Sonnenaufgang
Anja hatte es eilig. Ihre Finger zitterten, als sie nacheinander einige Kleidungsstücke, ihren entmutigend dünnen Geldbeutel und das wenige Spielzeug ihres kleinen Bruders in den Rucksack warf. Was fehlte noch? Jonas‘ Fläschchen, Babynahrung, alles, was sie zum Wickeln benötigte... Nach kurzem Überlegen packte sie auch noch ihren alten Walkman und ein paar Kassetten ein. Ihre Bürste, Zahnputzzeug, Deo und verschiedenes andere wanderten ebenfalls in den Rucksack. Schnell sah sie auf die Uhr. Er war schon seit über einer Stunde weg, sie würde sich beeilen müssen, und auch Christoph konnte jeden Moment hier auftauchen. Er würde vielleicht nichts sagen, wie immer, aber falls er mitbekam was sie vorhatte, würde er sie sicher nicht gehen lassen - und wenn doch, dann nur ohne Jonas. Sie wollte den Kleinen erst im letzten Moment aufwecken, seine Welt würde noch früh genug auf den Kopf gestellt werden. Was sie vor allem anderen brauchte, war Geld. Ihre Mutter hatte einen größeren Betrag unter einem losen Brett im Flur versteckt, damit er es nicht finden und vertrinken konnte. Aber sie musste schnell machen, wenn jemand sie dabei überraschte, wie sie danach suchte, konnte sie alles vergessen. Zum Glück fand sie es sofort. Es war nicht so viel Geld, wie sie gehofft hatte, aber mit etwas Glück würde sie damit eine Weile über die Runden kommen. Hastig steckte sie es ein und nahm den Tragegurt, mit dem ihre Mutter bereits sie und Gregor getragen hatte. Er war noch in gutem Zustand, wie sie erleichtert feststellte. Es war ihr Alptraum, dass ein Gurt reißen und Jonas auf den Boden fallen könnte. Jetzt war der Moment gekommen. Wenn der Kleine nur nicht anfangen würde zu schreien! Vorsichtig hob sie ihn hoch, aber er sah sie nur verschlafen an, als sie ihn auf Gregors unbenutztes Bett legte um ihn zu wickeln. Gregor! Ihr Hals schien sich zuzuschnüren und nur mühsam drängte sie die Tränen zurück. Wo mochte er jetzt sein? Ob er wohl wusste, was sie tat? „Ich vermiss dich, kleiner Bruder“, flüsterte sie. Zehn Minuten später war sie soweit, fest entschlossen, alles hinter sich zurückzulassen, außer Jonas. Er schlief im Tragegurt, sein Köpfchen dicht unter ihrem Kinn. Sie war froh, dass er noch so klein und damit leicht genug für sie war. Entschlossen setzte Anja ihren Rucksack auf.und verließ den Raum. Es drängte sie, die Tür zum Zimmer nebenan zu öffnen und sich von ihrer Mutter zu verabschieden, aber sie wusste, dass sie das nicht riskieren konnte. Sie würde nicht versuchen sie zurückzuhalten, aber es war besser, wenn sie keine Ahnung hatte. Sicher würde er sie fragen, sobald er zurückkam, und Anja wollte für ihn nicht die allerkleinste Spur hinterlassen. Also ließ sie ihre Mutter schlafen und ging hinaus. Leise zog sie die Wohnungstür zu und ließ die schäbigen Tapeten, die schmutzigen Teppichböden und die abgeschlagenen Möbel hinter sich - ein für alle Mal. Das ungewohnte Gewicht vor ihrer Brust störte sie nicht, es war schön, ihren kleinen Bruder so nah bei sich zu haben. Von nun an würde sie sich um Jonas kümmern, und wenn sie auch nicht wusste wie, so war sie doch fest entschlossen, ihm eine bessere Zukunft zu bieten als die, die er hier gehabt hätte.
Ohne lange nachzudenken lenkte Anja ihre Schritte zum Bahnhof. Es waren nur ein paar Häuserblocks, die sie von dem Gebäude trennten. Über ihr Ziel hatte sie sich keine Gedanken gemacht, sie würde einfach den erstbesten Zug nehmen. Sie versuchte, nur an das Nächstliegende zu denken: Von der Straße zu kommen, ohne gesehen zu werden. Sie hatte Angst, dass er oder einer seiner Freunde auf einmal vor ihr stehen könnte, auf unsicheren Beinen, der Atem nach Alkohol stinkend, um sie am Arm zu packen und zurück in die Wohnung zu zerren. Oder dass plötzlich ein Paar Scheinwerfer vor ihr aufleuchten würde, das zu Christophs altem Ford gehörte. Doch sie kam unbehelligt bis zur Bahnhof. Auf der Anzeigetafel sah sie dass sie elf Minuten Zeit hatte, bis der nächste Zug fuhr der in Frage kam. Der Zielort war Berlin und sie beschloss, dass das ein guter Ort war um ein neues Leben anzufangen, genau wie jede andere Stadt auch, in der sie weit genug von ihm weg war. Anja war sich nicht sicher ob sie wirklich vorhatte, ihre Reise dort zu beenden, vielleicht würde sie auch noch weiter wegfahren, aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Das hatte Zeit, erst einmal musste sie diese Stadt verlassen. Am Schalter löste sie eine Fahrkarte nach Berlin und überlegte, was sie mit den nächsten Minuten anfangen sollte. Jonas schlief friedlich in seinem Tragegurt und bekam nichts von ihrer Nervosität mit. Weil es so spät abends war, war in der Wartehalle nicht besonders viel los, und die anderen Reisenden achteten nicht auf sie. Vermutlich hielten sie die, deren Blicke sie kurz streiften, für eine junge Mutter, die von einem Besuch bei ihren Eltern zurückkehrte. Zumindest versuchte Anja, sich das einzureden, aber trotzdem fürchtete sie ständig, dass jemand ihn kennen könnte und wusste, was sie vorhatte. Ihr war klar dass dieser Gedanke unsinnig war. Wahrscheinlich hatte noch niemand ihr Verschwinden bemerkt, aber ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die ganze Zeit versuchte sie, möglichst unauffällig und unbeteiligt auszusehen. Hätte jemand auf sie geachtet, wäre sie ihm vermutlich gerade deshalb aufgefallen, aber tatsächlich interessierte sich kein Mensch für das Mädchen mit dem kleinen Kind. Endlich kam der Zug. Sie bewegte sich mechanisch wie ein Roboter, bis sie endlich auf ihrem Platz saß. Fast glaubte sie, die anderen Passagiere müssten den Stein hören können der ihr vom Herzen fiel, als die Bahn anfuhr und durch die Dunkelheit glitt, durch Gegenden, die sie nur flüchtig kannte, und die Stadt hinter sich ließ. Es war eine Erleichterung, den Rucksack absetzen und den Tragegurt lösen zu können. Anja nahm Jonas in die Arme und spürte, wie sich ihre verkrampften Schultern- und Rückenmuskeln langsam entspannten. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. In ihrem Kopf zogen Bilder vorbei. Das Gesicht ihrer Mutter, wie sie es zuletzt gesehen hatte, blau und geschwollen. Er hatte sie übel zugerichtet, schlimmer als sonst. Sie fürchtete er könnte versuchen, die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Ganz sicher würde er sie eines Tages umbringen, aber sie konnte ihr nicht helfen. Mama hatte die Wahl selbst getroffen, als sie mit ihr und Gregor zu ihm gezogen war, und niemand konnte sie daran hindern, dasselbe wie Anja zu tun und zu verschwinden. Leider war es unwahrscheinlich, dass sie sich je dazu würde überwinden können. Anja verstand nicht, was sie bei diesem Mann hielt, doch sie konnte ihrer Mutter die Entscheidung nicht abnehmen, sie konnte sie nur für sich selbst treffen - und für Jonas. Unvermittelt tauchte Gregors Gesicht vor ihr auf und der Schmerz breitete sich in ihr aus wie eine Welle. Er war ihr einziger Verbündeter gewesen in dieser trostlosen Welt. Sie hatten immer zusammengehalten, aber da waren Dinge gewesen, bei denen sie ihm nicht hatte helfen können. Wie oft war er in der Schule gehänselt worden, ein schmächtiger kleiner Junge, der sich alles viel zu sehr zu Herzen nahm. Sie hatte versucht ihn aufzumuntern und hatte mit ihm Pläne geschmiedet, für später, wenn sie das alles hinter sich hätten, aber irgendwann war der Tag gekommen, an dem er es nicht mehr hatte ertragen können. Sie erinnerte sich an sein Gesicht, dass sie noch ganz kurz gesehen hatte, viel zu friedlich und bewegungslos, an das viele Blut und an das Tuch, dass sie über ihn gelegt hatten, bevor er weggebracht worden war. Anja hoffte, dass er sein freudloses Leben vergessen hatte, wo auch immer er jetzt war. Wenn es ihm nur gut ging, endlich, nach allem, was er hatte mitmachen müssen! Sie war stärker als er, viel stärker, und trotzdem hatte sie ihm nicht helfen können. Kaum konnte sie glauben, dass das alles erst gestern passiert war. Mit Gewalt drängte sie das Schluchzen zurück und sah Jonas an. Ihm sollte es besser gehen! Er sollte nicht dasselbe durchmachen müssen, und dafür wollte sie jetzt sorgen. Ob Christoph überhaupt merken würde, dass sie nicht mehr da war? Er hatte sich nie eingemischt, kein Wunder, immerhin war er sein Sohn. Vielleicht war er genauso. Sie konnte sich nicht daran erinnern dass er jemals unfreundlich zu ihr gewesen wäre, aber das war auch alles. Er hatte sich einfach aus allem herausgehalten. Und dann er! Einen anderen Namen hatte sie nie für ihn gehabt. Am Anfang hatte sie gedacht, sie könnten vielleicht ganz gut miteinander auskommen, bis sie ihn das erste Mal betrunken erlebt hatte. Dann hatte sie nur noch Angst vor ihm gehabt. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie oft er ihre Mutter geschlagen hatte, es war viel zu häufig passiert. Ihre Hoffnung, dass mit Jonas alles besser werden würde, hatte sich nicht erfüllt. Anja erinnerte sich daran, wie sie nachts ihre Zimmertür verbarrikadiert hatte, aus Angst, er könnte plötzlich hereinkommen. Er hatte ihr und Gregor niemals etwas getan, aber die Angst war immer dagewesen, und manchmal glaubte sie, sie hätte sich besser gefühlt, wenn er statt ihrer Mutter sie verprügelt hätte. Doch das lag jetzt alles hinter ihr. Dieser Gedanke tröstete sie etwas.
Christophs Vater war außer sich. Er schimpfte und fluchte, während er auf unsicheren Beinen im Zimmer auf und ab lief wie ein Tiger in seinem Käfig. „Dieses verfluchte kleine Miststück“, tobte er, „sie hat meinen Sohn entführt!“ Jessica machte nicht einmal den Versuch, ihre Tochter zu verteidigen, sie drückte sich nur noch etwas mehr in die Ecke, in der sie saß. Ihre linke Gesichtshälfte war blau und geschwollen, und auch das rechte Auge sah nicht viel besser auf. Das Atmen schien ihr Schmerzen zu bereiten. Christoph fragte sich, ob sie eine gebrochene Rippe hatte. „Ich werde die Polizei rufen“, verkündete sein Vater gerade, aber er wusste, dass er das nie tun würde. Vor allem jetzt nicht, da sich einen Tag zuvor sein Stiefsohn das Leben genommen hatte und seine Frau derartig zugerichtet war. Es hätte zu viele unangenehme Fragen gegeben. „Ich will meinen Sohn zurück“, verlangte er und drehte sich zu Christoph um. „Du wirst sie suchen! Schaff diese kleine Nutte wieder hierher, und zwar mit dem Kind!“ Christoph zuckte zusammen. Er hatte die Trinkerei seines Vaters nie gutgeheißen, aber in den letzten Monaten bekam er noch viel mehr als vorher den Eindruck, dass der Mann die Kontrolle über sich selbst und über sein Leben völlig verloren hatte. Er hatte mit Anja kaum je ein Wort gewechselt, aber dass sein Vater das Mädchen so beschimpfte, missfiel ihm. „Wo soll ich denn nach ihr suchen?“, fragte er und gab sich Mühe, ruhig zu klingen, „Hamburg ist eine große Stadt, und wer weiß, ob sie überhaupt noch hier ist.“ „Das ist mir egal.“ Der Zorn des Betrunkenen richtete sich jetzt gegen ihn. „Du bist doch ein intelligenter junger Mann! Lass dir was einfallen, aber komm nicht zurück, ehe du die beiden gefunden hast!“ Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer, Die Tür schlug mit einem Knall hinter ihm zu. Christoph atmete auf. Zumindest hatte er Jessica in Ruhe gelassen. Er hätte gern etwas zu ihr gesagt, etwas Aufmunterndes vielleicht, oder zumindest, dass er nicht für gut hielt, was sein Vater ihr antat, aber ihm wollte beim besten Willen nichts einfallen, was nicht hohl und lächerlich geklungen hätte. So drehte er sich nur wortlos um und ging. Er hatte es plötzlich sehr eilig, aus dem Haus zu kommen und ins Auto zu steigen. Wo er Anja und Jonas finden sollte, wusste er beim besten Willen nicht, aber zumindest konnte er der drückenden Atmosphäre in der Wohnung entkommen. Langsam fuhr er durch die dunklen Straßen und suchte mit den Augen die Bürgersteige ab, aber er entdeckte niemanden, der Anja auch nur im entferntesten ähnlich sah. Es war sinnlos, wie um alles in der Welt sollte er in dieser Stadt ein Mädchen und ein Kleinkind finden? Er hatte ja keine Ahnung, wie sie sich in so einer Situation verhalten würde, und ob sie Freunde hatte, bei denen sie sich möglicherweise aufhielt. Kurzzeitig überlegte er, ob ihr Vater wohl noch irgendwo existierte, doch dann fiel ihm ein, dass Jessicas erster Mann gestorben war. Sie hatte mal sowas erwähnt. War Anja in Panik aus dem Haus gerannt, oder hatte sie ihr Verschwinden geplant und möglicherweise bereits ein Ziel? Es gab nichts, was er über sie wusste. Christoph fühlte sich schuldig. Es war ein Fehler gewesen, sich aus allem herauszuhalten. Irgendwie hätte er seinen Vater davon abhalten müssen, Jessica zu schlagen. Er hätte zum Beispiel die Polizei rufen oder zumindest dafür sorgen können, dass Gregor nichts mitbekam. Er erinnerte sich noch deutlich an den entsetzten Gesichtsausdruck des Jungen. Einmal war er sogar auf den Mann losgegangen, bis seine Mutter ihn angeschrien hatte, er solle sich da um Himmels Willen heraushalten. Vielleicht hatte Gregor sich deshalb sogar von ihr zurückgewiesen gefühlt, obwohl sie ihn damit nur hatte schützen wollen. „Ich hätte mich mehr um ihn kümmern müssen“, dachte Christoph, „wenn ich ihm ein großer Bruder gewesen wäre, wäre es vielleicht anders gelaufen.“ Er wusste, dass Anja sich um Gregor gekümmert hatte, aber sie war ein Mädchen. Vielleicht hätte er ihn besser verstanden. Diese Gedanken quälten Christoph. „Ich hätte so vieles anders machen müssen“, dachte er. „Was mache ich eigentlich mit ihr, falls ich sie tatsächlich finde? Sie zu ihm zurückbringen etwa?“ „Und wenn du ihr hilfst?“, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Die Idee war hartnäckig und setzte sich immer mehr in ihm fest. Möglicherweise konnte er auf diese Weise etwas wieder gutmachen von dem, was geschehen war. Gregor würde er nicht zurückholen können, aber falls er Anja fand, konnte er zumindest dafür sorgen, dass sie und Jonas eine kleine Chance hatten, sich durchzuschlagen. So, wie sie aufgebrochen sein musste, würde sie nicht weit kommen, spätestens, wenn das Geld aufgebraucht war, würde sie sich etwas einfallen lassen müssen. Christoph wusste noch nicht genau, was er für sie tun könnte, aber er war sich sicher, dass ihm etwas einfallen würde, selbst wenn er ihr nur dabei half, noch ein paar Kilometer zwischen sich und seinen Vater zu bringen. Erst einmal musste er sie jedoch finden, und das war keine leichte Aufgabe. Er versuchte, sich in sie hineinzuversetzen. Was würde er an ihre Stelle tun? „Ich würde versuchen, soweit weg wie möglich zu kommen“, dachte er, „am besten mit dem Zug. Warum habe ich nur nicht gleich daran gedacht?“ Er wendete den Wagen und fuhr zum Bahnhof. Dort sah er sich den Fahrplan an. Anja konnte seit höchstens zweieinhalb Stunden weg sein. Einige Züge kamen in Frage, aber er ging davon aus, dass sie so früh wie möglich gefahren war, also nach Berlin. Vielleicht würde er genau in die falsche Richtung fahren, oder vielleicht war sie sogar noch hier. Außerdem hatte er immer noch keine Ahnung, wie er in einer Großstadt nach einem Mädchen und einem Kleinkind suchen sollte, doch es war das einzige, was er tun konnte. Obwohl Christoph inzwischen todmüde war, machte er sich auf den Weg nach Berlin.
Anja schlief die ganze Fahrt über. Zwischendurch wachte sie auf und gab Jonas die Flasche, und wenn der Zug an einem Bahnhof hielt, öffnete sie kurz die Augen, aber nach wenigen Minuten fielen sie ihr wieder zu. Jonas schien zu wissen, wie müde sie war, und verhielt sich ruhig. Er war zu klein um zu begreifen was geschah, aber der vertraute Duft und das Gesicht der Schwester über seinem sagten ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, und das genügte ihm. Als der Zug in den Hauptbahnhof von Berlin einfuhr, schlief Anja noch halb. Sie war so müde, dass sie keinen Gedanken daran verschwendete, wie es weitergehen sollte. Zuerst wollte sie sich nach einem günstigen Hotel umsehen und ein paar Stunden schlafen. Eine geeignete Unterkunft hatte sie bald gefunden, ein baufälliges, aber sauberes Gebäude in einer Seitenstraße. Die Frau an der Rezeption lächelte wohlwollend, als sie ihr den Zimmerschlüssel gab. „Wie alt ist Ihr Kind denn?“, fragte sie. „Offenbar hält sie eine sechzehnjährige Mutter nicht für ungewöhnlich“, dachte Anja, „aber vielleicht sehe ich auch einfach älter aus.“ „Er ist jetzt zehn Monate alt“, sagte sie und lächelte zurück. Dann stieg sie die Treppe hinauf und suchte nach dem Zimmer. Nachdem sie sich um Jonas gekümmert hatte, überlegte sie kurz, ob sie sich noch waschen und die Zähne putzen sollte, aber sie war so erledigt, dass sie sich stattdessen auf das Bett fallen ließ und sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
In Berlin angekommen, überlegte Christoph, was weiter zu tun sei. Vermutlich hatte Anja, falls sie tatsächlich hier war, zuerst nach einem Zimmer gesucht, um sich auszuruhen. Wenn er sie finden sollte, blieb ihm also nichts anderes übrig, als überall nach ihr zu fragen. Er dachte nach. Welchen Namen mochte sie angegeben haben? Den seines Vaters bestimmt nicht, aber wie hieß sie dann mit Nachnahmen? Endlich glaubte er sich zu erinnern, dass es etwas mit K und einem a war. Kaufmann vielleicht, oder Kramer... Er begann seine Suche mit einem heruntergekommenen Hotel, dessen Portier kaum die Augen offenhalten konnte und ziemlich unhöflich war. Er hatte nichts von Anja gehört oder gesehen. Erst im dritten Hotel hatte Christoph Glück. „Ach, Sie sind der Vater?“, fragte die ältere Dame an der Rezeption ihn, „so ein reizendes Kind! Ihre Frau ist in Zimmer Nr. 23. Wollen Sie den Zweitschlüssel?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, wissen Sie, ich will die beiden nicht wecken. Können Sie mir bitte einen anderen Raum geben?“ „Aber natürlich!“ Sie strahlte ihn an und er fragte sich, wie man so früh morgens nur dermaßen gut gelaunt sein konnte. Bei dem Gedanken, dass sie ihn für einen Familienvater hielt, musste er grinsen. Anja würde vermutlich ziemlich wenig davon halten, ihn im Zimmer zu haben, aber er war froh, dass er Nr.24, direkt nebenan, bekommen hatte. So würde er es jedenfalls hören, wenn sie wach war, und sie nicht verpassen. Vor ihrem Zimmer blieb er stehen und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Das Licht brannte noch, und auf dem Bett lag Anja. Sie trug noch ihre Kleider, nur die bereits ziemlich zerschlissenen Turnschuhe standen auf dem Boden. Ihr schulterlanges, hellbraunes Haar hing ihr wirr ins Gesicht, und neben ihr lag Jonas und schlief selig. Christoph lächelte, als er seinen Bruder sah. Dem Kleinen schien es gut zu gehen. Leise schloss er die Tür wieder und ging in das benachbarte Zimmer.
Christoph wachte davon auf, dass Jonas schrie. Die Wände in diesem Haus mussten ziemlich dünn sein. Gleich darauf hörte er undeutlich Anja beruhigende Stimme, und schließlich verstummte das Kind. Sie würden sicher noch eine Weile beschäftigt sein, dachte er, als er den Wasserhahn aufdrehte, doch trotzdem beeilte er sich. Es wäre zu dumm, wenn er die beiden verfehlen würde. Zehn Minuten später stand er vor der Zimmertür, aber er traute sich nicht, anzuklopfen. Plötzlich veließ ihn aller Mut. Was, wenn sie ihn hasste? Immerhin hatte sie allen Grund dazu, er hatte eine Menge Fehler gemacht. Wie sollte er ihr klarmachen, dass er sie nicht zurückbringen, sondern ihr helfen wollte? Energisch schüttelte er den Kopf, um die Zweifel zu vertreiben. Jonas war genauso sein Bruder wie ihrer, und wenn er ihr auch nicht gerade eine Hilfe gewesen war, so hatte er ihr doch zumindest nie etwas getan. Entschlossen hob er die Hand und klopfte an.
Anja starrte einen Moment lang fassungslos den dunkelblonden jungen Mann an, der vor ihr im Türrahmen stand, dann wich sie zurück. Angst stand in ihren Augen. Also hatte sie etwas falsch gemacht, jemand hatte herausgefunden wo sie war. Jetzt würde Christoph sie zurückbringen, und sie hatte absolut nichts erreicht, mal davon abgesehen vielleicht, dass er von nun an auch sie verprügeln würde. Was sollte aus Jonas werden? Würde mit ihm das selbe passieren wie mit Gregor? Das tote Gesicht ihres Bruders tauchte vor ihr auf und sie konnte nicht verhindern dass sie anfing, unkontrolliert zu zittern. Christoph hatte damit gerechnet, dass Anja ihn anschreien oder hinauswerfen würde, aber nicht damit, dass er ihr solche Angst einjagte. Es tat ihm weh festzustellen, dass sein Anblick für sie beinahe genauso schlimm sein musste, wie der seines Vaters. Ohne groß nachzudenken, hob er beschwichtigend die Hand und redete leise auf sie ein, fast, als wolle er ein verstörtes Tier beruhigen. „Es ist alles gut, Anja, ich tue dir nichts, wirklich nicht! Ich bin nicht gekommen um dich zurückzubringen, ich will dir helfen!“ Er sah, dass sie ihm nicht glaubte, dass sie es wohl wollte, aber nicht konnte. „Hör zu, ich habe viel falsch gemacht, dass weiß ich, aber ich würde dir nie wehtun wollen. Das mit Gregor tut mir leid, und ich will dass es zumindest Jonas gutgeht. Er ist doch auch mein Bruder!“ Sie nickte fast unmerklich, kam aber keinen Schritt näher. „Bitte, Anja!“ Er fühlte sich, als hätte er einen Mord begangen. „Du musst mir vertrauen. Es tut mir wirklich leid.“ Sie wandte sich ab. Christoph sah, dass sie weinte. Sie konnte einfach nicht mehr. So viel war in den letzten zwei Tagen passiert. Gregors Tod, das Gesicht ihrer Mutter, die Zugfahrt... Plötzlich war alles zuviel für sie. Es war ihr peinlich, dass sie weinte. Das letzte was sie wollte war, dass Christoph sie so sah. Er sollte gehen und sie in Ruhe lassen! Stattdessen stand er auf einmal hinter ihr und legte seinen Arm um sie. Sie wollte es nicht, aber schließlich drehte sie sich um, lehnte sie sich an ihn und ließ ihren Tränen freien Lauf. Er hielt sie fest und streichelte ihr vorsichtig über den Rücken, als versuchte er, ein kleines Kind zu trösten. Sie wusste nicht, wie lange sie so da standen, aber endlich ließ das Schluchzen nach. Er sah sie an. „Besser?“ „Ja“, sagte sie leise. Sie sah ihn an und wusste, dass er die Wahrheit sagte. Er würde ihr helfen, ihr und Jonas.
Sie packten ihre Sachen ein und gingen hinunter zum Auto. Es war noch ruhig in den Straßen, nur ein streunender Hund lief an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. „Wohin willst du?“, fragte Christoph. Er hielt seinen kleinen Bruder auf dem Arm. Sie hob die Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Ihre Augen waren noch immer rot vom Weinen. „Ich muss irgendeinen Arbeitsplatz finden, aber wer soll auf Jonas aufpassen?“ Ihr Stiefbruder grinste. „Wenn du willst, kann ich das Arbeiten übernehmen.“ Anja lächelte ein bisschen. „Ja, das wäre nicht schlecht. Aber ich will nicht hier bleiben.“ Christoph nickte. „Lass uns einfach fahren, wenn du einen Ort findest der dir gefällt halten wir an.“ Sie sah ihn an. „Wirklich?“ „Warum nicht?“, antwortete er. Er öffnete die Autotür und entriegelte das Schloss auf der Beifahrerseite. „Zuerst brauchen wir einen Kindersitz für den Kleinen hier.“ Vorsichtig reichte er ihr Jonas, dann ließ er den Motor an. Als der alte Ford die Stadt hinter sich ließ, konnten sie den Sonnenaufgang sehen.