Sommersonne
Jammernd vor Schmerz kroch er durch die schmalen und eisigen Gänge im Inneren des verschneiten Gipfels. Er kam nur langsam voran. Seine Glieder, unbeweglich von der Kälte, krachten bei jeder Bewegung. Sein stechend kalter Atem verwandelte sich sofort zu eisigem Nebel, der sich, wie hunderttausende kleiner Kristalle, auf seiner blau gefrorenen Haut niederließ. Er jammerte, heulte und schrie. Er musste sich beeilen. Das tödliche Wasser begann an ihm herunter zu laufen. Es bahnte sich den Weg über seinen kalten Körper und hinterließ pochende Wunden. Vorsichtig schaute er hinter sich. Fußabdrücke aus Wasser auf dem dunklen Steinboden. Überall waren sie. Er atmete laut aus und versuchte schneller zu laufen. Doch seine Gelenke, wie versteinert von der ewigen Kälte, verboten es ihm und er wurde wieder langsamer. Der Weg war nicht mehr weit, bald hatte er den Gipfel erreicht. Stand ihr Gegenüber. Ihr. Derjenigen, die ihn töten wollte, wie jedes Jahr. Immer und immer wieder, ohne Gnade oder Mitleid. Doch heute schlug seine Stunde, er war vorbereitet und wusste wie er sie schlagen konnte. Er musste sich nur beeilen. Wie ein Wurm kroch er weiter und quetschte sich schließlich seufzend aus einem schmalen Ritz im Fels ins Freie.
Ein Erleichterungsschrei ließ den Gipfel erschaudern. Er dehnte sich, streckte die geschundenen Glieder und setzte sich erschöpft auf den eisigen Schnee, der ihm frische Kraft spendete. Er sog die Kälte in sich auf. Doch plötzlich wurde er geblendet. Geblendet von einem einmalig hellen und warmen Licht. Die gigantisch große und strahlende Sonne kam hinter den dunklen Wolken hervor und tauchte die trostlose Szenerie in pure Wärme. Er schrie auf, hob die Hände vor die geblendeten Augen und schaute weg. Er war erschüttert von ihrer Größe und Stärke. Das eisige Wasser lief, in immer größer werdenden Strömen, an ihm herunter. Winselnd erhob er sich dann und stand ihr gegenüber. Sie lachte ihn an mit ihrer mörderischen Hitze und brannte tiefe Wunden in seine nasse Haut. Doch er konnte nicht aufgeben und sie gewinnen lassen. Das würde sein Ende bedeuten. Er musste kämpfen. Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll streckte er sich und stand schließlich in vollendeter Größe vor ihr. Für einen kurzen Augenblick war die Sonne irritiert und ihre sommerbringenden Strahlen verblassten. Sie zuckte zurück, um sich jedoch im selben Moment wieder zu fangen und zu alter Stärke aufzutrumpfen. Er nutzte die Situation sofort und stampfte fest mit dem Fuß auf den noch gefrorenen Boden auf. Die Erde bebte und die schwarzen Wolken bäumten sich zu undurchdringlichen Wänden auf, die ihr helles Licht verdeckten. Die Schmerzen ließen für einige Momente nach. Er musste gewinnen. Noch hatte er genügen Kraft. Er holte tief Luft und atmete eiskalten Wind aus, der sich blitzschnell seinen Weg durch die Wolken bahnte. Die Sonne versuchte auszuweichen, wurde jedoch von ihm abgebremst und geschwächt. Der Wind wirbelte um sie herum und löschte ihre Hitze langsam aus. Er lachte hämisch „Dieses Mal wirst du nicht gewinnen, Sonne!“ Sein Fuß stampfte erneut auf und die Wolken erzitterten ehrfürchtig. Sie gehorchten ihm und ließen erst wenig, dann immer mehr, eisigen Schnee herabfallen. Die Sonne stöhnte schmerzerfüllt, als die tänzelnden, weißen Flöckchen auf sie hinabfielen und ihre Strahlen erlöschten. Sie durfte nicht verlieren, sonst kam dieses Jahr kein Frühling oder Sommer über die Landschaft. Die Bäche blieben gefroren, die kahlen Bäume ohne Blätter, die Tiere würden weiter schlafen und die Menschen wären ratlos wie sie, ohne Ernte, den ewigen Winter überleben sollten. Es gab keinen anderen Weg. Sie musste gewinnen.
Sie sah herab auf ihn und sammelte all ihre Stärke in sich. Sie spürte wie die Hitze in ihr aufstieg und nach draußen drang. So hell und warm wie nie leuchtete sie und ließ den rieselnden Schnee noch während des Falls schmelzen. Ihre Strahlen durchbrachen die schwarze Wolkenwand, zerschnitten sie problemlos. Sie konzentrierte sich stark und verbrauchte viel Kraft. Doch es lohnte sich und sie stand ihm wieder gegenüber. Mit einem lauten Seufzer wuchs sie erneut ein Stück und blendete ihn. Er jammerte und brach zusammen. Er stöhnte vor Schmerz. Unmengen von Schmelzwasser strömten an ihm herab. Ein letztes Mal versuchte er aufzustehen, setzte sich in den matschigen Schnee und blies ihr kalten Wind entgegen, der jedoch nichts mehr bewirken konnte. Er verbrauchte seine restliche Kraft für einen lauten Schrei. Ein Schrei der ihn in den Tod begleitete. Der Winter schmolz und ergoss sich als dünnes Bächlein über den aufgetauten Fels. Die Sonne vertrieb die dunklen Wolken, die sich ängstlich verzogen und den Himmel strahlend blau hinterließen. Nächstes Jahr würde es wieder soweit sein. Ein neuer Kampf stand bevor, doch daran verschwendet sie jetzt keinen Gedanken. Schließlich gab es viel zu tun für sie...