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Sommernachtstraum
Es war sechs Uhr morgens und einzelne Sonnenstrahlen, die durch die Schlitze in meinem Rollladen in mein Zimmer und auf mein Gesicht fielen, weckten mich auf. Ich setzte mich in meinem Bett auf und der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss war, dass heute mein sechzehnter Geburtstag war, der erste Geburtstag ohne meinen Vater, der erste Geburtstag, auf den ich absolut keine Lust hatte, da meine Mutter nicht da war. Meine Mutter war nicht zuhause, an meinem sechzehnten Geburtstag!
Vor einer Woche hatte ich sie noch angefleht zu bleiben, nicht nach Berlin zu gehen, wo sie eine Anfrage für ein Musical bekommen hatte. Zwei Monate musste sie dort bleiben und genau während diesen zwei Monaten war mein Geburtstag. Aber sie hat von Anfang an 'Nein' gesagt zu meiner Bettlerei, dass sie doch zu hause bleiben möge, damit ich nicht ganz alleine bin, weil mein Vater vor einem halben Jahr an Krebs gestorben ist. Aber ihre Schauspielerei und damit Berlin und das Musical waren seit der Anfrage und seit ihrer Bestätigung das wichtigste für sie - noch wichtiger als ihre eigene Tochter.
Den Tod meines Vaters hatte sie besser weggesteckt als ich, warum auch immer. Ich meine, sie kannte ihn länger, viel länger als ich, war mit ihm verheiratet gewesen, hatte ihn geliebt. Ich habe ihn natürlich auch geliebt, aber auf eine ganz andere Art als meine Mutter, deswegen konnte ich sie nicht verstehen. Ihre nicht ganz gespielte Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod meines Vaters und gegenüber mir verletzte mich immer noch, weil ich meinem Vater sehr nahe gestanden habe. Er war derjenige gewesen, der mir mein allererstes Buch geschenkt hatte. Es war 'Romeo und Julia' von Shakespeare. Auch wenn ich es mit vier Jahren weder selber lesen, geschweige denn verstehen konnte, wurde es doch später eines meiner Lieblingsbücher. Damals hatte meine Mutter meinen Vater deswegen ausgelacht, weil sie nicht verstand, wie man einer Vierjährigen solch ein Buch geben konnte und meinen könne, dass das Kind das Buch auch irgendwann lesen werde. Sie wollte es mir wieder abnehmen, aber ich hätte es nicht mehr losgelassen, hat mir mein Vater mal erzählt. Später, als ich älter war, und - wer hätt's gedacht - das Buch gelesen hatte, wollte ich auch wissen, wie ich an diesen zerfledderten und abgegriffenen 'Schatz' gekommen bin. Er hat mir alles über Bücher, bekannte Autoren, Zitate und übers Geschichtenschreiben erzählt und auch beigebracht, wo es halt was zum Beibringen gab. Von ihm habe ich meine Leidenschaft für Bücher und Geschichten.
Nachdem ich mich geduscht und angezogen hatte, lief ich zum Bäcker und kaufte mir Brötchen und einen Geburtstagsdonut als Trost für die fehlenden Verwandten und Geschenke. Und überhaupt dafür, dass ich alleine war. Ich machte noch einen Umweg durch den Park gegenüber von der Bäckerei mit dem schönen Springbrunnen und den vielen verschiedenen Laubbäumen, an denen jeweils ein kleines Schild mit dem Namen und weiteren Informationen zu den einzelnen Bäumen befestigt war. Für die Kindergarten- und Grundschulkinder.
In diesen Park wurden gerne Ausflüge mit der Gruppe oder der Klasse gemacht, wenn es um die Natur ging, und irgendwann meinte unser Bürgermeister, dass es doch sinnvoll wäre, diese Schilder an die Bäume zu machen damit die Kinder mehr Spaß am Lernen hatten.
Ich setzte mich auf eine etwas abgelegenere Bank, schloss die Augen und genoss die ersten Sonnenstrahlen für dieses Jahr. Als dann mein Bauch anfing zu rumoren, stand ich auf und lief nach hause, um endlich etwas zu frühstücken. Als ich an dem Blumenladen vorbeikam und freundlich der Besitzerin zuwinkte, lief ich in ein großes, schwarzes, schmutziges, nach Ruß riechendes Etwas hinein, besser gesagt in jemanden. Ich taumelte, fing mich aber wieder und schnauzte den Mann vor mir an:"Können Sie nicht aufpassen, wo Sie hinlaufen? Ich wäre fast gestürzt!" Da hob ich den Kopf und blickte in das lachende Gesicht eines Schornsteinfegers. Er sagte:"Tut mir leid, junge Frau, aber wenn Sie lieber der Blumenverkäuferin winken als auf den Weg zu schauen kann ich beim besten Willen nichts für diesen Zusammenstoß." Ich war verblüfft über so viel Freundlichkeit, obwohl ich ihn doch gerade fast umgerannt hatte und entschuldigte mich schnell. Da brach er wieder in schallendes Gelächter aus und antwortete, als ob er meine Gedanken lesen könnte:"Kein Problem, meine Liebe. So schnell rennt mich niemand um." Da musste selbst ich lachen, verabschiedete mich, ging weiter und dachte:"So, jetzt bin ich gegen einen Schornsteinfeger gelaufen und habe Ruß im Gesicht. Heute müsste ja mein absoluter Glückstag werden."
Wurde es aber nicht. Ich kam nach hause, frühstückte, hatte keinen einzigen Geburtstagsgruß von meinen Freunden und auch nicht von meiner Mutter, und war dann so deprimiert, dass ich Jazz auflegte und mich in der Badewanne entspannte. Inzwischen war es zwei Uhr mittags und ich bestellte mir eine Pizza zur Feier des Tages. Haha, wie ironisch. Gab ja keine Feier. Ich setzte mich auf die Fensterbank, die ich mal mit Papa vor einiger Zeit zur Sitz-und Lesebank umfunktioniert hatte, wickelte mich in eine Decke ein und las, während die Sonne an diesem wunderschönene warmen Frühlingstag langsam aber sicher unterging, obwohl sie in einem das Gefühl weckte, als wolle sie noch ewig am Himmel stehen bleiben und strahlen.
Ich wachte durch ein Sturmklingeln an der Wohnungstür auf. Ich stand auf und ging langsam zur Tür, weil ich dachte, es wäre unsere hysterische Nachbarin, die wieder einmal ihren Wohnungsschlüssel verlegt hätte oder etwas dergleichen. Ich öffnete und... fand niemanden vor der Tür. Weder die hysterische Nachbarin noch sonst jemanden von unseren Nachbarn, der irgendein Problem und damit einen Grund hatte, um halb elf abends bei uns sturmklingeln zu müssen. Ich schaute mich um und dabei fiel mein Blick auf einen Umschlag, der vor der Tür lag. Ich zögerte nicht lange, hob ihn auf und riss ihn auf. "Zieh dich an und hol dir was Wärmeres mit. Treffen uns in vierzig Minuten unten vor der Haustür :-)" Das war alles, was darauf stand. Ich wunderte mich, tat aber wie geheißen, zog eine Strumpfhose, ein Strickkleid und Stiefel an und nahm mir noch eine lange Strickjacke mit. Punkt zehn nach elf war ich unten vor der Haustür. Es war noch niemand zu sehen, deshalb wartete ich und fragte mich, was jetzt wohl passieren würde. Plötzlich sprangen zwei Personen vor mich und schrien:"Sweet Sixteen! Alles Gute zum Geburtstag, Sweetie!" Ich lachte, weil ich genau wusste, wer die zwei waren. Belle, meine allerbeste Freundin und Neo, mein bester Freund. "Danke ihr zwei! Und wohin genau wollt ihr mich jetzt entführen?" "Tja, das wirst du dann schon sehen", meinte Neo und die zwei nahmen mich in ihre Mitte und zogen mich mit sich. Wir fingen an zu rennen und bald wusste ich genau, wo wir waren und wo die zwei mit mir hinwollten. Wir rannten und rannten, bis schließlich das große Feld in Sicht kam. Wir rannten auf das Feld bis zu vielen Fackeln und einer großen Menschenmasse. Meine ganzen Freunde waren da und mir kam es so vor, als ob es immer mehr wurden. Als wir da waren, fingen alle an 'Happy Birthday' zu singen, und als sie fertig waren, wurde ich von allen über den Haufen gerannt und unter ihnen begraben. In der nächsten halben Stunde kam jeder zu mir, gratulierte mir und gab mir ein Geschenk, je nachdem, wie gut ich denjenigen kannte. Als allerletztes kam Neo zu mir, in der rechten Hand hielt er eine wunderschöne rote Wiesenblume und mit der linken Hand umarmte er mich und drückte mich ganz fest an sich. "Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine. Ich hoffe, dir gefällt die Party." "Ja, das wird sie ganz bestimmt." Ich küsste ihn auf die Backe und schmiegte meinen Kopf an seine Brust. Als Belle kam, ließ er mich los und ich umarmte Belle. Ich sagte zu beiden:"Danke für dieses großartige Geburtstagsgeschenk! Ich hab schon gedacht, ich müsste meinen Geburtstag ganz alleine nur mit meinen Büchern auf der Fensterbank verbringen!" Ich lachte. Belle grinste und sagte:"Das wird die Nacht deines Lebens, das kannst du mir glauben!" Als sie das gesagt hatte, nahm mich Neo auf den Arm und die beiden liefen mit mir zu den anderen. Und während wir so rannten, schrie ich:"Das glaub ich euch gerne!" Und dann wurde die beste Party gefeiert, die man je gesehen hat.
Tja, das war er, mein Sommernachtstraum. Es war ein Geburtstag, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte. Und wie durch ein Wunder habe ich in dieser Nacht den Tod meines Vaters verarbeitet und mache seit dieser Nacht so viel mit meinen Freunden wie noch nie. Jetzt muss ich mich nicht mehr tagelang verbarrikadieren wie damals, nur weil mir der Tod von Papa immer noch zugesetzt hatte.