Sonnenuntergang
Die Feier auf der sommerlichen Burg war in vollem Gange. Ein heißer Tag neigte sich seinem Ende, und die untergehende Sonne tauchte die schwitzenden Menschen in goldenes Licht. Rhythmische Musik bewegte ihre Körper wie in Trance. Hinter ihnen ragte alt, zerfallen und trotzdem mächtig, erhaben die Ruine über das weite Tal in der Tiefe. Sie hob sich glühend gegen den in dunkles Türkis getauchten Himmel ab.
Und dann entdeckte er sie.
Es war, als würden sie alle für einen Moment zurücktreten, damit er sie sehen konnte. Sie tanzte zwischen all den Menschen. Ihr rotes Haar klebte in Strähnen an der verschwitzten Stirn. Ihr sommersprossiges Gesicht schimmerte im Licht der Sonne. Ihre Augen waren geschlossen. Sie bewegte sich völlig fließend: Ihr wunderschöner Kopf, ihre schlanken Arme, ihre runde Hüfte, ihre bronzenen Beine...
Er war wie gebannt von ihrem Anblick. Er spürte wie sein Herz unruhig zu schlagen begann.
Und dann schlug sie die Augen auf... ein warmer Schauer explodierte in seinem Bauch und breitete sich über seinen Körper aus... und sie ging wieder in der Menge unter. Der Moment war vorbei.
Überwältigt von dem Gefühlschaos, was plötzlich in ihm herrschte, hörte er auf zu tanzen. Ein ruhiger Pol in der pulsierenden Masse.
Er versuchte, sich durch die Menge zu bewegen. Er wollte dorthin, wo er sie eben gesehen hatte. Er wollte zu ihr. Er hatte das unglaubliche Verlangen, ihr nahe zu sein. Ellebogen, Knie und tanzende Körper drohten auf einmal, ihn zu erdrücken.
Doch er fand sie nicht.
Er entfernte sich von der Feier und ging in die Ruinen. Die Musik wurde leiser, und er konnte den Schwalbenschwarm hören, der zeternd um die Burg flog. Grillen zirpten in den Gräsern, die unter seinen Schritten trocken rauschend den Weg freigaben. Die Sonne berührte beinahe den fernen Horizont und warf dennoch ein kräftiges Licht über die dunstige Ferne unter ihm.
Nachdenklich erklomm er eine alte Treppe, als er sie wieder entdeckte. Sie stand ganz oben auf der Ruine auf einer dicken Mauer und schaute in den Sonnenuntergang. Eine leichte Brise spielte ihren Haaren.
Er räusperte sich, aber sie zeigte keine Regung. Er war fast bei ihr angekommen, als sie in die Hocke sank, ihre Beine umschlang und den Kopf auf die Knie legte, immer noch ohne ihn anzuschauen. Er kletterte auch auf die Mauer und setzte sich im Schneidersitz neben sie. Sein Herz klopfte nun wie wild.
Um sie herum die Grillen, weit entfernt die Musik, das Rauschen der Ferne und ab und zu die Schwalben.
Und kein Wort zwischen ihnen.
Nur die stille Nähe.
Die Sonne, sie war nun ein tiefroter Ball, der unten eine kleine Delle hatte, so als sträubte er sich davor, den fernen Horizont zu berühren.
Er wandte den Kopf, um ihr Gesicht betrachten zu können. Es war wunderschön. Die Haut glatt, die Haare rot wie die Flammen der Sonne selbst, die Nase grade und schlank, Sommersprossen, die verspielt über ihr ganzes Gesicht verteilt waren und die Augen... so blau wie der Himmel, so klar wie reines Wasser und so... traurig.
Die Sonne funkelte in ihnen.
Dann schaute sie ihn an. Schaute ihm in die Augen und sagte kein Wort. Sie stand auf, ohne ihren Blick abzuwenden. Hoch erhoben stand sie nun vor ihm. Die Sonne blendete ihn, und er hob die Hand zum Schutz... und sie ließ sich fallen. Ließ sich einfach nach hinten über den Rand der Mauer fallen.
Voller Entsetzen wollte er nach ihr greifen und stürzte an die Kante. Aber sie entglitt seinem Griff, und er sah sie wie in Zeitlupe in die schattige Tiefe fallen, die Augen fest auf ihn gerichtet. Keine Furcht spiegelte sich darin, nur die untergehende Sonne. Ein letztes Mal zogen die Schwalben an ihr vorüber, dann verschlang sie das schwarze Grün der Baumwipfel.
Betäubt starrte er in die Tiefe, die sie aufgenommen hatte.
Die Sonne tauchte völlig in den Horizont ein, und der Tag verließ das Land, das Tal, die Burg und verließ ihn.