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Sonntagsfahrer
Sie hatten den Leichenwagen schon lange nicht mehr gesehen. Viel zu tun, schätzte Friedrich. All die Motorradfahrer jetzt im Frühjahr.
Seine Frau hielt ihm Apfelkuchen unter die Nase. Er wischte vor seinem Gesicht herum, als würde er ein Insekt verscheuchen. „Gerda, bitte“, sagte er. „Nicht beim Fahren.“
Sie hatte die ganze Zeit gekichert und herumgealbert. Jetzt sagte sie nichts mehr. Friedrich seufzte. Er hatte sie verletzt. Aber warum, um alles in der Welt, war sie auch manchmal so blöd? Genau so passierten Unfälle. Fast alle. Unaufmerksamkeit. Etwas lenkte ihn ab und das war es dann. Also, das hätte es gewesen sein können. Theoretisch.
Als lenkten die scheiß Fliegen ihn nicht schon genug vom Verkehr ab. Es waren mehr geworden. Friedrich machte das Fenster auf, aber er hatte das Gefühl, für eine, die hinaus flog, kamen zwei rein. Zu Hause war es noch schlimmer. Darum waren sie viel unterwegs. Am besten, sie zogen bald ganz ins Auto. Scheiß Fliegen.
Hin und wieder überholten junge Leute. Einige grinsten, einige schüttelten den Kopf. Die meisten ließen sich ihre Ungeduld nicht anmerken, aber ein paar schimpften sogar. Selbst Frauen. Und die Frauen, fand Friedrich, waren oft sogar noch schlimmer. Was für eine Zeit.
Eine schien getrunken zu haben und hatte ihn einen schrumpeligen Pimmelgnom genannt. Das hatte gesessen. Was hatte er mal für einen Pimmel gehabt. Eine Woche lang hätte die Göre nicht sitzen können. Wie üppig war er behangen gewesen im vorigen Jahrhundert. Griff er sich heute in die Hose, entdeckte er dort genau das: Einen schrumpeligen Gnom. Wie ihm dieses Mädchen weh getan hatte. Nach dem Knall sagte er Gerda, es täte ihm leid, wie immer. Ein bisschen war er aber auch froh gewesen, die Kleine tot zu sehen. Er war nicht stolz darauf, so zu fühlen. Aber irgendwo unter der fleckigen Haut, die von seinen Armen hing wie Teig von einem dünnen Nudelholz, lag der Mann begraben, der er einmal gewesen war. Lebendig begraben. Schreiend. Mit einem klasse Pimmel.
Eine Fliege setzte sich auf seine Lippen. Er pustete sie in die Flucht und wischte sich die Stelle, auf der sie gesessen hatte. Wie ekelhaft das war. Dieselben kleinen Beinchen, die sie vielleicht nur ein paar Minuten zuvor in die Nachgeburt eines Kalbs getunkt hatte.
„Scheiß Fliegen“, sagte er.
Gerda aß ohne jede Freude das Stück selbstgebackenen Apfelkuchen, das sie ihm ins Gesicht gehalten hatte. Auch für den Kuchen interessierten sich die Fliegen.
„Sie wollen nicht mehr warten“, sagte Gerda.
„Das werden sie aber“, sagte Friedrich. „Da können sie ruhig mit noch ein paar Hundertschaften anrücken. Außerdem habe ich dir gesagt, du sollst nicht immer so düster daherreden. Davon kriegen wir Altersdepression.“
„Die haben wir bestimmt schon.“
„Du vielleicht.“
Noch dickere Luft im Auto, dachte Friedrich. Scheiß Fliegen und scheiß Stimmung. Fehlte nur noch, dass Gerda sich in die Hose machte, wie es ihr ab und zu passierte.
Friedrich machte das Fenster runter. Ein kleines buntes Auto mit jungen Leuten darin setzte zum Überholen an, blieb dann aber auf ihrer Höhe und fuhr parallel zu ihrem Mercedes. Der Beifahrer im Junge-Leute-Auto machte ebenfalls das Fenster runter.
„Krasses Auto, Opa“, rief er. „Wusstest du, dass der schneller als zwanzig kann? Hier ist hundert.“
Friedrich sah nur kurz rüber und dann wieder geradeaus. Die Bäume, die Felder, eine Mühle. So eine schöne Landstraße. Dass sie solche Idioten da überhaupt drauf ließen. Auf der Rückbank des bunten Autos lachten zwei Mädchen. Der verwegene Witzbold hatte wohl gerade seine Chancen erhöht, eine der beiden flachzulegen. Vielleicht beide.
Der junge Mann wurde plötzlich ernst. „Ohne Scheiß, Opa“, rief er. „Hier so lang zu kriechen, das macht dich echt zur Gefahr. Wenn du dich nicht mehr schneller als Schrittgeschwindigkeit traust, gib deinen Lappen ab. Ist außerdem schade um das Auto, damit so zu schleichen. Schönes Geschoss.“
Zustimmendes Schweigen im anderen Auto. Zumindest, bis Friedrich langsam, ganz langsam, eine Hand vom Lenkrad nahm, sie zur Faust ballte, die er aus dem Fenster streckte, und dann, ebenfalls langsam, den Mittelfinger ausstreckte. Da fing das Gelächter wieder an. Die Mädchen bekamen sich gar nicht wieder ein. „Wie endgeil der Opa ist!“, hörte Friedrich eine von ihnen gackern.
Der Beifahrer lachte nicht. „Du mich auch“, rief er. Dann gab das kleine bunte Auto Gas und zog knapp, sehr knapp vor ihnen in die Spur.
Friedrich sah zur Seite. Gerda blickte ihn ernst an. Schließlich begann sie zu grinsen. Friedrich grinste zurück. Er legte seine Hand auf ihre. Noch immer hielt sie einen letzten Rest Kuchen darin.
„Tut mir leid, dass ich so war“, sagte er.
Sie legte ihre freie Hand auf seine. „Ich weiß“, sagte sie.
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“
Und die Fliegen, dachte Friedrich. Lieber Gott, diese scheiß Fliegen liebten sie auch.
Sie wurden wieder überholt. Ein Kombi mit einer Familie darin. Keine Pöbeleien diesmal. Als der Wagen vor ihnen auf die rechte Spur fuhr, winkten zwei Kinder durch die Heckscheibe. Das Mädchen wirkte älter als der Junge. Er trug eine dicke schwarze Brille, die viel zu groß war für sein Gesicht. Sie hatte Glitzersternchen auf den Wangen, die in der Frühlingssonne funkelten. Gerda winkte zurück.
Friedrichs Blick verhakte sich in dem des Jungen. Er versuchte, zu lächeln. Der Junge hatte bis dahin gelächelt, gelacht sogar. Das hörte jetzt auf. Stattdessen sah er aus, als hätte er sich gerade in einem riesigen Kaufhaus nach seiner Mutter umgedreht, um festzustellen, dass sie verschwunden war. Friedrich hatte noch nie mit Kindern gekonnt. Darum hatten sie keine. Gerda hatte gesagt, es wäre in Ordnung, über die Jahrzehnte hinweg, immer wieder: Entscheide du das. Wenn es nur einen von uns glücklich macht, was haben wir dann davon? Wenn du nicht willst, dann ist das in Ordnung.
Aber jetzt gerade wieder, wie sie winkte und gar nicht mehr aufhörte, weiter winkte, als die Kinder sich umdrehten und das Auto vor ihnen davonzog, da merkte Friedrich: Es war nicht in Ordnung. Das war es nie gewesen.
Der Blick in den Rückspiegel riss ihn aus seinen Gedanken. Ein schwarzer Fleck, der näherkam. Keine quietschenden Reifen, kein heulender Motor. Er kam einfach nur immer näher. Wie immer. So unaufhaltsam wie elegant. Auch ein Mercedes.
„Da ist er wieder.“ Friedrich hörte das Zittern in seiner Stimme. Er hörte es und er spürte es. Als hätte er sich verschluckt.
Gerdas Stimmung schlug ebenso schnell um wie die des Jungen vorhin. Sie drehte sich um.
„Oh Gott“, sagte sie. „Ich dachte, wir wären ihn los.“
„Wie soll das denn gehen?“, sagte Friedrich. „Ganz sind wir ihn nie los.“
Gerda gab ein lautes Wehklagen von sich. Es klang nach einem verletztem Tier.
„Bist du nicht ganz sauber?“, fragte Friedrich.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich will das nicht mehr.“
Wütend griff Friedrich das Lenkrad fester. „Du sollst das lassen.“
„Was denn lassen?“
„So tun. Meinst du, ich habe keine Alpträume?“
Er sah in den Rückspiegel. Der Leichenwagen küsste jetzt fast ihre Stoßstange. Am Steuer saß jemand anderes, wie immer. Einmal war es sein Vater gewesen, so, wie er ausgesehen hatte, kurz bevor seine Nieren in sich zusammengefallen waren wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Ein Gesicht, so gelb wie Pisse. Einmal war es ein Kamerad aus Verdun gewesen, der zum falschen Zeitpunkt den Kopf über den Rand des Grabens hinaus gestreckt hatte. Er hatte genau so ausgesehen, wie Friedrich ihn in Erinnerung hatte. Die Zunge hing ihm auf der Brust wie ein Schal aus Fleisch, weil sein Unterkiefer fehlte. Friedrich hatte Gerda noch nie gefragt, was sie sah.
Er jedenfalls erkannte diesmal den Rowdy aus dem Auto voller junger Leute, auch wenn er etwas anders aussah. Das verbliebene Haar war jetzt weiß und seine Ohren reichten vom Scheitel bis zum Kinn. Diese Version des Rowdys musste fast so alt sein wie Friedrich. Aus dem Hals hing ihm eine Kanüle zum Atmen. Etwas Dickflüssiges tropfte davon in seinen Schoß. Das Großmaul grinste, nahm eine Hand vom Lenkrad und zeigte Friedrich den Mittelfinger.
Gib endlich den Lappen ab, Opa.
Friedrich schüttelte den Kopf. „Noch nicht“, flüsterte er.
Die Nähe ihres Verfolgers schien die Fliegen in Aufruhr zu versetzen. Kaum eine blieb irgendwo länger als eine Sekunde sitzen. Eine war in Friedrichs Nase geflogen. Er schnäuzte sich in die Finger und sah erleichtert das Insekt und wie es versuchte, sich vom Rotz zu befreien. Sie mussten dieser Tage gut auf ihre Körperöffnungen aufpassen. Gerda hatte wie ein kleines Kind geweint, als er ihr letzte Woche Maden aus dem Hintern pulen musste.
„Es ist falsch“, sagte sie. „Unsere Zeit ist längst um. Immer überredest du mich, genau wie mit … immer überredest du mich.“
„Soll ich anhalten?“, gab Friedrich zurück. „Dann kannst du aussteigen und ihn kennenlernen. Ich fahre weiter.“
Darauf sagte sie nichts. Friedrich fuhr schneller. Bald war das Großmaul nicht mehr zu erkennen und der Leichenwagen wurde wieder zum schwarzen Fleck.
Sie fuhren an dem Kombi vorbei. Er parkte am Straßenrand. Friedrich sah, wie der Vater dem Sohn beim Pinkeln gegen einen Baum half, während das Mädchen am Auto lehnte und auf so einem Tableau-Computer-Scheiß herumwischte. Die Mutter fotografierte das weite Gelb der Rapsfelder mit dem Telefon. Sie winkte Gerda und Friedrich, als sie vorbeifuhren.
„Sie werden gleich wieder überholen“, sagte Friedrich.
Gerda sagte nichts. Auch vom Auto war kaum etwas zu hören. Ein Mercedes, fürwahr. Dafür hatte Friedrich das Gefühl, das Summen der Fliegen könnte jeden Moment seinen Kopf platzen lassen. Er machte das Radio an. Werbung, Nachrichten, geistiger Durchfall und schließlich: Freddy Quinn. Die Gitarre und das Meer. Ein schönes Lied. Friedrich sang leise mit. Nicht ganz seine Zeit, aber trotzdem, es hatte noch mehr mit Musik zu tun als alles, was danach kam. Alles. Mehr als ein halbes Jahrhundert Senfgas für die Ohren, bis man sich fast freute, langsam taub zu werden.
Der Kombi tauchte im Rückspiegel auf. Friedrich machte das Radio wieder aus und griff das Lenkrad fester.
„Es ist nicht gerecht, weißt du?“, sagte Gerda.
„Still jetzt“, befahl Friedrich. Gerda seufzte.
Fünfundvierzig gemächliche Stundenkilometer.
Hier ist hundert.
Der Kombi überholte. Friedrich drückte sanft das Gaspedal. Der Mercedes hielt den Kombi auf seiner Höhe, fast unmerklich, ohne laut zu werden. Zweihundertelf PS. Der Verkäufer hatte das Grinsen nicht aus dem speckigen Gesicht bekommen. Was will der Tattergreis mit zweihundertelf PS?, muss er überlegt haben. Aber vielleicht, dachte Friedrich, hielt er manchmal einfach zu wenig von den Menschen. Vielleicht hatte Specki sich einfach nur auf seine Provision gefreut.
Siebzig. Achtzig. Sanftes Gas. Im Augenwinkel sah er, wie aus dem fröhlichen Winken der Frau wütendes Gestikulieren wurde. Sie tippte sich an die Stirn. War er nicht längst raus aus dem Alter für solche Schwanzvergleiche?
Mein Schatz, dachte Friedrich. Ich habe genau das richtige Alter. Es tut mir leid.
Über hundert und eine Anhöhe voraus. Es gab nie eine Garantie. Manchmal kam einfach niemand. Oft hatten sie einfach nur Glück. Auch diesmal. Vielleicht lag es am Frühling.
Ein Geländewagen kam ihnen auf der anderen Spur entgegen. Eines von diesen albernen Luxusdingern für die Stadt, wo es kein Gelände für einen solchen Wagen gab. Wegen der Anhöhe erschien das weiße Ungetüm aus dem Nichts auf der Straße, wie der Hase aus dem Zaubererzylinder. Trotz seines Anhängers, auf dem er zwei Motorräder zog, hatte der Geländewagen sicher achtzig, neunzig Stundenkilometer drauf. Friedrichs Nadel zeigte jetzt knapp über hundert.
Es war sicher nur Einbildung, aber vor dem Knall hatte er immer das Gefühl, die Welt drehe kurz den Ton ab und friere ein. Es folgte eine Ewigkeit, die tatsächlich nicht mal eine Sekunde lang war, und dann war er einen ohrenbetäubenden Moment lang wieder im Graben. Peng.
Friedrich wurde langsamer und fuhr rechts ran.
Wo sind die Motorräder?, dachte er. Der Aufprall musste sie sonst wohin geschleudert haben. Der Anhänger war noch da, lag in einiger Entfernung zum Unfall auf der Seite. Im Vergleich zu den beiden Autos war er glimpflich davongekommen. Jedenfalls konnte man ihn noch als das erkennen, was er war. Die Autos dagegen: Zwei Klumpen Blech. Irgendwo an dem Ding, das der Kombi gewesen war, brannte ein kleines Feuer, das größer wurde.
Gerda schluchzte. „Da schreit jemand“, sagte sie.
Friedrich nahm das Geräusch auch wahr. „Quatsch“, sagte er. „Das hört sich nur so an.“ Er machte das Fenster hoch.
Ein Stück vor der Unfallstelle lag ein blutiges Bündel, und noch mal etwas weiter etwas kleines Schwarzes. Die Sonne spiegelte sich wie in zersplittertem Glas und blendete Friedrich.
Ein dritter Wagen näherte sich dem Chaos aus Blech, Blut und Benzin. Er kam aus der anderen Richtung.
„Da ist er“, sagte Friedrich.
„Natürlich ist er da“, sagte Gerda.
„Er hält an.“
„Was auch sonst.“
Friedrich atmete tief ein. „Jetzt hat er was. Da haben wir erstmal wieder Ruhe.“
„Wenn du meinst.“
Der Leichenwagen war zu weit weg, um hinter der Windschutzscheibe jemanden zu erkennen. Als die Fahrertür geöffnet wurde, gab Friedrich Gas. Er wollte gar nicht wissen, wer diesmal ausstieg. Fast geräuschlos fuhr der Wagen an. Ein Mercedes eben.
Ein paar Kilometer weiter ließ Friedrich das Fenster wieder runter.
„Mein Gott“, fluchte er und wischte sich mit der Hand den dichter werdenden schwarzen Nebel aus dem Gesicht. „Wir sollten Fliegenfänger hier drin aufhängen, wie zu Hause.
„Vielleicht.“
Friedrich verkniff sich ein Stöhnen. Mindestens für den Rest des Tages würde sie jetzt nur noch in solchen Ein-Wort-Sätzen mit ihm reden. Dabei war sie genau wie er, und er war einfach noch nicht so weit. Nicht, wenn die Frühlingssonne schien.
Er nahm ihre Hand. „Ich liebe dich“, sagte er.
Gerda schniefte ein paar Mal. Dann sagte sie: „Ich liebe dich auch.“
Friedrich lächelte. Brauchte er mehr? Er sah sie an.
„Ist eigentlich noch was von dem Kuchen da?“