Mitglied
- Beitritt
- 02.05.2003
- Beiträge
- 74
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Sonne
Sie war für ihn wie die Sonne.
Sie strahlte von Innen heraus. War nicht so gewöhnlich, grau in grau, wie die meisten Anderen in ihrem Alter.
Schön war sie, kein Zweifel. Er vergötterte sie. Auch wenn sie wohl nie etwas von ihm erfahren würde, sie war sein ein und alles. Er konnte die Beziehung zwischen ihnen nicht beschreiben. Es war keine gewöhnliche Beziehung. Oh nein, keineswegs. Eine gewöhnliche Beziehung basierte immer auf Gegenseitigkeit. Alles musste immer von beiden Seiten kommen. Bei ihnen war es mehr einseitig veranlagt. Was aber nicht an ihr lag. Sie wusste ja nichts von ihm. Was er auch nicht zu ändern gedachte. Würde sie von ihm erfahren, wäre sie sowieso nur wieder wie alle anderen. Nein, er wollte die Beziehung so weiterführen, wie bisher. Er wollte, dass sie anders war und auch blieb. Er selbst möchte sich verändern, aber sie, nein, sie blieb seine Sonne.
Sogar, obwohl sie ihn ein paar Mal heftig enttäuscht hatte. Oh ja! Er dachte mit Grauen an die seltenen Tage zurück, als sie einmal nicht ihren Spaziergang machte. Als sie einmal nicht an seinem Fenster vorbei ging. Nicht mit ihrem kleinen Dackel an der Ecke stehen blieb. Nicht danach hinter dem nächsten Block verschwand. Er hasste diese Tage. Er konnte sehr böse auf sie werden an solchen Tagen. Da musste sie am nächsten Tag dann schon viel Geduld aufbringen, um ihn wieder gut zustimmen. Aber er war ein gütiger Mensch und ausserdem konnte er ihr sowieso nicht lange böse sein. Sie war ja schließlich seine Sonne. Er brauchte sie. So wie sie vielleicht ihren Hund brauchte, so brauchte er sie. Nein, dachte er, das war kein guter Vergleich. Einen Hund konnte man nicht so sehr verehren, wie einen Menschen, oder? Ein Hund war nur ein Tier, nicht wahr? Ein Tier …
Er liebte sie. Nicht wie man seine Mutter liebt. Auch nicht wie man seinen Vater liebt. Nicht wie man seine Leidenschaften liebt, aber er liebte sie auf eine Art und Weise, die er gerne mit der Art ihrer Beziehung verglich. Es war eine einseitige Liebe.
Die einzige Liebe, die überhaupt auf dieser Welt existierte, wie ihm einfiel. „Komisch, komisch“, dachte er. „Wieso hat sie denn heute die rote Leine dabei?“ Das durfte doch nicht sein. Wusste sie denn nicht, dass er die grüne viel lieber möchte? Ach nein, ging es durch seinen Kopf, sie wusste ja gar nichts von ihm. Kannte ihn ja gar nicht.
Er wollte es nicht ändern. Eigentlich war er auch mit der roten Leine zufrieden, er wollte ihr schliesslich nichts vorschreiben. Wobei die grüne Leine natürlich doch viel besser zu dem süßen Dackel passte. Wieso konnte sie nur nicht auf ihn hören? Sie war eine Frau, das mochte es sein. Es war doch immer das Gleiche. Also wirklich! Er war enttäuscht. Aber dann blickte er wieder hinaus. Er konnte ihr nicht böse sein. Sie war doch seine Sonne. Er liebte sie.
„Es ist in Ordnung“, sagte er in Gedanken zu ihr. „Nimm die rote Leine. Die Grüne ist zwar schöner, aber mach dir nichts draus.“ Ist ja kein Weltuntergang. Er war glücklich. Sie spazieren zu sehen, war eine Wohltat für ihn. Sie war so aussergewöhnlich, so graziös, so wunderschön. Wie sie ihren Dackel elegant an ihrer Leine führte. Er fuhr sich mit seiner feuchten Handfläche nervös über den trockenen Mund.
Der Dackel machte brav sein Geschäft. Und die Leine war rot. Rot! Immer noch rot! Wusste sie denn immer noch nicht, war es ihr immer noch nicht klar, dass er die rote Leine nicht ausstehen konnte? Musste sie ihm den Tag vermiesen? Ihn in die Pfanne hauen? Hatte er das denn verdient? Wütend ballte er die Faust. Warum tat sie ihm das an?
Dann dachte er plötzlich an etwas. „Halt“, rief er sich ins Gedächtnis. „Nein“, schrie eine Stimme in seinem Kopf. „Sie ist deine Sonne, du kannst ihr nicht böse sein. Du liebst sie.“ „Richtig“, dachte er, „ich liebe sie, ich liebe sie wie die Art unserer Beziehung. Ja, ja!“ Er lächelte. Zog sich langsam seine Schuhe an. Streifte seinen Mantel über. Dann steckte er die Hausschlüssel ein und verliess das Haus.
An einem Sonntagmorgen, um kurz nach zwölf, wurde in einem kleinen Vorort einer grossen Stadt ein 17-jähriges Mädchen gewaltsam ermordet.
Das Mädchen war auf ihrem allmorgendlichen Spaziergang mit ihrem Hund gewesen, als sie in der Nähe eines Neubaugebietes gewaltsam in ein kleines Waldstück gezogen und dort aller Wahrscheinlichkeit nach, kaltblütig erdrosselt worden war. Die Familie des Mädchens steht unter Schock. Niemand in der Nachbarschaft kann sich erklären, wie solche Dinge gerade ihn ihrer Umgebung geschehen können. Und noch hat die Polizei keine Entwarnung gegeben. Bisher gebe es keine Hinweise auf den Täter und man sei nach wie vor auf Zeugenaussagen angewiesen.
Er zitterte am ganzen Leib. Er zitterte wie verrückt.
Warum war das passiert? Wieso hatte sie es provoziert? Er schüttelte den Kopf. Warum, warum nur? Seine Gedanken rasten wild durcheinander. Er schwankte, obwohl er sass. Vor seiner Zeitung. Er schwankte. Wie konnte das sein? Wie konnte er schwanken? Er wusste es nicht. Was passierte? Er blickte zum Tisch. Sah die Zeitung, sah die Brille und die Schatulle, das Messer. Messer? „Welches Messer?“, schoss es durch seinen Kopf. Er sah es an, Blut war daran, viel Blut. Es fiel ihm ein. Ach, das Messer. Er schwankte noch mehr. Hin und her. Irgendwie fühlte er sich gut. Er wollte das Messer anfassen, es berühren. Er bewegte seinen Arm. Und zog ihn wieder zurück. Das tat weh. Er blickte seinen Arm an und sah das Blut. Das viele Blut, das aus seiner Pulsschlagader heraus floss. Er sah genauer hin. Was war los? Er konnte nichts mehr sehen. Alles verschwamm. „Das war`s“, dachte er, „jetzt ist es vorbei.“
Er sah noch einmal genauer hin. Sein Arm war weg. Alles war weg. Er sah nur die Leine, die rote Leine. Unglaublich. Und er sah sie, seine Sonne. Sie hatte die grüne Leine, sie hatte sie, hielt sie in ihren Händen. Er blinzelte, versuchte sich zu konzentrieren.
Lächelte sie?
„Nein“, dachte er und er wusste, was es war. Zufrieden seufzte er und liess sich gehen.
Er starb.
Was er gesehen hatte war kein Lächeln gewesen, es war ein Leuchten. Das Leuchten.
Sie leuchtete, von innen.
Sie war seine Sonne.
Ben Wieland