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Sonntagmorgen
Fast schon unter einer Gewaltanstrengung schlägt sie endlich ihre Augen auf und taucht desorientiert und reichlich verwirrt aus ihrem chaotischen Traum auf.
Bliebt noch eine kurze Weile liegen und versucht durchs Fixieren eines Punktes im Zimmer zu sich zu kommen. Auch die letzen Fetzen ihres Traumes verflüchtigten sich jetzt wie die Nebelschleier am Fluss, wenn die Sonne immer mehr an Kraft gewinnt.
Noch ganz benommen läßt sie sich aus ihrem zerwühlten, von dem heftigen Kampf gegen den Alp zeugenden Bett rausrollen und kommt unsicher auf die Füße.
Stete Regentropfen auf dem Dachfenster, die sie während ihrer kurzen Wachphasen wieder in den Schlaf eingelullt haben, verheißen einen weiteren Regentag, als sie jedoch die Rollos der Balkontür hochzieht, grinst sie die Sonne durch die Wolken spitzbübisch an.
Langsam, noch ganz unter dem Bann des Traumes, zieht sie sich an und geht raus auf den Balkon, um erst mal eine Zigarette zu rauchen.
Eigentlich ist sie seit über zehn Jahre Nichtraucherin, fing aber vor zwei Wochen, während des letzten Urlaubs wieder damit an.
Eigentlich, denkt sie, sich über die Balkonrüstung lehnend, eigentlich bin ich ganz anders als ich bin.
Und während das Gift der ersten Zigarette ihren Körper durchströmt und bewirkt, dass ihre Beine seltsam taub werden, ihr Herz anfängt, hart gegen die Rippen zu schlagen, ihr Kopf sich wie benebelt anfühlt, versucht sie den letzen Gedanken zu entwirren.
Sie kneift die Augen zusammen gegen die unverschämt gutgelaunte Sonne, die immer wieder zwischen den grauen Wolken hervorbricht.
Sie hatte geträumt, sie wäre gar nicht sie, sondern hätte im Traum den klassischen Seelentausch gemacht. In der letzten drehbuchreifen Szene, die verblüffend scharf und in Farbe in ihrem Kopf aufgeflammt war, hatte sie sich in einem Notarzt-Wagen liegen und ungläubig ihre sechs! Fußzehen betrachten sehen. Die Zehen waren klein, ungepflegt, von Hornhaut überwuchert ausgesehen und, ja, jetzt wusste sie es wieder, sie gehörten eindeutig einem Mann.
Aber irgendwie machte es ihr im Traum nichts aus, ein kleiner, untersetzter Mann mit Glatze und einem dezenten Schwimmring um die Hüften zu sein. Ein Mann, der seine besten Jahre mit Sicherheit bereits hinter sich hatte.
Angesichts dieser unerwarteten Windung ihrer Gedankengänge lässt sie sich nun doch auf den harten Balkonstuhl fallen.
Während ihr Hintern dem Hirn eine Beschwerde über die Härte des Holzes schickt, giftet das Hirn zurück, es hätte schon mehrmals angeregt, endlich mal die Polsterauflagen von der Bühne zu holen.
Jetzt nicht, herrscht sie ihr Gehirn an, lass uns noch eine Weile über den Traum nachdenken.
Aber ihr Kopf verweigert nun komplett die Mitarbeit, die Nikotindosis als Entschuldigung vorschützend und zieht sich erst mal schmollend zurück.
Sie zuckt ergeben mit den Schultern, geht in die Küche und gibt dem Antrag des Kreislaufs statt, indem sie gleich zwei Gläser Multivitaminsafts hinter einander durch ihre Kehle laufen lässt.
Immer noch aus der Schmoll-Ecke meldet sich das beleidigte Hirn und verlangt nach Kaffee, mit Milch und ohne Zucker, wegen der Kalorien, bemerkt selbstzufrieden die Gewichtsüberwachung.
Sie seufzt, wirft die Kaffeemaschine an, die als einzige heute morgen ohne Widerworte fröhlich vor sich zischend die gewünschte Menge an Kaffee liefert.
Mittlerweile hat sie festgestellt, dass es verdächtig ruhig in der Wohnung ist. Zu ruhig für einen Sonntagmorgen.
Sie schaut noch mal auf die Funkuhr in der Küche, es ist bereits 9.00 Uhr durch.
Ihr Sohn, eine einzige, sich unglaublich schnell bewegende Lärmmaschine, ist nicht in seinem Zimmer. Auch sein Fahrsimulator, mit dem er seinen Geräuschpegel zu verstärken pflegt, ist aus und hat nun keine Gelegenheit mehr, seinem kleinen Fahrer mit tosendem Applaus zu bestätigen, er habe gewonnen. Im Einzelrennen, versteht sich, denn ihr Sohn, sonst recht sozial eingestellt, duldet keine anderen Fahrer neben sich auf der Rennstrecke.
Die Tür zum Zimmer ihrer Tochter ist noch zu. Das hat aber nicht wirklich was zu bedeuten, denn seit ihre Tochter sich nahtlos aus der Nach-Trotz-Phase in die Vor-Pubertät hat gleiten lassen, um dann übergangslos in der Pubertät zu verharren, ist die Tür eigentlich immer zu.
Vorsichtig hält sie ihr Ohr an das Holz, der ganze Körper angespannt und in voller Alarmbereitschaft, um sofort reagieren zu können, falls die Tür unvermittelt auffliegt und sie, wie bereits mehrere Male passiert, hart am Kopf trifft.
Auch hier dringt kein Gekicher oder Gegacker oder gar lautstarker Streit der Geschwister zu ihr durch.
Sie stutzt.
Den dampfenden Kaffeebecher in der Hand, schlürft noch mal in die Küche zurück.
Lässt ihre Augen im Raum umherschweifen und ihr Gehirn, dem auf Anhieb keine Entschuldigung für seine Untätigkeit einfällt, liefert widerwillig die Information, auf dem Küchentisch liege ein Zettel.
Erst will sie ihre Lesebrille suchen, überlegt kurz, wo sie gestern zuletzt war und ob sie heute noch was von nahem besehen muss, seufzt, und beschließt, die Zeilen so zu lesen.
Und nachdem sie den Zettel auf Armlänge vor sich hält, kann sie tatsächlich entziffern, dass Vater und Sohn ins örtliche Hallenbad gefahren sind.
Sie seufzt erleichtert, schiebt den Gedanken, was denn um alles in der Welt in der Notaufnahme eines Krankenhauses die richtige Garderobe sei, energisch beiseite, atmet nun tief durch und macht eine kurze Bestandsaufnahme.
Vater und Sohn beim Schwimmen, Tochter noch im Bett, sie selbst in der Pflicht, heute eine Pizza backen zu müssen.
Der Teil ihres Kopfes, der fürs Pflichtbewusstsein zuständig ist, schlägt zaghaft vor, jetzt schon mal den Hefeteig an zu setzten, damit es später keine Probleme mit der rechtzeitigen Herstellung des Mittagessens gibt.
Er wird aber sofort niedergebrüllt und klappt verschämt in sich zusammen.
Stattdessen beschließen der Kopf und die Schreibsucht in überraschender Einigkeit, die unerwartete Gunst der Stunde auszunützen und erst mal runter, in den Hobby-Raum zu gehen und ein, zwei Zeilen am PC zu schreiben.
Sie nimmt sich noch einen Kaffee mit, geht runter, macht die Musik an und schreibt.
Als sie ihre Augen kurz zu der Uhr schweifen lässt, bemerkt sie erschrocken, dass es schon kurz vor 11.00 Uhr ist.
Hastig speichert sie die Geschichte ab und läuft, jetzt zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben, um die Hände in das Mehl zu tauchen, um wenigstens ein Alibi zu haben, wenn die Männer hungrig wie Wölfe, die keine Beute gerissen haben, nach Hause kommen.