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Sonntagsverkehr oder das Reich der lebenden Leichen
Ich hatte Hunger. Ich wollte raus. Ich hätte es nicht tun sollen, denn ich wußte was die Uhr geschlagen hatte: Es war Sonntag! Genauer gesagt, es war Sonntagnachmittag. Der Appetit auf ein schönes Menü, von McKotz, liebevoll durch die Kasse gedreht, verwirrte meine Sinne. Trotz aller Bedenken stieg ich meinen Wagen und fuhr los. Es waren zwanzig Kilometer hin und zwanzig zurück, also insgesamt vierzig durch einen realen Horrorfilm, wie sich noch zeigen sollte.
Ich fuhr vom sicheren Gelände auf die Straße und kam tatsächlich circa zwei Kilometer ohne Probleme voran. Es regnete sehr, aber ich raste trotzdem mit der wahnsinnigen Geschwindigkeit von ungefähr sechzig durch die Lande. Doch da war er schon zu sehen: Der erste Zombie! Schrittgeschwindigkeit, Nase an der Windschutzscheibe, das gleiche Jahrhundert auf dem Beifahrersitz und die Jahresgesamtstrecke bewegt sich so zwischen sechzig und sechshundert Kilometern. Tut mir ja echt leid, ich habe auch ansonsten Mitgefühl für unsere älteren Mitbürger, aber was zuweit geht, geht zuweit. Wir haben bei uns einen älteren Arzt, der mit seinem fast genauso alten Cabrio in der Gegend rumfährt: Klasse. Fährt wie eine Eins, hält den Verkehr nicht auf und macht das alles noch so aus dem Handgelenk, mit jeder Menge Stil. Der Negationspol hierzu ist jeden Sonntag auf unseren Straßen zu sehen.
Die Leutchen sind doch schon vor einem halben Jahr vom Netz genommen worden, die laufen schon seit Monaten ohne Sauerstoffzelt rum und merken es nicht, denen wurde die Rechnung einfach nicht bezahlt und statt sie abzustellen hat man sie vergessen. Ich weiß nicht, was diese Leute dazu bewegt, sich noch hinter das Steuer zu setzen. Mit einem Taxi sind die im ganzen Jahr zehnmal günstiger dran als mit dem eigenen Auto, aber man hat ja eins, also fährt man auch. Ich gedenke in dem Zustand, falls ich ihn je erreichen sollte, im Garten zu sitzen und mich mit Bier vollzuschütten und nicht jeden Sonntag einen neuen Selbstmordversuch zu starten.
Die hängen in ihren Kisten, wie in rollenden Särgen. Ich frage mich nur, wer die da immer reinsetzt und auch wieder rausholt? Denn alleine können sie es nicht schaffen. Wenn man die teilweise im Auto sieht, wie die so auf der Straße stehen oder rollen, dann kriegt man echt zuviel, ich jedenfalls.
Das Gesicht direkt an der Scheibe, damit sie überhaupt noch mitkriegen, ob sich draußen was bewegt. Der linke Ellenbogen guckt schon fast zur Seitenscheibe raus, der rechte hängt der Angetrauten direkt in der Schnauze. Manchmal haben sie auch die Zunge ausgefahren, entweder, weil sie so konzentriert Autofahren, oder weil sie wie eine Schlange versuchen, sich durch ihren Geruchssinn zu orientieren, wer weiß das schon?
Sie eiern von links nach rechts über ihre Spur und rasen wie die Wilden mit fünfzehn bis zwanzig Stundenkilometer durch die Landschaft. Sie erschrecken sich jedesmal, wenn sie an eine Kreuzung ohne Ampel kommen, wahrscheinlich, weil sie immer unsicher sind, welches Verkehrsrecht hier gerade gilt: Das der Bundesrepublik, das des deutschen Reichs, oder das der Weimarer Republik. Egal für welches Recht sie sich entscheiden, sie haben immer Vorfahrt, da kennen die nichts.
Sie sind den lieben langen Tag, und immer ganz kurz vor dem Herzinfarkt, damit beschäftigt Leute, die schneller als 19,5 km/h unterwegs sind, anzupöbeln, damit sie aufhören, so zu rasen. Seh' ich auch ein: wer in der Lage ist, den letzten hochgezüchteten Rennsportwagen mit Straßenzulassung von Mercedes, den 200 Diesel, zu beherrschen, sollte auch ein Auge auf den Verkehr haben, denn die anderen haben keinen Mercedes, sind nicht scheintot, müssen also als gefährlich eingestuft.
Die gurken nur mit Minimalgeschwindigkeit über die Straßen. Ich mache mir, hin und wieder, doch den Spaß und steige während der Fahrt einfach mal aus, gehe zu dem Fahrzeug vor mir und schaue mir die Räder an dem Wagen an, um zu sehen ob sie sich noch drehen. Ich weise dann auch manchmal den guten Alten, der am Steuer sitzt darauf hin, daß es sein könnte, daß er schon parkt, meistens nimmt er mich aber nicht wahr, denn sein Geschmackssinn hat gerade eine Bundesstraße aufgespürt.
Ich meine man soll ja ruhig, wenn man noch kann, aber dann doch auch so wie alle, oder? Ich meine natürlich Autofahren. Naja, jedenfalls erinnert mich der eine oder andere in seinem Geschwindigkeitswahn doch stark an die ehemalige Berliner Mauer. Und hat man dann doch mal einen überholt, denn es sind ja alle unterwegs und die meisten kommen einem entgegen, und trifft man ihn später, zum Beispiel an der Tankstelle, dann aber Hallo! Wie man ihn denn überholen könne! Er wäre doch schon! Und noch schneller ist nämlich gar nicht erlaubt! Wenn er die Straße blockiert hat und man ihn mit fünfzig überholt hat, dann kriegt man sowieso eine Anzeige, die Todesflüche der Mitfahrerin, die sich in den Mitneunzigern befindet, und alles Schlechte mit auf den Weg.
Der Wagen, den die benutzen, ist so was von sauber und geleckt, da freut sich die Mami noch, wenn sie einen Überzieher für die Klorolle häkeln darf. Sieht auch schicker aus, daß Scheißhauspapier mit Krönchen neben dem Wackeldackel. Da wird die Hutablage erst so richtig wohnlich. Das freut wiederum den asmatischen Köter, den die immer mithaben. Entweder Dackel oder Pudel, entweder hinten und kläffend oder vorne bei Frauchen auf dem Schoß, aber immer öfter genauso scheintot wie sein Herrchen. Die Karre selbst ist aber wie neu und hat wie das Herrchen nur Grundausstattung. Mit neu meine ich nicht gebraucht, richtig, der Wagen ist noch nie gebraucht worden, denn der Wagen wird ja nur am Sonntag, und da auch nur für ein paar Augenblicke, aus seinem Ausstellungsraum geholt. Denn das ist hier seine wahre Bedeutung: Ausstellungsstück. Da die meisten dieser Fahrzeuge in den letzten Jahren erst fünfzig Kilometer Gesamtfahrstrecke zurückgelegt haben, ist immer noch das erste Benzin im Tank. Da der Reservekanister in der gleichen Zeit aber schon zwanzigmal zerlegt und ebenso wie das darin befindliche Benzin schon zwanzigmal gereinigt wurde, befindet sich so ein Wagen im Mehr-als-neu-Zustand. Die vier runden Dinger aus Gummi untendran werden mit Q-Tips gereinigt, aber wozu die sind? Keine Ahnung, wenn man vor dem Auto steht, stehen die Dinger auch und wenn man drinsitzt, sieht man sie nicht. Im Auto wird nicht geraucht, gegessen und geatmet und für die Alte gibt es einen Schonbezug. Das Fahrzeug ist in absoluter Minimalausstattung ausgeliefert worden, gerade noch so, das es nicht straßenuntauglich war. Ich kenn’ die noch von früher, als ich mal Autoverkäufer war: „Ja sind sie denn wahnsinnig? Schiebedach! Da holen wir uns ja den Tod! Getönte Scheiben? Da kann ich dann ja noch weniger sehen. Radio? Ne, ne, ich singe selber. Können sie mir nicht das Reserverad gutschreiben? Das alte sieht noch prima aus, das nehm ich mit. Sagen sie, früher kostete der zweite Außenspiegel extra, heute ist der im Preis mit drin, wird da der Wagen nicht teurer? “ Für die eingesparte Kohle wird dann Polierwatte gekauft.
Ich frag mich eh, warum die alle am Sonntagnachmittag unterwegs sind. So wie die aussehen, stehen die nicht mehr am Hochofen, oder arbeiten in der Schwerindustrie. Da können die doch auch den Rest der Woche unterwegs sein, aber nein! Wann touren die los? Sonntagnachmittag! Sprechen die sich ab? Wird dann abgezählt, ob noch alle da sind? Haben die vielleicht ein Kennwort? „ Hier ist Goldhamster. Hier ist Goldhamster. Es ist fünfzehn Uhr drei. Gehen sie zu ihren Fahrzeugen. Wir verstopfen heute die B1 von sechzehn Uhr bis.........“ Ich schnalle das alles nicht ganz. Die Woche hat sieben Tage mit je vierundzwanzig Stunden. Die haben nichts zu tun. Aber die holen ihre Schüsseln alle auf die Minute genau um fünfzehn Uhr am Sonntag aus dem Stall und liefern sich alle ein Rennen bis zum bitteren Ende. Herzschrittmacher an die Lichtmaschine geklemmt und los geht’s. Wo fahren die eigentlich hin? An die Ostsee? Klippe suchen und wie die Lemminge nacheinander im Stau von der Klippe ins Meer? Oder hat nur Sonntagnachmittag der Jungbrunnen geöffnet und den suchen die dann alle? „Ich hab gehört Wilhelm hat letzten Sonntag den heiligen Gral mit seinem Audi nach Hause gebracht.“ Oder was? Es wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Ist auch egal. Ich weiß es nicht und wenn ich rauskriege, wie man diese McDoof-Pampe haltbar macht, bleibe ich auch garantiert zu Hause, denn wenn ich weiter weg will, muß ich den Wagen nehmen und wenn es dann auch noch schnell gehen soll? Ich bin halt nicht mehr so gut zu Fuß.