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- 19.06.2001
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Sommerregen
SOMMERREGEN
Prolog
Kein einziges Geräusch war zu hören. Die Eule beobachtete stumm ihr Opfer. Die Maus bahnte sich den Weg durch das Unterholz. Sie hielt kurz inne und schnupperte an einer Kastanie, die irgendwann einmal von dem mächtigen Baum gefallen war, in dessen Geäst der Jäger lauerte, bereit, schnell und geräuschlos mit tödlicher Präzision sich auf den kleinen Nager zu stürzen. Die Eule breitete die Flügel aus. Gleich würde sie die Nahrung für ihre Jungen reißen, die eine Meile entfernt hungrig in einem gut gesicherten Nest auf sie warteten. Stumm flog sie los, zielstrebig auf die Maus zu, die nichts von dem nahenden Unheil wußte und gierig an der Kastanie knabberte. Sekundenbruchteile, bevor die Eule ihre scharfen Krallen in den weichen Körper der Maus bohren konnte, knackte in der Nähe ein Ast. Die Maus rannte blitzschnell davon, gerade noch rechtzeitig, um der Eule zu entkommen, die ins Leere griff und mit einem wütenden Schrei wieder zurück zum Baum flog. Andere Vögel, aufgeschreckt durch den plötzlichen Lärm, stoben aus den Baumkronen und flogen in alle Himmelsrichtungen. Die Eule saß wieder auf dem Ast. Ihre scharfen Augen konzentrierten sich auf die Richtung, aus der das Knacken des Astes gekommen war.
Keuchend schleppte er die Last durch den Wald. Es war stockdunkel. Die dicht stehenden Bäume ließen es nicht zu, daß der Schein des Mondes die Umgebung etwas erhellte. Er hörte ein Geräusch. Es kam von einem der Kastanienbäume. Kurz blieb er stehen und lauschte. Nur ein Vogel, dachte er und ging weiter. Es war nicht mehr weit. Bald würde er den See erreicht haben.
Die Eule sah der Gestalt nach, die durch den Wald lief und auf ihren Schultern etwas trug. Neugierig geworden flog sie der Gestalt hinterher. Der Ärger über die sicher geglaubte, im letzten Moment verloren gegangene Beute, war weg. Ihr Verstand ließ es nicht zu. Schließlich hatte die Eule einen See erreicht. Sie flog zu einem abgestorbenen Baum und landete sicher auf einem der dickeren Äste. Interessiert beobachtete der Vogel die Gestalt, die sich am Ufer des Sees ihrer Last entledigte...
Achtlos ließ er die Last auf den Boden fallen. Obwohl sie für ihn wertvoll gewesen war. Es spielte keine Rolle mehr. Der Junge war tot. Er hockte sich hin und fuhr durch das matt glänzende Haar des Kindes. Die Sicht am See war erheblich besser als im Wald. Er konnte kleine leuchtende Punkte erkennen, die über dem Wasser schwebten. Glühwürmchen, auf der Suche nach ihresgleichen, um die eigenen Gene weiterzugeben. Fortpflanzung, dachte er. Etwas, was der kleine tote Junge vor ihm auf dem schlammigen weichen Boden niemals erfahren würde. „Dabei ist es so schön.“ flüsterte er lächelnd. Langsam glitten seine Finger über das Gesicht. Diese offenen, leblosen Augen. „Du bist auch schön.“ Der tote Blick des Jungen spiegelte das Entsetzen wider, was diese Augen als Letztes gesehen hatten. Er schluckte und hustete leicht. Der Körper des Jungen war von unzähligen blauen Flecken und Blutergüssen bedeckt. Die Arme waren unnatürlich seitwärts gebogen. Das Blut an der Stelle, wo vor wenigen Tagen sich noch die Ohren befunden hatten, war getrocknet. Er wußte es selbst nicht, warum er das tat. Immer und immer wieder. Es war gegen jede Logik, gegen jede Vernunft. Aber er mußte etwas von seinen Opfern behalten. Gott, dachte er und grinste das Spiegelbild des Mondes an, das auf der Oberfläche des Sees seltsam entstellt wurde. Er schloß die Augen des Jungen. Dann beugte er sich über die kalten Lippen und küßte sie sanft. „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme...“ Stumm beendete er das Gebet und legte seine Arme um den Jungen. Ächzend stand er auf, den toten Jungen in seinen Armen haltend. „Amen!“ murmelte er und warf den Leichnam in den See. Es war sein erstes Opfer. Viele würden folgen. Es fing an zu regnen...
Die Eule sah zu dem Ding, was noch einige Zeit an der Wasseroberfläche trieb und sich immer mehr vom Ufer entfernte. Die Gestalt war weg. Schließlich war das Ding verschwunden. Die Eule ging aufgeregt auf dem Ast hin und her. Dann hörte sie ein leises Rascheln und widmete sich wieder der Jagd. Sie flog davon. Der See, dessen Oberfläche funkelte, als ob Hunderte von Sternen zwischen den kleinen Wellen tanzten, die der aufkommende Wind gebildet hatte, war kurze Zeit später vergessen. Der Verstand der Eule ließ es einfach nicht zu...
01
„... und dabei sagte Pete Meyer noch, daß die Wirtschaftsdaten im Sommer stabil...“ Harold Foster schaltete das Autoradio ab und lehnte sich zurück. Gott, was für ein Scheißtag. Es regnete. Dicke Tropfen prasselten monoton gegen die Scheiben und auf das Dach. Sie hörten sich wie Schüsse aus einem Maschinengewehr an. Harold schloß seine Augen und hörte dem Regen zu. Und das Donnern? Wie in Vietnam, dachte Harold. Er öffnete wieder seine Augen und für einen kleinen Augenblick fühlte er sich zurückversetzt in den Graben, neben ihm tote und verwundete Kameraden, die voller Angst um ihr Leben schrien, während der Feind immer näher kam. Durch die Windschutzscheibe hindurch sah Harold, wie eine verschwommen wirkende Gestalt auf das Auto zulief. Er kurbelte das Fenster herunter. Es war seine Frau.
Julia sah Harold fragend an. „Du sitzt seit zwanzig Minuten im Auto. Ich habe es sehen können.“ Irgendwann war es ihr zuviel geworden und war kurz entschlossen aus dem Haus gerannt. Sie wußte, daß Harold ab und zu einige Zeit für sich brauchte. Aber zwanzig Minuten waren einfach zuviel. Und mehr als seltsam. Sie stand neben dem Wagen und wischte sich das nasse Haar aus dem Gesicht. „Alles in Ordnung mit dir?“
Er nickte. „Ja. Ich komme gleich. Geh doch wieder zurück. Du bist ganz durchnässt, Schatz.“ Harold lächelte sie an. Julia wollte etwas sagen, aber er kurbelte das Fenster wieder hoch.
Julia schüttelte den Kopf und ging mißmutig wieder zurück. Irgendwas ist mit ihm, dachte sie. Und es fällt ihm schwer, es mir zu sagen.
Die Fosters wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus am Ende der Straße, gleich neben dem seit Jahren leerstehenden Haus, in dem sich Gerüchten zu folge ein Mann namens Dave Hubble erschossen hatte. Sich, seine Frau und die drei gemeinsamen Kinder. Die Fosters hatten ihr Haus von Julias Eltern geerbt, die beide durch einen Autounfall ums Leben gekommen waren. Julia verdiente etwas Geld durch den Verkauf von selbstgemalten Bildern. Landschaftsaufnahmen, Sonnenuntergänge am Meer, romantische Lichtungen. Sie wußte, daß es Kitsch war. Aber solange es Geld einbrachte, war es ihr egal. Harold war leitender Angestellter der Minton Bank, dem einzigen Kreditinstitut der kleinen Stadt, und bezog ein gutes Einkommen. Beide verdienten genug, um ein einigermaßen sorgenfreies Leben führen zu können.
Sie stellte ihm eine Tasse Kaffee hin. „Was ist denn los, Harold?“ Sie versuchte, besorgt zu klingen.
Harold nahm die Tasse und trank einen Schluck. Langsam setzte er sie wieder ab. „Wie sage ich es dir am besten? Die ganze Zeit habe ich schon überlegt. Auf der Heimfahrt, vorhin im Auto... Ich...“ Er runzelte die Stirn.
„Sag es einfach. So schlimm wird es schon nicht sein.“
„Hm...“ Harold schluckte. Dann holte er tief Luft und sagte: „Die Bank hat mir heute gekündigt.“ Es war raus. Er konnte nicht glauben, daß es ihm so einfach über die Lippen gekommen war.
„Gekündigt?“ fragte Julia und setzte sich. „Aber...“
„Einige Stellen wurden, wie hat es Bob formuliert...?“ Er überlegte kurz. „Wegrationalisiert. Er sagte, der Vorstand in Virginia hätte beschlossen, daß alle Angestellten in den kleineren Filialen nur noch direkt vom Bankchef geleitet werden. Somit sind die einzelnen Abteilungsleiter überflüssig. Und es betrifft ja nicht nur mich. Sarah und Gabriel haben ebenfalls den Job verloren.“ Traurig sah er zu Julia.
„Gekündigt.“ flüsterte sie. Sie hatte mit sonstwas gerechnet, aber das?
„He.“ Harold nahm ihre Hand und streichelte sie zärtlich. „Jeden Tag verlieren irgendwo Menschen ihren Job.“
„Das mag sein. Aber hier in Minton ist es nicht gerade einfach, Arbeit zu finden.“ Er antwortete nicht darauf. „Harold?“
„Ja?“
„Weißt du...“ Sie sah ihn kopfschüttelnd an. „Weißt du, wir werden das schon schaffen. Wir haben keine Schulden, etwas angespart. Dann hab ich ja noch meine Bilder. Naja...“
Harold lächelte. „Ich werde schon was finden. Wir sollten Conny erst mal nichts sagen.“
„Nun, sie kommt morgen von der Fahrt zurück.“
„Ja.“ Er wußte, was Julia gleich sagen würde.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Es regnete und der Donner war lauter geworden. „Ich schätze, das Gewitter wird heute Nacht direkt über uns sein. Noch ist es weit weg. Und der Regen?“ Sie sah hinaus. Dicke Tropfen prasselten an die Scheiben. „Er wird laut der Vorhersage noch einige Zeit andauern. Und irgendwie denke ich, alles hat seine guten Seiten.“ Sie drehte sich zu Harold um. „Dann können wir beide auf Conny aufpassen.“
„Ja.“ sagte Harold, stand auf und ging zu seiner Frau. „Das werden wir.“ Er drückte sie an sich.
Julia unterdrückte den aufkommenden Drang, weinen zu müssen. Sie dachte an ihre kleine Tochter, die morgen von der Schulfahrt heimkam. Sie dachte an Harold und an sich. An die Zukunft, wie es weitergehen würde. Und sie dachte an die fünf Kinder, die in den letzten zwei Monaten spurlos verschwunden waren...
02
Frank Julian, den eigentlich alle nur Jules nannten, hatte Mühe, den Schulbus einigermaßen in der Spur zu halten. An einigen Stellen der Straße hatte sich durch den heftigen Regen der Belag aufgelockert. Die Straße wurde unterspült. Verdammte Einsparungen, dachte Jules. Hinzu kam der Lärm im Bus, der ihm einiges an Konzentration beraubte. Aber es waren nun einmal Kinder. Seufzend trat Jules etwas auf die Bremse, um die nächste Kurve gefahrlos zu meistern. „Zehn Minuten noch, Jimmy.“ sagte er zu dem jungen Mann, der in der ersten Reihe saß.
„Okay, Frank.“ Jim Mangold, der Erdkundelehrer der Minton School, stand auf. Er mußte sich an den Sitzen festhalten. „Kinder!“ rief er in den Lärm, bestehend aus Lachen, Schreien und Brüllen, hinein. „Kinder!“ Er wurde lauter. Schließlich hatte er erreicht, daß die Kinder ihn mit einer Mischung aus Interesse und Langeweile ansahen. „In zehn Minuten sind wir in Minton. Wer nicht von seinen Eltern abgeholt wird, bleibt beim Bus. Jules und ich werden dann diejenigen direkt zu Hause absetzen. Habt ihr mich verstanden?“ Alle nickten. Jeder wußte, was in den vergangenen Monaten passiert war. „Gut.“ Mangold setzte sich wieder hin. Sekunden später begann der Lärm von neuem.
„Der schwarze Mann wird dich holen!“ drohte Luke dem kleinen Mädchen, das in der letzten Reihe saß. „Er wohnt neben euch in dem verlassenen Haus!“ Er machte eine Fratze. „Direkt neben dir, Foster! Der schwarze Mann holt dich und...“ Eine kräftige Hand packte ihn am Arm und schob ihn weg. „He...“
Brian Cromwell setzte sich neben Conny Foster. „Nimm den Spinner nicht so ernst, Conny.“ sagte er zu ihr. Er sah zu Luke und deutete ihm an, Leine zu ziehen. Mit einem verächtlichen Lachen entfernte sich Luke und setzte sich weiter vorn neben seine Freunde. „Hör nicht auf ihn. Das mit dem schwarzen Mann ist Blödsinn.“
„Ich weiß.“ sagte Conny. Sie war ein schweigsames Mädchen.
Brian sah sie an. Vielleicht war es sein manchmal überbordender Gerechtigkeitssinn gewesen, daß er Luke weggezogen hatte. Nun saß er neben Conny Foster. Das Mädchen, was niemand so recht leiden konnte. „He... Gern geschehen.“ brummte er. Als er wieder zu seinem Platz wollte, zog Conny ihn zurück. „Was ist?“
„Danke, daß du dich für mich eingesetzt hast, Brian.“ sagte sie so leise, daß nur er es hören konnte.
Brian zuckte mit den Schultern. „Es war eine ungerechte Situation.“ Er stand auf. „Wir sehen uns morgen in der Schule, Conny.“ Ohne ein weiteres Wort von ihr abzuwarten ging er zurück zu seinem Platz.
Bis morgen, dachte Conny. Sie sah nach draußen. Der graue Himmel wirkte deprimierend auf sie. Und dazu dieser Regen...
Julia und Harold Foster, und mit ihnen fünfzehn andere Eltern warteten auf den Bus. „Scheint wohl Verspätung zu haben. Bei dem Wetter...“ sagte er knapp. Einige pflichteten ihm bei.
„Oder der alte Jules hat sich verfahren.“ rief Woddy Gershon. Keiner lachte. „Es war ein Witz, Leute.“ sagte Woody verärgert und winkte ab. Dann wurde ihm klar, was er gesagt hatte. Scheiße. Denk vorher darüber nach, wenn du den Mund aufmachst, ärgerte er sich.
„Da! Da hinten kommt er.“ Judy Hafner zeigte zur Straße. „Gerade mal fünf Minuten zu spät.“
„Okay, okay! Einer nach dem anderen.“ Mangold wies Jules an, die Tür zu öffnen. „Und ab zu euren Eltern. Denkt daran, wer nicht abgeholt wird, bleibt beim Bus!“ Er bezweifelte, daß auch nur ein einziges Kind seinen Worten Gehör geschenkt hatte. Nach und nach verließen die Kinder den Bus und liefen zu ihren Eltern, die ihre Söhne und Töchter liebevoll in den Arm nahmen und schnell den Schulhof verließen. Als einziger blieb Brian zurück. Mangold ging zu ihm. „Okay, Brian. Jules und ich fahren dich nach Hause. Steig wieder ein, okay?“
„Ist schon gut, Mr. Mangold. Ich kann auf mich allein aufpassen.“ Brian hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah Mangold trotzig an. „Ehrlich, Sie müssen mich nicht nach Hause fahren.“
Der Lehrer schüttelte den Kopf. „Brian, du weißt, daß ich das nicht zulassen werde. Was glaubst du denn, was dein Vater sagen würde?“
„Nur, weil er der Oberbulle hier in Minton ist...“ murmelte der Junge.
„Brian?“
Jules war aus dem Bus gestiegen. „He, Brian. Nun mach schon. Ich will auch nach Hause, verdammt!“
„Immer mit der Ruhe, Jules!“ rief Mangold ihm zu. Der schüttelte den Kopf und stieg wieder in den Bus. „Brian? Na los, steig ein.“ Er legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. „Vorhin im Bus, als du der kleinen Foster geholfen hast. Das war richtig gut, weißt du?“
Brian schüttelte die Hand ab. „Lassen Sie mich in Ruhe!“ schrie er und rannte davon.
„Brian! He!“ Scheiße. Ist der Junge verrückt geworden? Ihm mußte doch klar sein, daß hier irgendwo ein krankes Arschloch sein Unwesen trieb, verdammt! Er kann doch nicht einfach... „Jules! Warten Sie hier!“ rief er. Dann lief Mangold dem Jungen fluchend hinterher.
„Shit!“ murmelte Jules und setzte sich wütend auf den Fahrersitz. Der Junge ist wie sein Vater, dachte er. Gerecht, aber unangepaßt. Der einzige Unterschied zwischen Brian und George Cromwell war der, daß Brian kein Alkoholiker war. „Verfluchter Mist.“ murmelte Jules wieder. Und was wird das denn? Er sah, wie ein Mann durch den dichten Regen hindurch langsam auf den Bus zukam...
03
Conny saß auf dem Rücksitz des Wagens und spielte gedankenverloren mit ihren langen Haaren. „Mom?“
Julia drehte sich zu ihr um. „Schatz?“
„Das Haus neben uns, das leer steht...“
„Was ist mit dem Haus?“ fragte Harold. Die ganze Zeit auf dem Weg nach Hause hatte Conny nichts gesagt. „Conny?“ Er sah in den Rückspiegel. Sie wirkte verängstigt. „Ist was passiert auf dem Schulausflug?“
„Nein, Dad. Das Museum war okay. Mir hat es gefallen. Aber Luke hat gesagt...“
„Luke Nichols? Dieser Nichtsnutz?“ Julia lachte. „Schatz. Egal, was dieser kleine Satansbraten sagt, glaub ihm kein Wort! Ja?“
„Ja, Mom. Es ist nur...“ Conny verschränkte ihre Arme auf der Brust und lehnte sich zurück. „Er hat gesagt, der schwarze Mann wohnt in dem leeren Haus gegenüber von uns. Der schwarze Mann, der die anderen Kinder geholt hat.“
Julia und Harold warfen sich einen Blick zu. „Luke Nichols redet Unsinn, Conny.“ sagte Harold. „Denk nicht weiter darüber nach. Es gibt keinen schwarzen Mann, einverstanden?“
Conny zuckte mit den Schultern. „Und was ist dann mit den Kindern passiert?“ fragte sie leise. „Mom? Dad?“ Ihre Eltern gaben keine Antwort. Sie wissen es nicht, dachte sie. Sie wissen es nicht. Oder sie wollen es nicht sagen. Enttäuscht sah Conny wieder nach draußen. „Müßtest du nicht in der Bank sein, Dad?“
„Ich habe Urlaub, Conny.“ antwortete Harold kurz angebunden. Dann hatten sie die Auffahrt zu ihrem Haus erreicht.
„Sieh mal da, Harold!“ sagte Julia und nickte zu dem alten verlassenen Haus. Ein Truck stand vor dem Haus. „Neue Mieter?“
„Sei nicht albern.“ Er kniff die Augen zusammen. „Kein Mensch zieht freiwillig in die Bruchhütte!“
„Brian! Warte!“ Endlich hatte Jim Mangold den Jungen eingeholt und griff nach dessen Jacke. „Bleib endlich stehen!“ Mit einem kräftigen Ruck riß er Brian zurück, so heftig, daß dieser beinahe zu Boden stürzte.
„Lassen Sie mich los!“ schrie Brian und schlug wütend auf den Lehrer ein. „Lassen Sie...“
Mangold ließ Brian los. „Was ist nur los mit dir, Junge?“ Er war völlig außer Atem. Obwohl er nur etwa fünf Minuten gerannt war, bis er den Jungen erreicht hatte. Blöder Regen, dachte Mangold. „Brian?“ Er berührte vorsichtig die Schulter des Jungen. „Na komm, laß uns zurück zum Bus gehen. Jules und ich fahren dich dann zu deinem Vater.“
„Ich will aber nicht zu meinem Vater!“ schrie Brian und begann zu weinen. „Ich will da nicht hin! Scheiße! Ich will da nicht hin!“ Er schüttelte den Kopf.
Mangold wußte, daß Sheriff Cromwell ein Alkoholiker war. Und manchmal ahnte er, daß Brian geschlagen wurde. „He, ganz ruhig. Okay?“ Die ganze Zeit sitzt der Junge in deinem Klassenraum. Die ganze Zeit spürst du, daß da etwas nicht in Ordnung ist. Die ganze Zeit hast du nichts getan. Mist, fluchte er in Gedanken. „Brian? Laß uns zum Bus zurückgehen, ja?“
Der Junge sah ihn an. „Ja, Mr. Mangold. Von mir aus.“
„Ich werde mal mit deinem Vater reden, hm?“ Das hättest du schon längst machen müssen, dachte Mangold. „Okay.“ Er reichte Brian die Hand. „Zurück, ja?“
„Mr. Mangold, ich...“ Brian ging plötzlich einen Schritt zurück. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
„Brian?“ Mangold hörte hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich um. Vor ihm stand eine Gestalt.
„Es ist der schwarze Mann!“ schrie Brian und rannte davon. „Der schwarze Mann!“
Mangold sah fassungslos zu der Gestalt, die vor ihm stand. Er hörte die Schreie von Brian nicht. Das einzige Geräusch, was er wahrnahm, war der Regen. „Aber...“ stammelte er. „Das... unmöglich...“
Die Gestalt grinste und flüsterte: „Ich will dich unterweisen und dich lehren den Weg, den du gehen sollst, ich will dir raten, meine Augen über dir!“ Die Gestalt stieß blitzschnell mit der Faust zu. Das letzte, was Mangold sah, war das diabolische Grinsen im Gesicht der Gestalt. Das letzte, was Mangold spürte, war die Hand in seinem Körper, die sein Herz umfaßte.
Der Lehrer fiel tot zu Boden. Seine Augen waren noch voller Angst. „Das ist gut.“ murmelte der Mann und ging in die Hocke. Dicke Regentropfen prasselten auf den Asphalt der Straße. „Regen ist auch gut.“ sagte er zu sich. Der tote Mann vor ihm war ein Glücksfall gewesen. Eine Zugabe. Er betrachtete seine Hand. Das Blut wurde allmählich vom Regen abgespült. „Wo bist du jetzt? Hm?“ Der Mann schloß Mangolds Augen. „Wo? In der Hölle? Wo du hingehörst?“ So wie der Busfahrer, der mit gebrochenen Armen tot neben dem Bus lag. Eigentlich wollte er ihn nicht töten. Aber der Mann hatte ihn plötzlich angesprochen, als er selbst auf dem Weg zu Brian war, der wütend davon gelaufen war. „Was mischt ihr euch auch immer ein...“ Er stand auf und sah sich um. Der Regen half ihm. Er hatte nicht um Regen gebeten. Aber er war dennoch froh darüber. Er sah in die Richtung, in die der Junge gelaufen war. „He, Brian.“ flüsterte er. „Du kannst vor mir nicht weglaufen!“
04
Harold sah aus dem Fenster. „Nichts. Ich habe noch niemanden gesehen. Gut möglich, daß jemand den Truck auch nur vor dem Haus geparkt hat. Was meinst du?“ Er drehte sich zu Julia um.
„Warum gehst du nicht einfach Guten Tag sagen, hm?“ Sie schüttelte den Kopf. „Seit gut einer Stunde starrst du aus dem Fenster. Kommst du dir nicht selbst albern vor?“
Harold lachte. „He, es kommt nun mal nicht alle Tage vor, daß ausgerechnet vor dem alten Hubble-Haus jemand seinen Wagen abstellt.“ Er sah wieder nach draußen. „Conny geht es gut?“
„Sie schläft... Hoffentlich.“
„Ja, gut.“ antwortete er knapp. „Und... He!“ Er hatte etwas gesehen. Zumindest glaubte er das. „Darf ich dich mal was fragen, Julia?“
„Klar.“ Sie stand auf und ging zu ihm. „Was ist denn?“
Er legte einen Arm um ihre Schulter und nickte zum Haus. „Wenn dort seit Jahren keiner mehr wohnt. Ich meine, waren die dunklen Vorhänge hinter den Fenstern schon immer da?“
„Nein, soviel ich weiß nicht.“ sagte Julia. „Ich werde mal nach Conny sehen.“
„Ja, gute Idee. Vielleicht sollte ich...“ Das Telefon klingelte. Harold sah zu Julia und ging dann zum Telefon.
Irgendwas Schlimmes ist passiert, dachte Julia und blieb am Fenster stehen. Wieder einmal was Schlimmes... Sie sah, wie Harold den Hörer abnahm und „Hallo?“ sagte. Unwillkürlich krallte Julia ihre Fingernägel in die Handflächen. Harold nickte ein paar mal und sagte was, aber es war zu leise, als daß sie es hören konnte. Er legte auf und senkte den Kopf. Oh Gott, dachte sie. Sie schluckte. „Ha... Harold?“
Er sah zu ihr und versuchte zu lächeln. „Es...“ Er schüttelte den Kopf. „Es war Cromwell. Man hat Frank Julian und Jim Mangold tot aufgefunden. Jules am Bus und Jimmy eine halbe Meile entfernt auf der Straße. Der Junge von Cromwell, Brian...“
„Was?“ schluchzte Julia. „Ist er...“
„Keine Spur von ihm.“ sagte er leise und ging zu ihr. „Keine Spur von Brian.“
Im Haus gegenüber hatte ein Mann einen zerkratzten Holzstuhl in die Mitte des großen verfallenen Wohnzimmers gestellt. Seit Stunden saß er nun bewegungslos auf dem Stuhl, sah durch die schwarzen Vorhänge, die er an den Fenstern angebracht hatte, hindurch und beobachtete, wie die Frau und der Mann im anderen Haus sich unterhielten. Der Mann konnte nichts hören, aber er wußte, um was es ging. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie eine Ratte durch das Zimmer lief. Über ihn an der Decke krochen langsam Spinnen in den großen Netzen. Fliegen summten durch den schmutzigen Raum. Den Mann auf dem Stuhl interessierte das unmittelbare Geschehen um ihn herum nicht. Stumm saß er da, die dürren Hände auf den Beinen, den Körper gerade aufgerichtet. Er sah, wie die Frau in die obere Etage ging, während der Mann den Telefonhörer abnahm und eine Nummer wählte. Die Augen des Mannes auf dem Stuhl wanderten langsam wieder zu der Frau. Sie saß auf dem Bett und hatte ein kleines Mädchen an sich gedrückt. Der Mann schloß die Augen. „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen.“ flüsterte er leise. Er öffnete seine Augen wieder und sah traurig mit an, wie das kleine Mädchen anfing zu weinen.
05
Sheriff Cromwell nickte. „Danke, Harold. Ja, es wird wohl Zeit... Bis morgen dann.“ Er legte auf. Sein Blick ging zur unteren Schublade seines Schreibtisches. Nein, nicht jetzt! Er mußte sich zwingen, nicht die Lade zu öffnen und nach der Flasche zu greifen. „Scheiße!“ fluchte er und stand auf. Brian, dachte er. Cromwell hatte noch nie in seinem Leben geweint. Und auch jetzt war er unfähig dazu, obwohl er annehmen mußte, daß sein Sohn tot war. So wie die anderen verschwundenen Kinder. Bis jetzt hatte er nichts. Keine Hinweise, keine Spuren, gar nichts. Nur zwei tote verstümmelte Männer und fünf, nein... Mit Brian sind es sechs, dachte er. Sechs verschwundene Kinder. Jeden Quadratzentimeter im Umkreis von dreißig Meilen hatte er durchsuchen lassen. Er hatte Taucher angefordert, die den nahegelegenen See durchsuchen sollten. Aber egal, was er anstellte, es brachte nichts. Das einzige, was man als Erfolg verbuchen konnte, war die zunehmende Angst in Minton. Du verhängst Ausgangssperre und holst dann nicht einmal deinen eigenen Sohn von der Schule ab, dachte Cromwell verbittert und sah nach draußen. „Scheiß Regen!“ Es klopfte an der Tür. „Ja?“ Ein junger Hilfssheriff betrat das Büro. „Ruby?“
„He, George. Ich habe alle auf der Liste angerufen.“
„Und? Wieviele haben abgesagt?“
„Keiner. Alle werden da sein.“ sagte Ruby und reichte Cromwell einen Zettel. „Was ist mit den Behörden? Du könntest doch...“
„Ach...“ Cromwell winkte ab. „Habe ich doch schon versucht. Die haben beim letzten Mal schon gestöhnt, als ich sie wieder gebeten habe, den See und was weiß ich nicht alles abzusuchen. Dieses Mal sind wir auf uns angewiesen. Auf uns ganz allein. Und ich bete zu Gott, daß wir Erfolg haben.“ Er sah zur Uhr. „Es ist spät. Geh nach Hause, Ruby. Morgen wird ein anstrengender Tag. Wir werden fast die ganze Zeit draußen sein. Und bei dem Wetter...“ Er deutete hinter sich aus dem Fenster. „Bei dem Wetter werden wir alle Kraft brauchen, die wir haben. Okay?“ Er lächelte kurz.
Ruby nickte. „Dann bis morgen früh, George. Weißt du, ich...“ Er runzelte die Stirn. „Wegen Brian... Es tut mir so leid.“
„Ja, ich weiß. Danke, Ruby. Mir tut aber auch Lara Mangold leid. Und die Mutter von Jules. Weißt du, ich... Ich bin fest überzeugt davon, daß mein Junge noch am Leben ist. Und daß wir ihn finden werden. Vielleicht auch die anderen...“
„Ja.“ Ruby nickte noch einmal und verließ dann das Büro.
Cromwell lehnte sich zurück. Oh Gott, bitte laß meinen Jungen noch am Leben sein. Ich weiß, ich war ein schlechter Vater für ihn. Oh Gott, ich schwöre, daß ich mich bessern werde.
Brian Cromwell war so weit gelaufen, wie er konnte. Irgendwann hatte er realisiert, daß er sich im Wald befand. Es war dunkel geworden. Alles um ihn herum wirkte bedrohlich. Das Rascheln des Laubes. Äste, die knackten. Geräusche von Tieren, mal nah, dann wieder wie aus weiter Ferne. Sein Herz raste vor Angst. Brian lehnte erschöpft an einem Baum. Oh Gott, der schwarze Mann ist hinter dir her. Dieser Gedanke beschäftigte ihn, versetzte ihn in Panik, setzte aber gleichzeitig Kräfte in ihm frei, von denen er nie im Leben geglaubt hätte, sie zu besitzen. Lauf weiter, befahl er sich. Lauf, verdammt! Lauf! Mühsam schleppte er sich von Baum zu Baum. Noch war die Kraft da, vor der Stimme wegzulaufen, die hinter ihm her war. Aber, dachte Brian, wie lange würde die Kraft noch reichen? Und dann hörte er die Stimme wieder. Der schwarze Mann rief nach ihm. Und er war ihm dicht auf den Fersen...
„Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr!“ schrie der Mann. Er konnte den Jungen schon spüren. „Brian? Gilt das auch für dich?“ Ohne Eile ging er durch den Wald. Er wußte, daß der Junge kaum noch Kraft hatte. „Brian? Ich such dich mit ganzem Herzen! Willst du mich dich nicht finden lassen? Brian?“ Er blieb stehen und horchte. Der See... Er hörte das Plätschern der Wellen. Oh, das ist gut. Der Mann grinste. „Der See, Brian! Das ist gut! Sehr gut sogar! Gleich, Brian! Gleich bin ich bei dir!“ Er berührte den Baum, an dem vor wenigen Minuten der Junge erschöpft gelehnt hatte. „Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun?“ flüsterte er. Und schon gar nicht so ein kleiner Junge. Im Gegenteil, die Menschen hatten ihn zu fürchten. „Amen.“ Er ging weiter. Und mit jedem Schritt, den er tat, kam er Brian Cromwell näher und näher, der weinend und fluchend am Ufer des Sees stand...
06
„He, Kleines.“ Harold fuhr Conny zärtlich durchs Haar. „Versuch ein bißchen zu schlafen. Ja? Versprichst du es mir?“
Conny hob die Schultern etwas an und kniff die Augen zusammen. „Was ist mit Brian, Dad?“ Sie sah ihn mit hilflosen, fragenden Augen an.
Harold gab ihr einen Kuß auf die Stirn. „Ich weiß es nicht, Schatz. Auf alle Fälle bleiben du und die anderen Kinder für die nächsten Tage zu Hause. Morgen wird sich Mom um dich kümmern. Ich und ein paar andere werden nach Brian suchen. Versuch jetzt zu schlafen, Schatz. Versuch es... Und, die Tür bleibt ja offen, okay? Ja?“
„Ja, Dad.“ sagte Conny leise.
„Gute Nacht, Conny.“ Harold gab ihr noch einmal einen Kuß und verließ dann das Zimmer.
Der Mann, der bewegungslos auf dem Holzstuhl im Haus gegenüber saß, hatte gesehen, wie sich der Mann von dem kleinen Mädchen verabschiedet hatte. „In deiner Hand ist Kraft und Macht, und es ist niemand, der dir zu widerstehen vermag.“ sagte er leise und stand auf. Er hatte erwartet, daß der Mann oder die Frau aus dem anderen Haus versuchen würden, seine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht hatte er sie nicht richtig eingeschätzt. Das kleine Mädchen war nun allein in ihrem Zimmer. Das konnte er trotz der Vorhänge und Wände sehen. Der Mann und die Frau waren sich sicher, daß ihr nichts passieren würde. Sie saßen im Erdgeschoß in bequemen Sesseln und redeten miteinander. Er schüttelte den Kopf. Der große Fehler, den sie alle taten. Ein jeder Mann. Eine jede Frau. Sie wiegten ihre Kinder in den eigenen vier Wänden in Sicherheit. Sie glaubten, niemand würde es wagen, in ihre Idylle einzudringen. Aber genau das war bisher unzählige Male auf der Welt passiert. Mit einem leisen Seufzer setzte er sich wieder auf den Stuhl. Morgen, wenn die Männer der kleinen Stadt gemeinsam nach dem schwarzen Mann suchen würden, der ihre Kinder entführt, dann würde er zu der Frau gegenüber gehen. Und zu dem kleinen Mädchen. Er war sich sicher, daß diese Nacht noch nichts passieren würde. Vielleicht sollte er doch schon jetzt... Stumm begann der Mann zu beten. Es war ein Gebet für den Jungen, dem er nicht mehr helfen konnte.
„Wir werden alles absuchen. Jede Stelle noch einmal.“ Harold trank einen Schluck Bier. „Wo hast du die Zigaretten versteckt, hm?“
Wortlos stand Julia auf und ging zum Regal. „Ich verstehe nur nicht, daß es keine Unterstützung von außerhalb gibt.“ Sie griff gezielt hinter einige Bücher und holte eine Packung Zigaretten zum Vorschein. „Denen kann das doch nicht egal sein, daß Kinder spurlos verschwinden.“ Sie warf ihm die Packung zu.
„So wie es aussieht...“ Gekonnt fing Harold die Packung. „Danke.“
Julia blieb am Regal stehen. „Harold?“
„Hm?“ Er zündete sich eine Zigarette an. „Ja?“
„Was ist mit den neuen Mietern gegenüber? So plötzlich steht da ein Wagen vor dem Haus. Vorhänge, die vorher noch nicht da waren. Ich meine, könnte das irgendwie mit all dem zusammenhängen?“
Harold nickte und stellte die Flasche auf den Tisch. „Ich kann immer noch rübergehen und mal anklopfen, hm?“ Er lachte. „Soll ich?“ Harold sah in die Augen seiner Frau. „Es ist dir Ernst?“
„Ja.“
„Nur noch die eine Zigarette, ja?“
„Ja.“ Es klingelte. Erstaunt sah Julia auf ihre Armbanduhr. „Wer kann das jetzt noch sein?“
Mit einem Lächeln schloß der Mann Brian die Augen. Zuvor hatte er ihm bei vollem Bewußtsein die Ohren abgeschnitten. Erst dann hatte er ihm einen kurzen, gleichzeitig qualvollen Tod gegönnt. „Weißt du, Brian? Es ist seltsam. Alles irgendwie.“ Er küßte die Stirn des toten Jungen. „Alles.“ Er hob den Jungen auf. „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme...“ Der Mann warf den leblosen Körper von Brian in den See. Er ging in die Hocke und blickte gedankenverloren über das Gewässer. Dieses Mal gab es keine funkelnden Lichtpunkte, die über dem See hin und her schwebten. „Seltsam.“ flüsterte er wieder. Den ganzen Tag hatte er das Gefühl gehabt. „Irgendwas ist passiert. Als ob jemand anderes...“ Aber wer? Er war doch geschickt wurden. Von keinem geringeren als... „Das kann es doch nicht sein.“ Er schüttelte den Kopf. In seinen Händen hielt er die Ohren von Brian Cromwell. „Aber das kann es doch nicht sein?“ Der Mann sah sich die Ohren an. „Das kann es doch nicht sein!“ Er steckte sie in die Innentasche seines langen Mantels. Aber wenn es wirklich so wäre? Wenn er wirklich auch da sein würde? Ausgerechnet er... „Vater. Was gibst du mir für eine Last, wenn du mich gleichzeitig daran hinderst, diese Last auf mich zu nehmen?“ murmelte er. Der Mann sah zum See. So friedlich... So still... „Nein, du wirst mich nicht aufhalten können!“ Er stand auf und sah nach oben, spürte die dicken Regentropfen. „Wie kannst, wie sollst du mich jetzt noch aufhalten?“ Trotzdem würde er seinen ursprünglichen Plan etwas weiter ausbauen. Zufrieden lächelte er und verschwand wieder im Wald.
07
„Es ist schön hier, Dad.“ sagte Brian fröhlich. Er warf die Angel erneut aus. „He, weiter als du!“ triumphierte er und lachte laut.
George stimmte in das Lachen mit ein. „Ja, das hast du sehr gut gemacht.“ Beide saßen nebeneinander auf dem Steg. Ab und zu nahm George einen Schluck kaltes Bier, während Brian die kühle Coke genoß. George war glücklich. Es war lange hergewesen, daß Brian und er...
„Dad!“ schrie Brian und fiel in das Wasser.
„Brian!“ Ohne zu zögern sprang George ihm hinterher. Er tauchte in das Wasser ein und befand sich plötzlich in einer dicken rötlichen Flüssigkeit. Brian, dachte er panisch. Etwas berührte ihn von hinten. Unendlich langsam drehte George sich in der Flüssigkeit um und sah direkt in das Gesicht seines Jungen. Es war aufgedunsen, an einigen Stellen fehlte die Haut gänzlich und helles rosafarbenes Fleisch war zu sehen. Traurige tote Augen sahen George an. Hände griffen nach ihm, zogen ihn näher zu seinem toten Sohn, der langsam den Mund öffnete...
„Argh!“ schrie George und wachte auf. Er befand sich in seinem Büro. „Großer Gott.“ stammelte er und öffnete die untere Schublade des Schreibtisches. „Was...“ Die Flasche war weg. Scheiße, dachte er wütend und knallte die Schublade wieder zu. Wo kann sie nur sein? Er lehnte sich zurück. Und da stand sie, mitten auf dem Schreibtisch. Leer. „Scheiße, George.“ Ächzend stand er auf und mußte sich an der Tischkante festhalten, um nicht umzukippen. „Oh Scheiße.“ Er kniff die Augen zusammen und sah zur Uhr. Es war kurz vor elf Uhr abends. Eine Weile blieb der Sheriff regungslos am Tisch stehen und sah aus dem Fenster. Draußen war es dunkel. Regentropfen prasselten gegen die Scheiben. Und direkt vor dem Fenster stand eine Gestalt. Sie sah Cromwell in die Augen. Er konnte sich nicht bewegen. „Was...“ stammelte er mühsam. „Was?“
Harold Foster öffnete die Tür. Draußen stand ein hochgewachsener, magerer Mann. Zunächst konnte Harold nicht das Gesicht erkennen, nur eine dürre Hand mit schmutzigen abgekauten Fingernägeln, die sich ihm entgegenstreckte. Und eine Stimme sagte: „Guten Abend, Mister Foster. Ich wollte mich Ihnen vorstellen. Jesaja Bowman. Ihr neuer Nachbar. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“
Die Gestalt vor dem Fenster nickte Cromwell zu. Plötzlich wurde der Sheriff wie von Geisterhand zum Fenster gezogen. Halb betrunken, halb wahnsinnig vor Angst öffnete er das Fenster. Augenblicklich wurden einige Akten durch einen kräftigen Windstoß vom Tisch gefegt. George bekam dicke Regentropfen ins Gesicht, deren Aufprall so heftig war, daß es weh tat. Die Gestalt schickte sich an, auf das Fensterbrett zu klettern. Was zur Hölle geht hier vor? Er ging zurück und stieß gegen den Tisch.
Die Gestalt saß nun auf dem Fensterbrett und grinste Cromwell an. Dann sagte sie leise: „Guten Abend, Sheriff. Sehen Sie mal, was ich Ihnen mitgebracht habe.“ Er warf etwas in Georges Richtung.
„Und was wollen Sie nun von uns, Mr. Bowman?“ fragte Julia.
Jesaja Bowman nickte ihr freundlich zu und nahm auf der Couch Platz. „Erst einmal danke ich Ihnen, daß Sie mir Einlaß gewährt haben. Eigentlich wollte ich erst morgen bei Ihnen... vorbeischauen.“ Die Art und Weise, wie er die Worte sprach, war bedächtig.
Harold betrachtete seinen neuen Nachbarn. Schneeweißes Gesicht mit fast schwarzen Augenrändern. Die Lippen von Bowman waren rissig und wenn er den Mund aufmachte, konnte man erkennen, daß er gelbe Zähne hatte. „Wissen Sie, rein zufällig war ich eben auch gerade auf dem Weg zu Ihnen.“
„Ich weiß.“
„Was wissen Sie?“ fragte Julia und stellte sich hinter den Sessel, auf dem Harold saß.
Bowman lächelte. „Ich habe Sie gesehen, Julia. Durch die Vorhänge hindurch.“
„Oh, durch die Vorhänge?“ Harold lachte. „Hören Sie...“
„Nein.“ unterbrach ihn Bowman. „Ich möchte, daß Sie mir zuhören. Sie alle sind in großer Gefahr. Sehen Sie, da draußen.“ Er sah zu einem der Fenster. „Dort in der Dunkelheit, im Schutz des Regens, lauert etwas. Sie können es sich nicht vorstellen.“
Julia legte ihre Hände auf Harolds Schultern. „Sie meinen das Ungeheuer, was unsere Kinder holt?“ Harry legte seine Hände auf die ihren.
„Ja, Julia. Das Ungeheuer, richtig. Die Kinder sagen dazu ‚Der schwarze Mann‘.“ Jesaja fuhr sich über seine runzlige Kopfhaut. „Mir war es leider nicht möglich, eher hierher nach Minton zu kommen. Es gibt viele schwarze Männer da draußen. Und nur sehr wenige, die sie aufhalten können...“
„Kennen Sie ihn?“ fragte Harold und beugte sich etwas nach vorn. „Ich meine, soll ich Ihnen das glauben, was Sie mir hier erzählen?“
„Es ist Ihre einzige Chance, Conny zu retten, die anderen Kinder. Und nicht nur die Kinder, Harold. Euch alle.“ Bowman hustete leicht. „Oh...“ Er hielt sich eine Hand vor dem Mund.
Julia sah, wie etwas Blut an den Seiten hervorsickerte. „Soll ich...“
Bowman winkte ab. „Nein, ist schon gut. Oh nein, nicht. Nicht ihn...“
„Wen meinen Sie?“ fragte Harold.
„Cromwell. Der Sheriff... Oh nein. Ich hätte es ahnen müssen.“ sagte Jesaja traurig.
„Was?“
„Seinen Tod, Harold. Cromwells Tod.“
Cromwell lag auf den Boden, Arme und Beine von sich gespreizt. Sein Atem war flach. Er spürte das Blut in seinem Rachen. Die Fingernägel des Mannes, die über seine Haut fuhren und sie aufritzten. In seinen Händen hielt George die Ohren seines Sohnes. Auf seiner Stirn lag seine Zunge, die der Mann ihm abgebissen hatte. Stirb schnell, dachte er immer und immer wieder. Der Schmerz war unerträglich. Stirb schnell. Stirb einfach, jetzt. Na los, stirb!
Der Mann saß neben ihm auf den Boden. „Ich weiß, was du dir wünschst.“ Er lächelte. „Einen schnellen Tod. Oder einen langsamen. Auf alle Fälle einen schmerzlosen Tod. Aber, so bin ich nicht. Das ist nicht meine Art.“ Er hielt kurz inne und sagte dann leise: „Und ich will die Blinden auf einem Weg gehen lassen, den sie nicht kennen, auf Pfaden, die sie nicht kennen, will ich sie schreiten lassen. Die Finsternis vor ihnen will ich zum Licht machen und das Holperige zur Ebene. Das sind die Dinge, die ich tun und von denen ich nicht ablassen werde.“ Er holte tief Luft. „Du wirst nun das Licht sehen, George. So wie es Brian vor dir gesehen hat.“
Cromwell schloß die Augen. Scheiße, das wars. Laß es schnell vorbei sein. Und bitte, lieber Gott, auch wenn ich schlecht zu meinem Sohn war, laß mich ihn wiedersehen.
„Vielleicht ist Gott gnädig. Vielleicht aber auch nicht.“ Der Mann holte aus und rammte seine Faust in Cromwells Brust. „Ehrlich gesagt bin ich überzeugt davon, daß du Brian nicht wiedersehen wirst.“
08
Conny sah, wie ihr Dad und ein fremder Mann in den Wagen stiegen und wegfuhren. „Wer war das, Mum? Und wohin fährt Dad?“ Fragend blickte sie zu ihrer Mutter, die neben ihr am Fenster stand.
Julia drückte ihrer Tochter an sich. „Ein Freund. Unser neuer Nachbar. Weißt du, er hat einen sehr schönen Namen.“
„Ja?“
„Jesaja.“
„Jesaja?“
Julia nickte. „He, möchtest du die Nacht heute bei uns im Bett schlafen?“ Sie ging in die Hocke und lächelte Conny an. „Conny?“
Jesaja grinste Harold an. Der sah ihn erstaunt an. „Viel besser als mein Wagen, Harold.“ sagte Jesaja.
„Kann sein. Wir werden nicht rechtzeitig da sein, nicht wahr?“
„Cromwell ist tot. Aber vielleicht ist der Andere noch da. Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich.“
Harold sagte nichts. Er hatte Mühe, bei dem Tempo den Wagen einigermaßen auf der Straße zu halten. Er dachte über das nach, was Jesaja Julia und ihm erzählt hatte. „Sie sind also erst jetzt hierher gekommen, weil sie in einer anderen Stadt das... das Ungeheuer gejagt haben?“
„Nicht das selbe Ungeheuer, Harold. Es gibt viele von denen. Und wie ich schon sagte, nur sehr wenige von uns.“
„Das ist doch Scheiße.“ fluchte Harold und raste durch eine Kurve, daß der Wagen beinahe ausbrach. „Warum läßt er sowas zu?“
„Die Wege des Herrn sind manchmal unergründlich.“
„Ach, hören Sie auf. Er schickt Leute wie Sie los, um andere aufzuhalten, die ebenfalls von ihm losgeschickt wurden? Das ist doch Schwachsinn! Sechs Kinder sind tot! Dazu noch Cromwell, Jules und Mangold.“
„Sie kennen seine Pläne nicht.“
„Wenn es ein Plan ist, dann ist dieser Plan krank!“ Harold bremste. Der Wagen blieb stehen. Er keuchte, Speichel lief aus seinem Mund. Langsam drehte er sich zu Jesaja. „Jetzt hören Sie mir mal zu, Jesaja. Es ist mir scheißegal, ob irgendwo in Afrika Menschen verhungern, oder in irgendwelchen Ländern Krieg geführt wird, deren Namen ich nicht einmal kenne. Aber hier geht es um unsere Kinder. Um Leute, die ich mag, die ich Tag für Tag sehe. Verstehen Sie? Verstehen Sie das?“
Jesaja nickte. Dann sagte er leise: „Ich kann nur zu gut verstehen, daß Sie das Leid anderer nichts angehen muß.“
„Moment...“
„Das Leid derer, die Sie nicht kennen. Das Leid derer, die eine Million Meilen von Ihrem Leben weg sind. Was kümmert Sie irgendein Konflikt in Asien? Ein Aufstand in Afrika? Eine Revolution in Südamerika? Ein Umbruch in Europa? Oder irgendwas an der Westküste Ihres eigenen Landes? So lange es weit genug entfernt ist, kann es Ihnen egal sein.“ Jesaja kurbelte das Fenster herunter. Vereinzelt landeten Regentropfen in das Innere des Wagens. „Aber sehen Sie? Nun hat einer von vielen Regen Minton erreicht. Eine kleine, zum Aussterben verurteilte, unbedeutende Stadt. Und trotzdem bin ich hier. Verstehen Sie? Minton hätte mir und den anderen auch egal sein können. War es aber nicht. Das war es nun einmal nicht. In der gleichen Zeit, wo ich hier bin, sterben woanders auch Kinder, Männer und Frauen. Es ist eine Spirale, die vor langer Zeit angefangen hat, sich zu drehen. Und Leute wie ich versuchen unser Bestes, diese Drehung zumindest zu verlangsamen. Es wird noch sehr viel Zeit dauern. Harold, ich möchte, daß Sie begreifen, daß ich genau so gut in Tokio, Königsberg oder Sevilla sein könnte. Verstehen Sie das? Aber nun bin ich in Minton. Zu spät, leider. Aber immer noch früh genug.“
„Früh genug?“ fragte Harold leise.
„Es ist Schreckliches passiert.“ sagte Jesaja. „Ich kann dennoch weitere schlimme Sachen verhindern. Nur...“
„Hm?“
„Sie müßten jetzt einfach weiterfahren, Harold.“
„Mistkerl!“ schimpfte Harold und gab Gas.
09
Im Gegensatz zu den zwei anderen Erwachsenen, die er getötet hatte, brachte der Tod des Sheriffs dem Mann eine neue Erfahrung. Man mußte kein Kind töten, um Energie und Kraft zu gewinnen. Und vor allem Lust. Wenn man einen Erwachsenen mit der selben Aufrichtigkeit umbrachte, gab dessen Tod einem das selbe, was normalerweise der gewaltsame Tod eines Kindes bringen würde. Der Mann hockte vor Cromwells Leichnam und sah in die leblosen Augen des Sheriffs. Seine Hände berührten die Stirn des toten Mannes. „Nun wird alles so einfacher für mich werden. Ja, ich spüre die Anwesenheit des Anderen. Weißt du, er ist so wie ich. Der Unterschied ist nur der, daß er mich jagt, anstatt euch zu jagen, Angst und Furcht unter euch zu verbreiten.“ Er schüttelte den Kopf. „Ah... Er ist unterwegs. Zeit zu gehen, Sheriff.“ Sanft strich er mit seinen Fingern über Cromwells Lippen. „Und die kleine Conny? So ganz allein mit ihrer Mutter?“ Lächelnd stand er auf. Ja, dachte er. Bevor er auf seinen Jäger traf, würde er selbst noch einmal zum Jäger werden. „Hab keine Angst, kleine Conny.“ flüsterte der Mann. „Hab keine Angst.“ Er ging zum Fenster, sah sich kurz um, und stieg raus in die regnerische Nacht.
Harold parkte den Wagen vor dem Eingang des Büros. „Was, wenn er noch da ist?“
„Er ist weg.“ sagte Jesaja und stieg aus dem Wagen.
„Na toll.“ brummte Harold und stieg ebenfalls aus. „Und nun?“
„Lassen Sie uns erst einmal hineingehen.“
Harold nickte. „Ja, viel besser, als hier im Regen rumzustehen.“
„Versuchen Sie sarkastisch zu sein, Harold?“ fragte Jesaja kopfschüttelnd. Er wartete eine Antwort nicht ab und öffnete die Tür zum Büro des Sheriffs.
Harold folgte ihm. Es war merkwürdig. Einfach absurd. Er schloß die Tür hinter sich. All das Gerede von Barmherzigkeit, Gerechtigkeit... Durch die plötzliche Anwesenheit von Bowman wurde alles, woran Harold geglaubt hatte, auf den Kopf gestellt. Spielt Gott nur ein mieses Spiel mit uns? Wenn ja, warum? Das ist Scheiße, dachte Harold. Einfach nur Bullshit! Er stolperte über etwas und konnte sich gerade noch abfangen. „Oh Scheiße!“ fluchte Harold. Er war über die Beine von Cromwell gestolpert. „Ach du große Scheiße!“ schrie er, als er das Loch in Georges Brust sah. „Was zur Hölle...“
„Mit der Hölle hat das nichts zu tun.“ sagte Jesaja und fuhr mit seiner linken Hand über das Gesicht von Cromwell. „Die Hölle spielt dieses Mal überhaupt keine Rolle.“ Das Blut war noch frisch. „Wir haben ihn verpaßt.“
„Was heißt hier verpaßt?“ Harold war kurz davor, sich zu übergeben. „Was heißt hier verpaßt?“ keuchte er.
Jesaja stand auf und ging zum Fenster. „Sehen Sie?“ Er deutete auf die abgetrennten Ohren. „Er hat sie ihm zugeworfen. Anschließend muß Cromwell umgefallen sein.“ Jesaja nahm die leere Flasche in die Hand und roch daran. „Vor Schock... und auch, weil Cromwell betrunken war.“
Harold tastete sich an der Wand entlang, bemüht, nicht zu Cromwell zu sehen. „Das wissen Sie?“
„Ja.“ Jesaja nickte. „Ich sehe es deutlich vor mir. Er hat sich über den Sheriff gebeugt und ihm mit einem einzigen Biß die Zunge herausgerissen. Schrecklich.“
„Schrecklich ist gar kein Ausdruck.“ stammelte Harold. Er hatte das Fenster erreicht und öffnete es. Umständlich lehnte er sich hinaus. „Es ist einfach...“ Er übergab sich.
Jesaja ging zu ihm. Behutsam legte er seine Hand auf Harolds Rücken. „Ich weiß, das Cromwell um einen schmerzfreien Tod gebeten hat. Ich weiß, daß er sich gewünscht hat, daß er seinen Sohn wiedersehen wird. Ich weiß, daß ihm beides vergönnt wurde.“ Er holte tief Luft. „Jeremia hat etwas entdeckt, Harold.“
Harold wischte sich den Mund ab. Er stand zitternd am Fenster. „Jeremia? Sie meinen den anderen?“
„Das ist sein Name, ja.“
„Und was hat Jeremia entdeckt?“
„Das man keine Kinder töten muß, um Lust zu verspüren.“ Jesaja sah Harold traurig an.
Harold stöhnte. „Oh Gott, wir müssen ihn aufhalten! Wir...“ Er ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer des Telefons in seine Hand. „Morgen früh sollten wir uns alle hier treffen. Und dann auf die Suche gehen. Aber...“
Jesaja nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte wieder auf. „Nein.“ sagte er leise. „Es muß heute Nacht geschehen. Ich habe nicht viel Zeit.“
„Wie meinen Sie das?“
10
„Es gibt unendlich viele Jeremias auf der Welt.“ erklärte Jesaja Harold, während sie zurück zu Fosters Haus fuhren. „Und leider nur endlich viele Jesajas. Verstehen Sie?“ Er sah zu Harold, der den Wagen durch den Regen jagte, aber nichts sagte. „Natürlich können Sie es nicht verstehen.“
„Ich...“
„Auf einen Jesaja entfallen fünf Jeremias. Ein ewiger Kreislauf. Er da oben spielt mit uns allen. Er da unten wartet nur, daß jemand zu ihm kommt. Er da unten muß nichts tun.“
„Sie sind ein Spinner, wissen Sie das?“ Harold sah Jesaja trotzig an.
„Achten Sie auf die Straße, Harold.“
„Sie können mich mal! Gott kann mich mal!“
„Ihr Zorn ist gerechtfertig. Der Regen kam über Minton und hat Dunkelheit und Grauen gebracht. Und ich weiß, daß Sie mir immer noch nicht glauben. Aber sehen Sie mal...“ Er ballte seine rechte Hand zu einer Faust. „Das ist kein billiger Trick, Harold!“ Er öffnete die Faust und wie aus dem Nichts schwebten über Jesajas Handfläche dutzende kleine Glühwürmer. „Es ist kein Trick!“
„Scheiß drauf!“ sagte Harold. Er hatte kurz rübergesehen. Natürlich war er verblüfft. Aber ihm waren solche Zaubereien im Moment mehr als egal. Wenn es stimmte, was Bowman gesagt hatte, dann war Conny in großer Gefahr. Und Julia! Gott hin, Jesaja her. Er würde alles tun, um sie vor Unheil zu bewahren.
„Wirklich alles?“ fragte Jesaja, ohne Foster anzusehen.
„Ja.“ knurrte Harold. „Auch wenn es meinen Tod bedeuten würde.“ Er wischte sich kurz den Schweiß von seinem Gesicht. „Ich verstehe immer noch nicht, warum wir die anderen nicht geholt haben.“
„Das Böse kann man nicht besiegen, in dem man ihm Dutzende gegenüberstellt, die auch Böses im Sinn haben. So läuft das nicht. Böses erzeugt Böses.“ Jesaja seufzte. „Ich hoffe, Ihre bösen Gedanken werden uns nicht hinderlich sein...“
Julia Foster betrachtete sich im Spiegel. Bist du eine gute Mutter gewesen? Hast du alles getan, alles dir Mögliche? „Natürlich hast du das!“ sagte sie ärgerlich über sich selbst. Sie wusch sich die Hände. Als sie neben Conny lag, hatte sie über vieles nachgedacht. Auch über die Möglichkeit, aus Minton wegzuziehen. Einfach woanders neu anzufangen... Es wäre nur ein kleiner Schritt, dachte sie. Harold würde es sicherlich nichts ausmachen. Conny? „Auch ihr nicht.“ flüsterte Julia. Sie sah sich im Spiegel an. Interessant. Die Falten unter den Augen waren bis vor kurzem noch nicht da. „Das ist doch lächerlich!“ schimpfte sie sich und ging zurück zum Schlafzimmer, wo Conny friedlich schlafend auf dem Bett lag. Julia lächelte und legte sich zu Conny.
„Jesaja.“ sagte Jeremia traurig. Er stand am Truck und sah durch die Scheiben hinein. Auf dem Beifahrersitz entdeckte er eine Landkarte. „Oh, hast du sie wirklich benötigt?“ Er sah zum Haus der Fosters. „Gleich hab ich die kleine Conny. Vielleicht auch die Mutter. Ach, natürlich werde ich die Mutter auch haben. Julia...“ Er grinste. „Ein schöner Name.“ Langsam ging er auf das Haus zu. Der Regen wurde noch stärker, als er ohnehin schon war. „Du wirst leider zu spät kommen, Jesaja.“ Dann hatte er die Haustür erreicht. Er öffnete die Tür nicht, er ging einfach durch sie hindurch...
Julia schreckte auf. Was war das? Ein Geräusch? Sie sah zu Conny. „Ruhig, Schatz.“ sagte sie und strich ihrer Tochter sanft über das Gesicht. Conny zeigte keine Regung. Sie schlief. „Ganz ruhig.“ Julia war sich sicher, etwas gehört zu haben. Sie hörte den Regen. Den leisen Atem ihrer Tochter. Ihr laut pochendes Herz. Und... Da war es wieder. Dieses Geräusch! Schritte auf der Treppe. Wohl bedachte und leise Schritte. Das ist nicht Harold! „Oh nein!“ Sie sah zu Conny. Oh nein! Bitte nicht! Schnell ging sie zum Wandschrank und schob die Tür beiseite. Sie wußte, wer das Haus betreten hatte. Es ist das Ungeheuer, dachte sie. Sie ging zurück zum Bett und hob Conny auf, die immer noch schlief. „Alles wird gut!“ sagte Julia leise und legte Conny in den Wandschrank. Sie riß Kleider und Hemden von der Stange und warf sie über ihre Tochter. Bitte, lieber Gott, laß es einfach nicht zu...
Jeremia stand vor der Tür zum Schlafzimmer. Er spürte die Angst von Julia. Und Conny? „Sie schläft friedlich.“ flüsterte er zufrieden. Ein bißchen Schlaf vor dem Grauen ist gut. Das Grauen, das ich bin. „Unrecht Gut hilft nicht, aber Gerechtigkeit rettet vom Tode. Und ich bin die Gerechtigkeit, die über euch kommt! Gleichzeitig auch der Tod.“ Jeremia griff die Türklinke und drückte sie nach unten. Warum gehst du nicht einfach durch, fragte er sich. Wo würde der Spaß bleiben? Eine einfache Antwort...
11
Jesaja holte einen Schokoriegel aus seiner Jacke hervor. Ohne Hast riß er die Verpackung auf. „Stärkung, Harold. Möchten Sie auch was?“
„Nein, danke. Stärkung?“
„Ja, es ist seltsam. Ich weiß.“ Jesaja biß ab und kaute genüßlich. „Aber es hilft. Fragen Sie nicht.“
„Keine Angst.“
Plötzlich bäumte Bowman sich auf. „Argh!“ Der Riegel fiel ihm aus der Hand.
Harold bremste. „Was?“
„Nein!“ schrie Jesaja. „Fahren Sie weiter! Er ist bereits da!“ Seine Nase fing an zu bluten. „Er ist da! Er ist bei Julia und Conny!“
Harold stöhnte auf und drückte das Gaspedal durch. Scheiß Regen, dachte er. Drei Minuten! In drei Minuten bist du da! Er sah, wie Bowman sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht wischte. Wenn er der Jäger ist, warum... Er dachte nicht weiter darüber nach. Noch zweieinhalb Minuten...
Jeremia schloß die Tür hinter sich und sah freundlich zu Julia, die zitternd auf dem Bett saß. „Hallo Julia. Sie sind doch nicht etwa allein?“ Verschmitzt zeigte er auf den Wandschrank. „Eine gute Idee, die kleine Conny unter all der Wäsche zu verstecken. So muß sie nicht mitansehen, wie ihre Mutter sterben wird. Obwohl...“ Er legte den Kopf etwas quer. „Der Gedanke, daß sie zusieht, ist äußerst reizvoll.“
Julia war nicht in der Lage sich zu bewegen. Seit der Mann das Zimmer betreten hatte, befand sie sich in einer seltsamen Starre. Alle Muskeln waren bis zum Äußersten angespannt. Ihre Gelenke schmerzten. Nicht einmal schreien konnte sie. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie, wie der Mann auf sie zukam.
„Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme...“ Jeremia stand vor Julia und ballte seine rechte Hand zur Faust. „Du wirst jetzt sterben, Julia. Und anschließend die kleine Conny! Und glaub mir, sie wird einen schmerzvolleren Tod haben als du!“ Plötzlich hörte er ein näherkommendes Motorengeräusch. „Zu spät!“ zischte er. Er packte Julia am Hals. „Ihr kommt zu spät!“ Dann schlug er mit aller Kraft zu.
Jesaja packte Harold am Armel, als der aussteigen wollte. „Nein! Sie bleiben hier!“
„Den Teufel werde ich tun!“ schrie Harold, riß sich los und sprang aus dem Wagen! „Julia! Conny!“ schrie er und stürmte zur Eingangstür. „Julia!“
Langsam stieg Jesaja aus dem Wagen. Er sah zum oberen Stock des Hauses. „Jeremia! Nein! Hör auf damit!“ flüsterte er leise. Julia war tot, das wußte er. Doch Conny lebte noch. Jesaja schloß die Augen und holte tief Luft. Dann breitete er seine Arme aus.
Harold hatte die Tür aufgerissen und war die Treppe nach oben gelaufen. „Conny! Julia!“ Er stolperte und fiel unsanft auf die Treppe. „Argh!“ Schnell rapelte er sich wieder auf. Nein, bitte nicht! Bitte nicht! Oh Gott, wenn es dich gibt, dann bitte nicht! Laß es einfach nicht zu! Er hatte die Schlafzimmertür erreicht. Ohne Nachzudenken öffnete Harold die Tür. Mit einem wütenden Schrei sprang er in das Zimmer.
Vor dem Haus der Fosters geschah Merkwürdiges. Wie aus dem Nichts waren millionen Glühwürmchen erschienen und schwebten um das Haus. Jesaja Bowman stand vor dem Haus. Er hatte seine Arme ausgebreitet. Sein langer schwarzer Mantel wehte im Wind hin und her. „Mein Schild über mir ist Gott, der die von Herzen Aufrichtigen rettet!“ sagte er leise. „Mein Schild über mir ist Gott, der die von Herzen Aufrichtigen rettet!“ Jesaja stand da, die Arme ausgestreckt und immer und immer wieder den selben Satz durch den Regen und Wind hindurch sagend: „Mein Schild über mir ist Gott, der die von Herzen Aufrichtigen rettet!“ Die unzähligen Glühwürmchen begannen sich zusammenzuschließen. „Ja!“ schrie Jesaja. „Ja!“ Seine ganze Wut konzentrierte sich auf ein Ziel.
Jeremia hatte seine Hand in Julias Brust gerammt und war dabei, ihr das Herz herauszureißen, als Harold mit einem wütenden Schrei die Tür aufgestoßen hatte. Er lächelte, als er in das ungläubige Gesicht sah. „Harold. Sie kommen ja genau richtig.“ grinste er. „Wo haben Sie denn ihn gelassen? Ist er etwas hinter Ihnen?“ Amüsiert sah Jeremia an Harold vorbei.
„Drecksack!“ schrie Harold. Er ballte seine Fäuste und sprang auf Jeremia. „Du elender Bastard!“ Er riß den Mann von Julias Körper herunter. Gleichzeitig versuchte er, Jeremia zu würgen.
Der lächelte nur und umfaßte Harolds Handgelenke. Langsam zog er sie von seinem Hals weg. „Erwürgen wolltest du mich? Ausgerechnet mich? Soll ich dir zeigen, wie es ist, erwürgt zu werden?“ Jeremia preßte Harolds Arme auf den Boden und setzte sich mit seinen Knien drauf. „Dann zeige ich dir es jetzt. Und erlösen werde ich dich. So wie ich Julia erlöst habe. Und wie ich Conny erlösen werde.“
„Oh Gott!“ stöhnte Harold. Jeremias Hände legten sich um seinen Hals und begannen erbarmlos zuzudrücken. „Co... la... lauf...“ röchelte er. Lauf weg, Conny. Oh bitte, lauf doch weg. Oh bitte... Jesaja. Helfen Sie uns. Das letzte, was er sah, bevor er ohnmächtig wurde, war eine kleine hell leuchtende Kugel über Jeremias Kopf. Dann umgab ihn nur noch Dunkelheit.
Jesaja stöhnte vor Anstrengung. Schweiß lief ihm über sein angespanntes Gesicht. Die Glühwürmchen hatten sich zu einer einzigen lebenden und leuchtenden Kugel vereinigt, die vor dem Haus schwebte. „Ja!“ Das Reden fiel ihm immer schwerer. Langsam führte er seine ausgestreckten Arme zusammen. Gleichzeitig wurde die riesige Kugel kleiner und kleiner. Als sich seine Handflächen fast berührten, konnte er die Kugel kaum noch durch den Regen erkennen. Sie war zu einem winzigen kleinen leuchtenden Punkt geschrumpft. Ächzend fiel Jesaia auf die Knie. Mühsam lehnte er sich zitternd an den Wagen. „Vollendet es...“ flüsterte er und zeigte zu dem Fenster, hinter dessen Scheiben der böse schwarze Mann dabei war, Harold Foster umzubringen.
„Du wirst nun das Licht sehen!“ Jeremia spürte, wie das Leben langsam aus Harold entfloh. „Du wirst nun das Licht sehen!“ Er kniff die Augen zusammen. Und dann war es vorbei. Er nahm seine Hände von Harolds blau angelaufenen Hals. Der Kehlkopf war eingedrückt. Blut lief aus Harolds Nase. „Das Licht, Harold! Das Licht!“ Zufrieden stand Jeremia auf. Und jetzt zu dir, Conny. Plötzlich bemerkte er etwas hinter sich. Er! Der Andere! Langsam drehte er sich um. „Du hast dir Zeit gelas...“ Er sah eine kleine leuchtende Kugel, die vor ihm durch den Raum schwebte. „Was...“ Die Kugel schoß blitzschnell auf ihn zu und flog in seinen vor Erstaunen geöffneten Mund. Jeremia wurde rückwärts an die Wand geschleudert. Benommen rutschte zu Boden. Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz, der sich schnell in seinem Körper ausbreitete. „Was geht hier vor! Jesaja!“ keuchte er vor Anstrengung. „Argh! Das...“ Es waren millionen brennende Nadelstiche direkt in ihm. Schreiend rappelte er sich auf. „Jesaia! Was hast du mit mir angetan!“ Brüllend rannte er aus dem Zimmer.
Jesaia saß müde und ausgelaugt im Regen an den Wagen angelehnt. Er sah, wie Jeremia vor Panik schreiend aus dem Haus gestolpert kam und Richtung Wald rannte. Traurig sah er ihm hinterher. Conny lebt, dachte Jesaia. Sie schläft unter einem Stapel Wäsche. Vor ihr liegen ihre toten Eltern. Und trotzdem schläft sie friedlich. „Ich bräuchte auch dringend Schlaf...“ Aber keine Zeit. Keine Zeit. Seufzend zog er sich am Wagen. Mit leicht benommenen Schritten wankte er auf das Haus zu. Es hatte ihn unglaublich viel Kraft gekostet. Doch er mußte sich erst noch um Conny kümmern, bevor er schlafen konnte...
12
Die Eule riß mit ihrem spitzen Schnabel etwas Fleisch aus der toten Maus und zerkaute es. Ihr Nachwuchs wartete bereit sehnsüchtig auf sie. Durch den plötzlichen, scheinbar nicht enden wollenden Regen hatte sich die Jagd mehr als schwierig erwiesen. Doch dieses Mal hatte sie Glück gehabt. Zumindest eines ihrer Jungen würde überleben. Plötzlich hörte die Eule ein lautes Geräusch. Etwas lief schreiend durch den dunkeln Wald. Und dieses Etwas kam in ihre Richtung. Sie packte die Maus mit einer Kralle und flog auf einen großen Kastanienbaum. Dann konnte sie das Etwas auch schon erkennen.
Jeremia stolperte schreiend durch den Wald, mehrmals über Wurzeln und Steine stolpernd. „Was hast du mir angetan, Jesaia!“ brüllte er. Der Schmerz war beinahe unerträglich geworden. Es war, als ob er innerlich verbrennen würde. „Oh nein!“ Ausgerechnet er? Der dichte Wald begann sich zu lichten und ehe es sich Jeremia versah, stand er am See. „Was...?“ Ohne weiter zu überlegen stürzte er sich ins Wasser. Er hatte die absurde Hoffnung, daß das Wasser etwas Abkühlung bringen würde. Aber es zeigte nicht die erwünschte Wirkung. „Nein!“ brüllte Jeramia durch den Regen. „Nein! Nein!“ Etwas im Wasser packte ihn an seiner Hose. „Was...?“ Er sah panisch nach unten. Eine halb verweste Hand fuhr langsam aus dem Wasser. „Nein!“ Wütend griff er unter das Wasser, um sich von dem Ding zu befreien. Doch kaum hatte er sich lösen können, wurde er von hinten gepackt und nach vorne geschubst. Es sind die Kinder, durchfuhr es ihn. Die Kinder. Die toten Kinder. Eines nach dem anderen tauchte aus dem See herauf. Fast wie Engel schwebten sie auf ihn zu. Es waren insgesamt sechs Kinder. „Richtet ihr nun über mich?“ schrie er sie an. Er bekam keine Antwort. Der brennende innerliche Schmerz hatte nachgelassen. Stattdessen mußte er würgen. Stöhnend beugte sich Jeremia etwas nach vorn und öffnete seinen Mund. Kaum hatte er das getan, stoben millionen kleine Glühwürmchen aus seinem Mund. Eines der Kinder wurde von den herausströmenden Glühwürmchen erfaßt und durch die Wucht des Aufpralls mehrere Meter über das Wasser geschleudert. Erschöpft fiel Jeremia nach hinten um, als die Glühwürmchen seinen Körper verlassen hatten. Die restlichen Kinder hatten ihn erreicht und griffen nach ihm. Er war zu schwach, als daß er sich noch wehren konnte. Ein totes Kind beugte sich über ihn. Es hatte aufgedunsene Haut, die an manchen Stellen von den Fischen angefressen worden war. Zittrige kleine Hände, die langsam, aber zielstrebig nach ihm griffen. Tote Augen, die ihn ansahen. „Warum hast du mich betrogen, Vater?“ stammelte Jeremia.
Stumm hatte die Eule auf dem Ast des abgestorbenen Baumes am See gesessen und das Spektakel mit angesehen. Es hatte nicht lange gedauert. Der hell leuchtende Schweif, der von der einen Gestalt ausging, hatte sich in millionen kleine Lichtpunkte aufgelöst. Die Gestalten, die aus dem See gekommen waren, zogen die eine Gestalt mit sich, bis sie etwa die Mitte des Sees erreicht hatten. Ein Ast knackte. Kurz drehte die Eule ihren Kopf in die Richtung, aus der das Knacken gekommen war. Sie lauschte. Nichts war mehr zu hören. Sie sah wieder zum See. Doch die Gestalten waren verschwunden. Und plötzlich hörte es auf zu regnen. Die Wolkendecke brach auf und der Schein des Mondes ließ die vielen kleinen Lichtpunkte, die über dem See schwebten, noch mehr glitzern und funkeln. Die Eule schüttelte ihr Gefieder und flog dann zu ihrem Nest, wo ihre Jungen auf sie warteten.
Epilog
Der merkwürdig aussehende Mann bedankte sich freundlich und stieg dann wieder in seinen Wagen. Neben ihm auf der Sitzbank saß ein kleines Mädchen, welches mit leerem Blick aus dem Fenster schaute. Buck Rothchild schüttelte den Kopf und macht sich ein Bier auf. Komischer Kauz. Sein Blick fiel auf die Zeitung, die vor ihm lag. „Unheimliche Entführungsserie in Minton aufgehört. Sheriff tot im Büro aufgefunden. Julia und Harold Foster grausam ermordet. Bis jetzt noch keine Hinweise.“ las er leise die Schlagzeile. Buck kratzte sich an seinem dreckigen Kinn und ging raus auf die Straße. Der Truck war nicht mehr zu sehen. War das nicht die kleine Foster auf dem Beifahrersitz gewesen? „Scheiß drauf. Wenigstens hat der beschissene Regen endlich aufgehört.“
Conny sah zum hellblauen Himmel. Die Sonne sah wunderschön aus. In ihren Händen hielt sie eine kleine Puppe festumklammert, die ihr der Mann neben ihr gegeben hatte.
Jesaja sah zu ihr rüber und lächelte. „Glaub mir, du willst nicht hierbleiben. Ich werde dich zu zwei Menschen bringen, die sich um dich kümmern werden. Keiner wird Fragen stellen. Kaum jemand stellt heute noch Fragen.“ Sie reagierte nicht. Er nickte kurz und konzentrierte sich wieder auf die vor ihnen liegende Straße. Viel zu viele Jeremias. Viel zu wenige Jesajas. War es das wert, fragte er sich, beugte sich etwas vor und sah hoch zum Himmel. War es das wert? Seufzend überholte er einen langsameren Wagen. „Bei deiner neuen Familie wirst du einiges lernen, Conny. Über Gerechtigkeit, Glauben. Und auch, daß die Wege des Herrn manchmal mehr als unergründlich sind. Wichtig ist nur, daß es dir gut gehen wird. In Minton gab es keinen, der für dich hätte sorgen können.“ Er sah zu ihr rüber. „Verstehst du das?“ Conny gab keine Antwort. Stattdessen drückte sie die Puppe enger an sich und sah stumm nach vorn. Er beschleunigte. Sie fuhren einem mehr als atemberaubenden Horizont entgegen.
ENDE
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15.07.2002
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