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Sophias Park
Es war ein Ort, wie man ihn häufig in den Städten findet, zwei Bänke, ein kleines Blumenbeet davor, getrennt von der Welt durch zwei Reihen Buschwerk und eine Hauswand. Platz, der übrig war, den keiner sonst brauchte.
Sophia saß oft hier. Es gab nie jemanden, der sie nach dem Grund gefragt hätte. Ihre Antwort wäre dann vermutlich gewesen: "Weil's auf dem Weg liegt".
Einmal in der Woche mußte sie ihre kleine Wohnung verlassen, weil ihr Lieblingsjoghurt in ihrem alten Kühlschrank wieder verdorben war, oder weil die Toastscheiben in der halbvollen Tüte Schimmel angesetzt hatten. Sie suchte dann eine Weile in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie, denn sie konnte sich nie merken, wieviel Bargeld sie noch hatte. War es zu wenig, dann würde ihr Weg noch etwas anstrengender werden - die Sparkasse lag nicht auf dem Weg.
Sophia wackelte dann üblicherweise erst ins Bad, um sich zurechtzumachen. Mit den Händen verschob sie ihr lange ergrautes, dünnes Haar. Sie trug es wie viele Frauen ihres Alters gelockt. Pusteblumen, wie manche Jüngeren spotteten. Vor ungefähr 10 Jahren hatte sie aufgehört, es zu färben. Das war, als Theos Leber den Kampf gegen den Alkohol aufgegeben hatte.
Sophia zupfte noch eine Weile an ihrer Bluse herum, bis sie sich bereit für den Ausgang fühlte. Sie entschied sich meist für die braunen Leinenschuhe, die ihren Füßen am wenigsten wehtaten. Sie hängte sich erst die Handtasche über die Schulter, bevor sie ihre schwarze Jacke überzog, denn sie fürchtete sich vor Dieben.
Sophia kaufte im Pennymarkt ein, der war ganz in der Nähe, nur fünf Minuten zu Fuß. Auf dem Rückweg bog sie dann meist, wenn das Wetter es erlaubte, in den kleinen Park ein, stellte ihre Plastiktüte auf den Boden neben ihre Bank, nahm ein Stofftaschentuch aus der Handtasche und wischte sorgfältig über das Holz der Sitzbank, ehe sie sich setzte.
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Sophia beugte sich zu ihrer Einkaufstüte herunter und raschelte eine Weile darin herum. Mit einem trockenen Brötchen in der Hand richtete sie sich wieder auf. Sie zeriss es in zwei Hälften, biss hinein und kaute in der Art sehr alter Menschen, mit fast nur senkrechten Bewegungen des Unterkiefers.
Sie wünschte sich, eine Taube käme hergeflogen, damit sie sie füttern könnte. Das mochte sie gern, schon damals mit Markus, als er noch ein Kind war. Sie gingen früher oft zum Ententeich, mit einer ganzen Tüte voll altem Brot, man stelle sich das vor! Stets lockten sie einen riesigen Schwarm Vögel an, eine wogende, schnatternde Menge, die jeder Bewegung ihrer Arme und Hände auf der Stelle folgte.
Markus passte immer sehr genau auf, dass keiner zu kurz kam. Sah er, dass eine Ente zu langsam war und nichts abbekam, dann warf er ihr seine Brotkrumen so nahe wie möglich zu, bis auch sie ihren Anteil an der Beute hatte.
Heute durfte man die Vögel eigentlich nicht mehr füttern, das wusste Sophia. Ausserdem gab es den Ententeich schon lange nicht mehr. Und Markus war ja auch nicht mehr da.
Er war ein stiller, schüchterner Junge gewesen, daran änderte sich auch nichts, als er älter wurde. Sophias Mann, Theo, fragte sie einmal, ob er vielleicht schwul wäre, weil er nie ein Mädchen mit nach Hause brachte. Sophia glaubte das nicht, und wäre es so gewesen: Himmel, es gab Schlimmeres, was einem Jungen passieren konnte.
Manchmal brachte er einen Schulfreund mit. Sie hörten dann Musik im Zimmer, die Sophia nicht mochte, und redeten vermutlich über Dinge, die Jungs interessierten und die Eltern nicht hören durften. Meist kamen die Freunde aber nur zwei- oder dreimal, dann nicht mehr.
Die meiste Zeit über las er Bücher. Mindestens zweimal pro Woche marschierte er zur Stadtbücherei und kam schwerbeladen zurück: Zukunftsromane oft, manchmal auch Gruselgeschichten, und gelegentlich sogar Lehrbücher über Computer, Physik, Astronomie oder gar Psychologie.
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"Was willst du denn da bloss?", rief Sophia. Der Klang ihrer Stimme riss sie zurück in die Gegenwart. Einige Leute am Weg schauten sich nach ihr um, wandten sich aber gleich wieder ab und eilten weiter. Sophia schämte sich ein wenig, als sie es bemerkte.
Sie biss ein Stück von der Brötchenhälfte ab und betrachtete das Blumenbeet. Die Rosen waren dieses Jahr groß und rochen wundervoll. Sie liebte Blumen, hatte sich immer gern welche schenken lassen. Heute schenkte ihr niemand mehr welche, sie musste sich mit den Pflanzen auf ihrer Fensterbank begnügen, die sie sorgsam pflegte.
Einmal bekam sie einen Strauss von Markus, als er 24 Jahre alt war. Er hatte kurz vorher seinen Job gekündigt, weil er dort nicht mehr zufrieden war. Er meinte, nachdem er schon Maschinenbau studiert habe, wolle er nicht in einem Kleinbetrieb als "Mädchen für alles" enden. Sophia hatte ihn gebeten, wenigstens so lange dort weiterzumachen, bis er eine neue Stelle hätte, aber davon hatte er nichts wissen wollen.
Die Blumen gab er ihr nicht selber, ein Bote brachte sie vorbei. Zusammen mit dem Brief.
Markus hatte sich entschlossen, nach Australien auszuwandern. Er habe alles genau geplant, schrieb er. Er wisse, daß er ihr und Papa damit wehtue, wenn er einfach so verschwinde, und es täte ihm sehr leid, aber er wolle nicht tagelang darüber diskutieren und damit den Abschied noch schwerer machen. Er würde sich melden, wenn er da wäre oder etwas später vielleicht, wenn er Arbeit und Wohnung habe, und er liebe sie und...
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"So ein Unfug!". Sophia sah die Blicke der Leute diesmal nicht, sie sah nur die Blumen und den Brief und sich selbst vor langer Zeit. Sie dachte an die Fragen, die sie Theo stellte, weil Markus nicht da war, um sie zu beantworten. Wie will er Arbeit finden, hat er Geld genug dabei, wie kommt er da hin, und vor allem: Warum?
Warum? fragte sie Theo, der nur den Kopf schütteln konnte. Sie fragte es seine Wohnung, die ebenfalls schwieg. Es fehlten Sachen, aber nicht viele. Es war unaufgeräumt, wie üblich. Aber keine weiteren Briefe oder Hinweise.
Sophia wartete. Er wollte sich melden, hatte er geschrieben. Wie lange braucht man nach Australien? Einen Tag? Zwei? Sie wagte sich nicht mehr aus der Wohnung, aus Angst, den Anruf zu verpassen.
Sophia wartete eine Woche. Mit dem Schiff dauert es sicher länger, dachte sie. Vielleicht zwei Wochen? Sie wartete eine weitere Woche.
Er hatte geschrieben, er wolle sich vielleicht erst später melden, wenn er Arbeit und Wohnung habe. Das kann dauern, erklärte Sophia Theo. In einem fremden Land, ohne Freunde oder Verwandte. Hoffentlich hat er genug Geld mit genommen.
(Sind sie Frau Sophia A...?)
Zwei Monate vergingen, und Markus rief nicht an. War ihm das Geld ausgegangen, konnte er sich den Anruf nicht leisten? Gab es R-Gespräche von Australien nach Deutschland?
(Wir müssen ihnen leider...)
Gab es Sozialhilfe in Australien? In Amerika nicht, glaubte Sophia zu wissen. Dort wurde man einfach obdachlos, wenn man kein Geld mehr hatte. Konnte man die australische Botschaft um Hilfe bitten?
(... gefunden ...)
Wird man abgeschoben, wenn man mittellos ist? Sophia erinnerte sich vage, mal so etwas gelesen zu haben. Hat man
(Selbstmord begangen)
kein Geld mehr, muss man zurück nach Hause...
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"NEIN!", schrie Sophie, sprang von der Parkbank auf und schüttelte wild den Kopf. Sie atmete schnell und flach. Ihr wurde schwindelig, sie tastete vorsichtig nach hinten und setzte sich zitternd wieder hin. Ein junger Mann näherte sich ihr.
"Alles in Ordnung mit Ihnen?", fragte er besorgt. "Soll ich einen Arzt rufen?"
"Was.. nein. Es geht schon, ich war in Gedanken, nur in Gedanken", antwortete sie matt.
"Sind Sie sicher?" Der Mann schien unschlüssig, was er tun solle.
"Ja. Ja, es geht mir gut, wirklich, vielen Dank für Ihre Hilfe"
"Ich bringe Sie nach Hause, ok? Wo wohnen Sie?"
"Das ist sehr nett von Ihnen." Sophia erhob sich und bückte sich nach ihrer Einkaufstüte, aber der Mann war schneller.
"Lassen Sie mich das nehmen."
Er nahm Sophias Arm und brachte sie bis vor ihre Haustür und die Treppen hinauf. An der Wohnungstür wandte Sophia sich ihm zu und sagte: "Ich danke Ihnen, vielen Dank."
"Gern geschehen." Er zögerte. "Darf ich Sie etwas fragen?"
Sophia schaute ihn überrascht an. "Nur zu."
"Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmert?"
"Ich... Ja", murmelte Sophia. "Ja, bald, sehr bald." Sie lächelte, und ihre Augen leuchteten auf. Ihr Gesicht wirkte auf einmal sonderbar jung, fast kindlich.
"Und bestimmt wird er mir die Blumen diesmal selber bringen."