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Sommermärchen

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07.08.2018
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Sommermärchen

In besonders selbstmitleidigen Nächten, in denen der Pathos von der Decke tropft, rede ich mir ein, wach bleiben zu müssen. Ich bilde mir ein, ich wäre ein Nachtmensch, der erst dann produktiv ist, wenn es um mich herum so ruhig ist, dass man meinen möchte, die Stille drückt so sehr auf mein Trommelfell, dass es droht zu zerplatzen. Also liege ich auf der Couch und klopfe rhythmisch auf meine Oberschenkel, während ich nervös mit meinen Füßen zücke und regungslos die Decke anstarre. Aus der Kombination des Tickens der Wanduhr, des Piepens des batteriewechselnötigen Feuermelders und dem sich schwerfällig, knartschend rotierenden Ventilators, entsteht eine Symphonie der Einsamkeit.
Tick - Ich überlege einen alten Schulfreund anzurufen.
Piep - Mir fällt ein, dass ich seiner Mutter betrunken auf die Füße gekotzt habe, nachdem ich ihr gesagt habe, dass sie mir als Masturbationsvorlage dient.
Knartsch - Vor Scham entfleucht mir ein leises Stöhnen.
Tick - Ich Wechsel den Rhytmus meines Fingerklopfens.
Piep - Es klingelt an der Tür.
Knartsch - Ich überlege, eines er vielen intelligenten Bücher zu lesen, die ich mir gekauft habe, um behaupten zu können, sie zu lesen.
Tick - Es klingelt wieder an der Tür.
Piep - Ich komme aus meinem Fingerklopfrhytmus.
Es klingelt ein drittes Mal. Es hat geklingelt. Nein, hat es nicht. Ich stehe auf. Langsam begebe ich mich in den Flur. Das Licht ist aus. Es klopft an der Tür. In meiner Magenregion macht sich ein mir unbekanntes Gefühl breit, es ist unterscheidet sich von allem, was ich in den letzten elendigen, einsamen und monotonen Monaten gefühlt habe.
Ich atme ein. Ich atme aus. Ich öffne die Tür. Niemand da. Wie vorhersehbar. Die kühle Nachtluft kitzelt wohltuend mein Gesicht und ich raffe mich zu einem Nachtspaziergang auf, jetzt wo die Tür bereits offen steht. Ich habe nicht bemerkt, dass es draußen geregnet hat. Der Geruch, wenn der Regen die trockene Landschaft wachküsst und den Staub vom Asphalt spült, erinnert mich auf unerklärliche Weise an meine Kindheit. Es riecht nach längst vergessener Geborgenheit in dieser Nacht. Keinem Auto, keiner Menschenseele begegne ich auf meinem Weg die Straße hinunter, nur aus der mir immer suspekt vorgekommenen Kneipe „Panoptikum“ höre ich lautes Gerede. Für einen Moment halte ich Inne und versuche durch die Häkelgardinen einen Blick in die Kneipe zu erhaschen.
Ohne über meinen Körper Kontrolle zu haben, tragen mich meine Beine in die Bar. Die Luft steht und ich bin etwas peinlich berührt, nachdem der Barkeeper mich mustert, als hätte seit einer Ewigkeit kein fremder Gast mehr diese Kneipe betreten. „Ein Weizenbier, aus der Flasche... bitte.“ wortlos beginnt er das Bier behutsam in das Glas zu kippen und ich beobachte wie sich eine perfekte Schaumkrone bildet.
Ich merke, wie jemand seine warme Hand auf meine Schulter legt und als ich nach links schauen wollte wer dies tat, bemerkte ich bereits, wie sich jemand auf den Barhocker zu meiner Rechten setzt.
„Als ich noch ein Kind war, wollte ich unbedingt schwimmen lernen, damit meine Mutter es mir erlaubt, im großen Badesee zu schwimmen, wie die anderen Kinder auch.“
Der Barkeeper stellt mir mein Bier hin und ich bringe kein Wort über die Lippen und lausche seiner ruhigen Stimme.
„Also meldete sie mich bei einem Schwimmkurs an und ich musste zur Abschlussprüfung nichts weiter als eine 50 Meter Bahn schwimmen, redete mir aber immer wieder ein, ich könnte es nicht und gab weinend nach höchstens der Hälfte auf. Nach einer erfolglosen Schwimmstunde nahm mich die Lehrerin an die Hand und forderte mich dazu auf, mit ihr gemeinsam diese Bahn zu schwimmen. Dabei schwomm sie an der Bande entlang, sodass ich nicht aufgeben konnte. Ich musste bis zum Ende schwimmen und so schwomm ich mit Leichtigkeit bis zum Ende der Bahn und bekam mein Abzeichen. Alles passiert in deinem Kopf. Menschen haben, wenn sie nicht gerade narzisstischer Natur sind, hin und wieder mal den Hang dazu, sich unter Wert zu verkaufen.“
Er trägt ein ausgewachsenes, schwarzes Hemd, die Ärmel sind hochgekrempelt und auf seinem Unterarm ist ein Schriftzug tätowiert. Ich bin mir nicht sicher, vielleicht ist es hebräisch. Sein kantiges Gesicht sieht ungewaschen aus, vermutlich kam er gerade vom Bau.
„Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Fahrrad gemeinsam mit meinem besten Freund raus an den See und er ist ertrunken.“
Ich verschlucke mich an meinem Bier und sage leise, dass es mir leid tut.
„Ich will dir was zeigen.“ sagt er zu mir, während seine dunklen Augen die meinen durchbohren. Ohne Widerworte stehe ich auf, lege ein paar Euro auf die Theke und verlasse mit ihm die Bar. Als wäre ich fremdgesteuert. Ich hinterfrage es nicht einmal. Ich steige in sein Auto und wir fahren vom Stadtzentrum an den Stadtrand, vorbei an den Einkaufsstraßen, die schon bald wieder voller Menschen sein werden. Aber nicht heute Nacht. Nein, noch nicht. Wir fahren in eine unasphaltierte Seitenstraße immer weiter ins dunkle und halten an.
„Komm!“ ruft er und ich schließe seine Autotür und habe das Gefühl, dass dabei sein halbes Auto auseinander fällt. Wir bleiben an einem See stehen und er guckt mich erwartungsvoll an. „Ich will, dass du mit mir badest.“ Eigentlich hätte ich wegrennen müssen, ich hätte gar nicht erst in das Auto steigen dürfen. Ich hätte niemals das Haus verlassen dürfen. Aber ehe ich mich versah zog ich mir meine Kleidung aus und ging mit ihm gemeinsam in das kalte Wasser.
„Die Menschen sind Narren.“ sagt er und unterbricht damit die Stille, während wir bauchtief im Wasser stehen. „Sie glauben, wir sind wenn wir Leben, aber tatsächlich ist das Leben das nichts. Du bist erst, wenn du tot bist.“ Er dreht seinen Kopf zu mir. „Tabula Rasa?“ entgegne ich.
„An manchen Tagen möchte ich die perfekten Vorgärten der Ortschaft zerstören, deren Töchter verführen, den Gottesdienst stürmen und laut brüllen, dass Gott tot ist. Wie ich das normierte Leben und diese Selbstgefälligkeit des Mittelmaßes verabscheue. Ich weiß, dass ich nach meinem Dasein nicht dieses Leben in meiner Tabula Rasa stehen haben möchte und ich weiß auch, dass du es ebenfalls nicht so willst.“
Mir wird das Wasser zu kalt und ich laufe Richtung Ufer, er folgt mir. „Worauf willst du hinaus?“ frage ich und fühle mich allmählich immer unwohler in meiner Haut. „Mir war die Auswahl an Dummheiten immer zu groß, um die selbe zweimal zu begehen, deshalb wollte ich dich heute Nacht nicht in diesem See ertränken.“
Der Mond scheint heute Nacht hell, so hell, dass ich auch in dieser Nacht seinen Augen dabei zusehen kann, wie sie so tief in mir eindringen, als könnten sie meine Gedanken lesen.
„Ich werde jetzt gehen.“ sage ich, aber bleibe trotzdem stehen. Ich habe das Gefühl, ich hätte keine Kontrolle mehr über meinen Willen und eigentlich hatte ich die tatsächlich noch nie.
„Wir beide leben ein Leben, ohne es zu führen. Ich möchte, dass du mich in diesem See etränkst, erlöse dich und mich von diesem Elend.“ Er läuft zum Auto und öffnet den Kofferaum, dann drückt er mir zwei Seile in die Hand und ich bekomme Panik, möchte rennen, einfach nur so schnell wie möglich weg aber ich bin wie angewurzelt. Ich bin mir sicher, dass ich diesen Mann gleich umbringen werde und ich kann nichts dagegen tun. So viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Wer hat an meiner Tür geklingelt? Wer ist dieser Mann? Wieso bin ich hier?
Ohne ein Wort zu sagen, binde ich ihm seine Arme und seine Beine, sodass er sie nicht mehr bewegen kann. Mühsam ziehe ich ihn über den Rasen in das Wasser und schwimme ihn mit einer Hand haltend bis zur Mitte des Sees, wo ich ihn unter das Wasser drücke. Noch immer wortlos. Es entstehen dutzende Luftbläschen und ich falle plötzlich in Ohnmacht.
Schlagartig reiße ich meine Augen auf, ich bin unter Wasser und möchte wild um mich schlagen, doch meine Arme und Beine sind festgebunden. Ich sinke immer tiefer auf den Grund.
Mein Körper wird immer leichter und ich beginne über mir zu schweben. Ich betrachte mich, wie ich noch einige letzte mal zucke, ein paar Luftbläschen aus meinem Mund entfleuchen und bemerke, dass ich die ganze Zeit über alleine am See war. So friedlich war ich noch nie.
Dunkelheit.

 

Hi @Bickle,

ich finde deinen Text in mancher Hinsicht gar nicht schlecht. Wie der Typ so dahintapst in der Nacht, alles mehr geschehen lässt, als dass er selbst was tut, das finde ich ganz schön umgesetzt.
Auch stilistisch find ich den Text halbwegs ordentlich, einige Stellen gefallen mir aber nicht so. Es schwankt auffällig zwischen gelungen und gedrechselt, finde ich.
Zum Teil ist mir das zu breit ausgewalzt oder es sind mir ein paar Füllwörter zu viel.
Die lange wörtliche Rede des Kerls an der Bar finde ich, so gestochen, wie er die Rede hinlegt, nicht authentisch. So schreibt man vielleicht Briefe, aber an der Bar redet sicher keiner so. Da wäre vielleicht zwischendurch ein Erzählerbericht in indirekter Rede nicht verkehrt.
Und das Ende gefällt mir nicht, das betrifft vor allem den Inhalt, aber auch die sprachliche Form. So trocken hinerzählt machst du, finde ich, die zuvor aufgebaute Stimmung kaputt.

Ein paar Details zur Veranschaulichung (plus Einzelheiten, die mir sonst noch aufgefallen sind):

"In besonders selbstmitleidigen Nächten, in denen der Pathos von der Decke tropft, rede ich mir ein, wach bleiben zu müssen." Find ich zu dick aufgetragen, vor allem als Anfangssatz (das Pathos).

Ein besserer Anfang wäre aus meiner Sicht dein zweiter Satz:
"Ich bilde mir ein, ich wäre ein Nachtmensch, der erst dann produktiv ist, wenn es um mich herum so ruhig ist, dass man meinen möchte, die Stille drückt so sehr auf mein Trommelfell, dass es droht zu zerplatzen."
Funktioniert vielleicht noch nicht ganz, ich könnte es mir aber gut in Kombination mit dem abgesteckten bisherigen ersten Satz vorstellen: "In manchen Nächten bilde ich mir ein, rede ich mir ein, wach bleiben zu müssen."
Natürlich ist der Sprung von "mich" zu "man" zu "mein" nicht ganz das Gelbe vom Ei, da müsstest du noch mal fix ausbessern gehen.

"Tick - Piep - Knartsch" - das finde ich an sich ganz witzig, wenngleich für mich noch etwas zu formelhaft: Mit jedem Tick usw. ein neuer Gedanke. Dazu erschienen mir die jeweiligen Gedanken etwas schludrig ausgedacht zu sein, z.B.:
"Knartsch - Vor Scham entfleucht mir ein leises Stöhnen."
Klingt erstens recht blöd und zweitens entfleucht niemandem ein leises Stöhnen vor Scham. Sag ich mal so. Jedenfalls habe ich keine passende Vorstellung dazu.

"Ich habe nicht bemerkt, dass es draußen geregnet hat."
-- Blöde Spitzfindigkeit, aber: Hat er denn gemerkt, dass es drin geregnet hat?


Hier ist was verkorkst:
"nur aus der mir immer suspekt vorgekommenen Kneipe"
Das sieht so aus, als wolltest die Vergangenheit zu "suspekt vorkommend" bilden. Partizip perfekt aktiv gibt es aber im Deutschen nicht, auch wenn man zu bestimmten Gelegenheiten versucht ist, sich eins zu basteln. Ein Relativsatz würde die Schwierigkeit auflösen.

Auch verkorkst - hier aber vom Sinn her - ist das:
"Ohne über meinen Körper Kontrolle zu haben, tragen mich meine Beine in die Bar."
Die Beine haben also keine Kontrolle über den Körper, tragen diesen aber dennoch in die Bar ...

"Die Luft steht und ich bin etwas peinlich berührt"
-- Besser das Füllwort weg, würd ich sagen.

"Ich merke, wie jemand seine warme Hand auf meine Schulter legt und als ich nach links schauen wollte wer dies tat, bemerkte ich bereits, wie sich jemand auf den Barhocker zu meiner Rechten setzt."
-- Ungelenke Formulierung ("wer dies tat") und Zeitfehler: "merkte" usw.

"Der Barkeeper stellt mir mein Bier hin und ich bringe kein Wort über die Lippen und lausche seiner ruhigen Stimme."
-- Wenn ich es genau nehme, muss ich es so auffassen, dass ab jetzt der Barkeeper redet.

"Als wäre ich fremdgesteuert. Ich hinterfrage es nicht einmal."
-- Das würde ich unbedingt streichen. Zum einen machen mir solche aufs Auge gedrückten Erklärungen die Stimmung kaputt, zum anderen ist es unstimmig: Wer behauptet, etwas nicht zu hinterfragen, hat es damit im ersten Schritt schon getan.

"habe das Gefühl, dass dabei sein halbes Auto auseinander fällt."
-- "halbes Auto" - auch eine Art Füllwort. Stimmt schon, in alltäglicher Sprache sagt man das flapsig so, aber dein Text ist im Ganzen nicht in einer solchen Sprach gehalten. Es ist ja eine Art Witz, das halbe Auto auseinaderfallen zu lassen, denn wenn das halbe Auto auseinanderfällt - na, dann fällt eben einfach das Auto auseinander. So würd ich das dann auch schreiben.

Das hier:
"„Ich werde jetzt gehen.“ sage ich, aber bleibe trotzdem stehen."
wäre mein Schlusssatz. Was danach kommt, brauche ich nicht. Je nun, jetzt bringt er den andern und sich noch um. Pfff, soll er mal. Mich nimmt das nicht mehr mit. Aber hier, an der Stelle, an der wir gerade sind, da ist es noch anregend mysteriös und offen. Wer ist dieser Typ? Was passiert jetzt? Was könnte passieren? Das sind dann so Fragen, die ich mir stelle und auf die ich gar keine Antwort mehr vorgekaut haben möchte. Schon gar nicht so eine platte. Die Hauptfiguren am Ende umzubringen birgt gelegentlich das Risiko, dass es so wahrgenommen wird, als müsstest du mal noch schnell entsorgen, womit du nichts mehr anfangen kannst: Geschichte auserzählt, wohin jetzt mit den Figuren? Ach was, bringen wir sie schnell um die Ecke. Kann man machen. Ich find's aber oft besser, wenn man sie statt dessen einfach im Regen stehen lässt.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

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