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Sonne, Sand, IntelliCam

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Beitritt
15.04.2002
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Sonne, Sand, IntelliCam

»Nein, das fotografiere ich nicht.«
Ich schaue meine Digicam böse an. »Wieso?«
»Zuviel Haut.«
»Aber sie trägt einen Badeanzug! Mit Blümchen!«
»Das Verhältnis zwischen Haut und Stoff liegt außerhalb der vorkonfigurierten Parameter.«
»Das liegt an ihrem Übergewicht...«
»Wieso willst du sie dann überhaupt fotografieren?«
»Sie ist meine Verlobte!«
»Wilhelm? Ist was?«
Ich setze mein bestes Bänker-Lächeln auf. »Alles in Ordnung, mein Goldstück!«
Wieder schnarrt die Kamera mit ihrem bassfreien Blechknarz: »Wie wäre es mit der da drüben?«
»Wo?«
»Na, die mit der Tasche.«
Ich halte Ausschau, dann sehe ich, wen meine Digicam meint. »Sittenpolizei!« Energisch tue ich so, als hätte ich nie hin gesehen. »Lieber nicht.«
»Sie ist gerade recht günstig beleuchtet.«
»Wilhelm? Warum dauert das so lange? Sind die Batterien schon wieder leer?«
»Nein nein«, rufe ich und ergänze leise: »Leider nicht.«
Mein Goldstück hat mich nicht verstanden. »Ich hab Ersatzbatterien in meiner Tasche!«
»Früher haben die Kameras bloß die Belichtung korrigiert, und jetzt bevormundet ihr mich bei der Bildauswahl!« Ich überlege, ob ich die Kamera einfach ins Meer werfen soll. Irgendwo in der Schublade muss noch das Vorgängermodell liegen. Das hatte zwar auch schon den Sittenfilter, aber dafür kursierte irgendwo im Unternet ein Patch, der freilich illegaler war als die Sexualpraktiken meiner pubertierenden Tochter.
»Aufgrund der unbestreitbaren Notwendigkeit der Verbesserung des Jugendschutzes wird die Herstellung pornografischen Materials unterbunden«, plappert die Digicam.
»Von wegen Pornografie«, brumme ich und erinnere mich an meine eigenen Sexualpraktiken. Plötzlich merke ich, dass mich die Sittenpolizistin anstarrt und denke schnell an brave Gartenzwerge mit roten Zipfelmützen.
»Ausschließlich staatlich legitimierte medizinische Organisationen dürfen Informationen zu sexualwissenschaftlichen Themen...«
»Ich hab's verstanden«, fahre ich der Digicam in die ideologische Ansprache, »und jetzt schalt ab, du ... Fertigungsversehen!«
»Wilhelm!« Goldstück ragt entrüstet vor mir auf. »Du kannst doch das arme Gerät nicht beleidigen! Wahre deine Contedings! Wir sind hier doch nicht in der Bank!«
Ich küsse eines des Blümchen auf ihrem Badeanzug. »Zum Glück«, hauche ich und schiebe ihr die Digicam unter den Badeanzug. »Weg mit der modernen Technik.«
Ein schriller Pfiff unterbricht mich. Ich fahre zusammen, und im nächsten Moment dreht mir die Sittenpolizistin den Arm auf den Rücken. »Intime Handlungen in der Öffentlichkeit! Sie sind festgenommen!«
»Aber sie ist meine Verlobte!«, bringe ich hervor.
»An diesem Strand sind intime Handlungen nur Verheirateten gestattet, die die nötige Gebühr entrichtet haben. Das Schild nicht gesehen zu haben, ist keine Ausrede.«
Die Polizistin greift viel zu fest zu und riecht furchtbar nach Schweiß, kein Wunder in der Uniform.
»Wilhelm!«, heult mein Goldstück, »ich wusste nicht, dass ich mit einem Sittenstrolch zusammen bin! Ich reise sofort ab!« Und dann sehe ich nur noch ihren geblümten Rücken.
Von irgendwo höre ich ein metallisches Kichern, das sich langsam entfernt.

 

Hallo Uwe!

Der Sittenfilter ist wohl eine Weiterentwicklung der Gesichtserkennung. Und wenn man bedenkt, dass bei den Handykameras für den japanischen Markt das (künstliche) Verschlussgeräusch nicht abschaltbar ist, mit der Begründung, damit Frauen nicht heimlich fotografiert werden können, beschreibt deine Geschichte eine Szene aus einer durchaus möglichen, nahen Zukunft.
Blöd nur, das so eine zukünftige Kamera immer noch Batterien braucht. Da hättest du dir was anderes einfallen lassen können, z.B. eine Mikro-Wasserstoffzelle.
Eine Kamera, die Motivvorschläge zum Besten gibt, würde sicher bei so manchem Möchtegern-Fotografen die üblichen Bildkatastrophen verhindern. Wäre also eher Begrüßenswert.

Die satirische Aufbereitung eines SF-Themas entspricht nicht gerade meinem Geschmack, aber eine andere Variante fällt mir (in diesem Fall) dazu auch nicht ein.

»Wilhelm!«, heult mein Goldstück, »ich wusste nicht, dass ich mit einem Sittenstrolch zusammen bin! Ich reise sofort ab!«
Das gefällt mir gar nicht. "Wilhelm" würd ich streichen, denn der Rest scheint doch eher an die Sittenpolizistin gerichtet. Statt "heult" würd ich "jammert" einsetzen. Eigentlich kann man keine Sätze heulen.

Wahre deine Contedings! Wir sind hier doch nicht in der Bank!«
:lol:

Gruß

Asterix

 

Danke für eure Kommentare :)

Natürlich ist das ziemlich übertrieben, aber es ist ja auch eine Satire.

@Asterix: Wenn Du meinst, man könne einen Satz nicht heulen, hast Du meine Cousine noch nicht gehört... meist nannten wir sie nur "Sirene". Du weißt schon, damals, als es noch mittwochs Probealarme gab.

Was die Batterien angeht: Schaut euch mal den Fortschritt der letzten Jahrzehnte an. Gut, die fetten 4,5-Volt-Blöcke sind vom Markt, andererseits verdienen sich Hersteller mit proprietären Akkus, die nur ein Jahr halten, ne goldene Nase, und Solaruhren waren auch nur während der 80er mal kurz cool.

Nee, der Nachfolger der Batterie wird bestimmt länger auf sich warten lassen als die Sittenpolizei :p

 

Hi Uwe,

Ganz hübsche Sommerlochgeschichte.
Da paßt es irgendwie, dass der SPIEGEL das Titelthema mit der Flugzeugelektronik hat.
Da geht es auch um die Bevormundung des Menschen durch die Technik.

Grüße aus dem Land der infunktionellen Klimaanlagen (8 Uhr und schon 35 Grad) sendet
Der Proxi

 

Ts!

Kaum bin ich vierzehn Tage im Urlaub, schreibt der Herr Post eine wunderbare Satire zu einem Thema, das jeder Urlaubshobbyfotograf nachvollziehen können sollte. Manchmal glaube ich, dass moderne Kompaktkameras manchen ihrer Besitzer im IQ-Wert locker schlagen.
Passt zu den Vorstellungen der Gates´und Googles dieser Welt, flächendeckend Zensurfilter einzubauen.

Mein tiefempfundener Neid ist dir sicher ;).

Allerdings ist mir die Reaktion des Goldstücks etwas zu doll aufgetragen, da das gesellschaftliche Umfeld der Handlung nur sehr schemenhaft gezeichnet ist.

Fazit: Schöner Schmunzler.

lg
Dave

 

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