Mitleid verloren gegangen ist.
In meinem Inneren, da wo einst Sophie war, ist nur noch ein schwarzes, großes Loch. So sehr ich auch versuche sie wieder hineinzupressen. Es geht nicht.
Ich hole das Fotoalbum heraus, das Sophie mir vor zwei Jahren geschenkt hat. Damals, als die Welt noch in Ordnung war.
So viele Bilder von uns beiden. Wir zwei im Sandkasten. Mit Kirschohrringen. Am Baggersee. Im Fasching. Am Strand. Hundert Mal wir.
Manchmal wollen die Leute wissen, wann es losging.
Ich denke oft darüber nach, aber ich weiß es nicht. Letzten Sommer fing sie mit einer Diät an. Sie verlor viele Kilos und anfangs fanden wir das toll. Später trug sie bauchfreie Tops und ich fand es nicht mehr so toll, weil ich neidisch war. Und noch später kamen die Sorgen. Irgendwann kapierte ich, dass sie krank war. Richtig krank.
Und jetzt?
Ich suche sie noch oft, die Sophie von früher. Suche sie in ihrem Gesicht. In ihren Worten. In ihrem Lächeln. Suche sie in diesen doofen Fotos.
Aber sie ist weg.
Meine Sophie ist einem Mädchen gewichen, das nur noch über sich selbst spricht. Die an niemandem ein gutes Haar lässt. Die alle Leute fett findet. Wenn ich bei ihr war, dann ist die Welt so schlecht, als wäre sie mit schwarzem Pech überzogen.
***
Sophie ist in der Schule zusammengebrochen. Einfach so.
Jetzt ist sie in einer Klinik. Der Lehrer redet mit uns darüber und wir sitzen in einem Stuhlkreis. Wie im Kindergarten. Er erzählt irgendetwas über Essstörungen. Darüber, dass das wir alle ok sind. Dass kein Mensch perfekt ist.
Die Anderen sehen mich verstohlen an. Ich hasse es.
Der Lehrer schwafelt weiter. Dass auch Stars nicht perfekt sind. Dass die Fotos bearbeitet werden.
Nach dem Unterricht holt er mich zu sich, fragt mich wie es mir geht.
„Sie haben keine Ahnung“, sage ich zu ihm.
„Wie meinst du das?“
„Ich finde mich auch manchmal zu dick. Laura auch. Und trotzdem gehen wir nicht her und hungern uns zu Tode.“
„Und warum versucht Sophie das?“
„Was weiß ich? Sie findet sich nicht zu dick, sie hasst sich. Und ich weiß nicht warum.“
Ich bin fast froh, dass es so gekommen ist. Dass Sophie jetzt in dieser Klinik ist. Ich bin froh, weil ihr geholfen wird. Und irgendwo, ganz weit drinnen, bin ich froh, dass ich sie nicht sehen muss. Dass sie weg ist.
Erst jetzt spüre ich, dass ihre Anwesenheit wie ein riesiger Felsblock auf mir gelastet hat. Dass ich in ihrer Anwesenheit kaum atmen konnte.
***
„Ich weiß alles über dich und Marc“, schreibt sie. „Ich weiß, dass du ihn heimlich triffst. Ich weiß das alles und ich hasse dich abgrundtief dafür.“
Sonst steht nichts in ihrem Brief.
Ich zerknülle ihn, gehe nach draußen und verbrenne ihn. Aber er ist immer noch da. In meinem Kopf.
***
Sophie starb ein halbes Jahr später. Sie hat einfach nichts mehr gegessen. Ihre Organe haben versagt. Sie ist verhungert. Einfach verhungert. Mit voller Absicht.
Jetzt sitze ich vor dem Rechner und schlinge die Hände um mich. So wie damals, als ich angefangen habe, mich aufzulösen. Stück für Stück brach ich auseinander. Für alle anderen sah ich ganz aus, aber in meinem Inneren war nichts mehr, wo es hingehörte.
Ich verlor sie alle, nach und nach. All die vermeintlich guten Freunde. Marc. Und dann begriff ich, wie es Sophie ergangen war.
Irgendwann habe ich versucht, mich wieder zusammenzukleben. Und jetzt bin ich wieder da. Nicht wie vorher, aber immerhin. Und jetzt schreibt er. Jetzt schreibt er mir. Und wieder möchte ich mich auflösen.
***
Er strahlt, als er mich sieht und ich weiß sofort wieder, warum ich so in ihn verliebt war.
Wir umarmen uns und er hält mich sehr fest. Ein bisschen zu fest. Als wüsste er, dass ich mich damals beinahe aufgelöst habe.
„Sie hat alles gewusst“, platze ich plötzlich heraus. „Dass mit uns. Und sie war in mich verliebt.“
Er sieht mich verwirrt an.
„Sophie?“, fragt er mich.
Ich nicke.
Gleich, denke ich, wird er mich hassen. Er wird mich hassen. Und verurteilen. Weil es nicht recht war. Ich habe sie hintergangen. Ich habe Sophie hintergangen.
„Sie war krank“, sagt er. „Sie war so krank und wir haben das alle nicht richtig kapiert. Du erst recht nicht. Du warst da mittendrin.“
„Sie hasst mich“, sage ich.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Glaubst du nicht, dass sie es jetzt längst weiß.“
„Ich habe sie so geliebt. Nicht die kranke Sophie. Die alte. Das Mädchen von früher.“
„Ich weiß“, sagt Marc.
Eigentlich wollten wir Kaffee trinken, aber jetzt führt er mich nach draußen. Wir laufen stundenlang herum. Reden über alles. Über all das, was ich für Jahre verschlossen gehalten habe.
Irgendwann lachen wir über früher. Tauschen Erinnerungen aus. Reden darüber, was Sophie für ein toller Mensch war.
„Schau“, sage ich plötzlich, drehe mich um und hebe meine Haare hoch. Ich zeige ihm mein Tattoo.
Er kommt ganz nah heran, weil es so klein ist.
„Da steht Sophie“, sagt er und lächelt.
„Ja, das haben wir uns geschworen. Wir haben immer gesagt, dass wir uns gegenseitig die Namen tätowieren lassen, wenn wir erwachsen sind.“
„Und hier ist deiner“, sagt Marc und drückt meine Hand.