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Sonnenaufgang
Blutrot wölbt sich der Himmel über die verlassene, trauernde Erde. Die untergehende Sonne scheint sich in einem Meer aus Tränen und warmem Blut zu spiegeln und am Horizont, der sich wie eine unnatürlich korrekte Trennlinie zwischen Himmel und Erde zieht, türmen sich die dunklen, schwarzen Wolken. Mächtig, bedrohlich und unheimlich schön. Tote, graue Bäume, Tierskelette, deren Knochen jeden Moment zu Staub zerfallen könnten, weinende, abgemagerte Menschen; alles wirkt wie erstarrt.
Kein Windhauch weht durch die trockenen, dünnen Blätter der uralten Eiche. Auf einem ihrer breiten Äste liegt ein Kadaver eines Eichhörnchens, das versuchte sich vor dem, was kommen wird, zu retten. In seinen erstarrten Glieder ist die Todesangst noch zu erkennen.
Es ist still. Viel zu still um natürlich zu sein. Nichts regt sich mehr. Die Ruhe vor dem großen Sturm. Die Angst der Menschen ist fast mit den Händen greifbar. Sie macht die Luft stickig, drückend.
Alle Augen starren gebannt auf die gewaltige Wand aus Wolken. Man kann die salzigen, heißen Tränen fallen hören. Sie bahnen sich ihren Weg in den ausgetrockneten Boden, füllen die aufgebrochene Erde. Es kommen immer mehr hinzu, doch niemand schluchzt. Es ist ein leises Gebet. Voller Hoffnung. Voller Angst. Voller Trauer. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt, doch jetzt ist sie tot.
Die Sekunden verstreichen so langsam als wären es Stunden. Die Enttäuschung über unsere Niederlage, die wir trotz unseres Kampfes erleiden, wütet in unseren Herzen. Sie zieht über ein Feld aus Trümmern, die der Kampf von Hoffnung gegen die Angst hinterlassen hat.
Eine kleine eiskalte Hand schiebt sich in die meine. Ich brauche meinen Blick nicht von den beängstigenden Wolken abzuwenden um zu wissen, dass meine kleine Tochter sich an meinen Arm klammert. Sie versteckt sich, denkt ich könnte sie beschützen so wie sonst auch, doch dieses Mal kann ich nichts tun und das zerreißt mich innerlich. Ich kann nicht einmal das Leben meines eigenen Kindes retten. Sie ist erst fünf Jahre alt, doch sie wird sterben wie jeder hier im Raum.
Wir sind die Letzten. Die Einzigen, die bis heute gekämpft haben. Die Menschheit existiert morgen früh nicht mehr. Wie gerne würde ich jemand anderen für all das Leid und den grausamen Tod verantwortlich machen, doch ich will nicht mit einer Lüge in meinem Herzen sterben. Die Machtgier der Menschen hat uns vernichtet. Immer neue Waffen wurden im Krieg entwickelt, bedrohlich wollte man sein, stärker als alle anderen. Wer keine Angst verbreiten konnte, war schwach und auf keinen Fall wollte man sich derartiges nachsagen lassen. So absurd es auch klingen mag, aber ich verstehe sie. Angst ist schrecklich und niemand will sich fürchten müssen. Die schlimmste und letzte Katastrophe der Menschheit. Die Bombe hat alles im Umkreis von einhundert Kilometern verseucht und der Sturm breitet sich aus; zieht über den Planeten. Niemand weiß, wer sie abgeworfen hat, das Interesse daran ist jedoch auch nie wirklich aufgeglommen. Es ist nicht wichtig. Nicht eine einzelne Person ist für das Geschehene verantwortlich, sondern alle.
Der Regen, der vom Himmel fällt, ist ätzend. Er verbrennt die Haut, die sich blasenwerfend von den Armen und Beinen ablöst und offene, blutende Wunden zurücklässt. Die Blitze, die aus den finsteren Gewitterwolken zucken, scheinen ihre Opfer zu suchen. Die Dunkelheit ist undurchdringlich. Am aller schlimmsten jedoch ist der Wind. Er ist scharf wie Messerklingen, zerschneidet unsere Haut, lässt uns bluten. Er treibt uns den brennenden Regen ins Gesicht, in die Augen; macht uns blind.
Viele Menschen sind qualvoll gestorben. Einige haben sich das Leben genommen, um diese schreckliche Folter nicht erleben zu müssen, doch wir sind geblieben. Haben gekämpft, gelitten, gehungert, doch wir haben überlebt, sind Freunde geworden, haben erkannt, dass Menschen zusammen leben können, ohne sich zu streiten, doch jetzt hat uns der Sturm eingeholt. Der Wind hat ihn zu uns gebracht. Erbarmungslos. Doch wir geben bis zum Schluss nicht auf. Nun stehen wir hier, ergreifen die Hände unseres Nachbarn. Eine lange Kette aus Menschen. Jeder ist anders, doch im Herzen sind wir alle gleich und wir haben den selben Wunsch: Wir wollen leben.
Leise beginnt jemand, am Ende der Schlange zu singen. Es ist ein Lied, das von Freiheit, Glück und Hoffnung erzählt. Die Melodie ist fröhlich, verbreitet Mut. Nach und nach stimmen alle mit ein. Wir singen, um unsere Furcht zu vertreiben, und um zu zeigen, dass wir uns nicht einfach ergeben werden.
"Ich will die Sonne noch einmal sehen", murmelt mein kleines Mädchen leise.
"Ich auch mein Schatz", ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.
"Schlaf gut meine Liebe. Morgen früh sehen wir uns zusammen den Sonnenaufgang an."
Mehr kann ich nicht sagen, ohne dass meine Stimme bricht und ihr Angst machen könnte.
Der Wind schreit und brüllt, doch unsere Stimmen verhallen nicht. Sie werden vom Sturm davon getragen. Hinaus in die verlassene Welt. Die Melodie fliegt über zerstörte Dörfer, über vernichtete Gemäuer, bemooste Panzer und über ausgetrocknete Flüsse in einer Wüste aus Schrott. Berge aus Leichen streift sie. Die Welt ist leer. Menschen gibt es keine mehr, doch sie ist nicht zerstört. Etwas Neues wird entstehen und vielleicht wird es besser sein, als die Menschheit es war. Irgendwann gibt es vielleicht auch noch eine neue Chance für unsere Art, und wenn nicht, dann hat dies seinen Grund. Was auch immer geschehen wird, wir werden es nicht mehr erleben und irgendwie bin ich auch froh darüber.
Der Sturm beginnt zu heulen. Einige Meter vor uns entwurzelt er Bäume und hebt sie in die Luft. Der Regen peitscht über die ausgetrocknete Landschaft und rollt auf uns zu wie ein Sandsturm in der Wüste. Die ersten Tropfen erreichen uns, der Geruch von verbranntem Fleisch steigt in meine Nase, ich spüre das Kribbeln und Brennen auf meinen Händen und Schultern. Ich schließe die Augen. In meinem Kopf sehe ich dennoch, wie das Blut auf den Boden tropft und in mir macht sich der Drang breit, davonzulaufen. Meine Beine zucken und ich kann mir vorstellen, wie ich renne, fliehe und innerlich bete, dass mich der Sturm nie wieder einholt. Trotzdem bleibe ich. Meine Tochter könnte mir nicht folgen und wenn ich sie schon nicht retten kann, dann werde ich sie auch nicht verlassen und alleine sterben lassen.
Als die Sonne am Horizont komplett verschwindet, liegt auf einem Berg eine kleine Gruppe von Menschen. Sie halten sich an den Händen, ihre Knöchel sind weiß, ihre Münder sind offen von dem immer weiter klingenden Lied. In der Mitte liegt ein kleines Mädchen. Es hält die Hand seines Vaters ganz fest und ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie sieht den nächsten Sonnenaufgang in ihrer eigenen kleinen Welt.