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Sommerfarben
Ein leichtes Kitzeln an der Spitze der linken kleinen Zehe weckt mich auf. Ich rühre mich nicht und lasse meine Augen geschlossen. Das Kitzeln bewegt sich. Da hat wohl ein kleiner Käfer eine Pause seines alltäglichen Lebens eingelegt und erkundet nun meinen linken Fuß. Was es wohl für ein Käfer ist? Ich bin neugierig, lasse meine Augen aber geschlossen. Ein Marienkäfer. Das würde passen. Eine Wespe oder Biene wäre nicht so zaghaft. Ich stell mir den Marienkäfer vor. Schwarze Punkte auf rotem Hintergrund. In der Mitte ein kräftiges Rot, das zum Rand hin leicht blässer wird. Die tiefschwarzen Punkte gleichmäßig am Rücken verteilt. Der kleine Kopf und die sechs Beinchen ebenfalls tiefschwarz. Ruhig bleibe ich liegen, um meinen Gast nicht zu stören. Er ist bereits auf der Spitze meiner mittleren Zehe und er wandert unbeirrt weiter. Ganz leicht sind seine Berührungen. An der großen Zehe angelangt macht er eine Pause. Was wird er nun tun? Beide warten wir. Ich atme ganz langsam und gleichmäßig. Kurz kitzelt es noch mal und dann ist der Marienkäfer weg. Ich spitze meine Ohren, höre aber kein Summen der schnell schlagenden Flügel. Er wird wohl den kürzesten Weg in die weite Wiese genommen haben. Da mein Gast nun weg ist ebbt die Konzentration auf meinen linken Fuß ab und meine Sinne öffnen sich für die Umgebung. Ganz leise kündigt sich eine sanfte Sommerbrise an. Das leichte Rascheln der Blumen wird mehr und dann streicht ein warmer Luftzug kaum wahrnehmbar die nackten Füße hinauf, über meinen Bauch bis zu den Haaren. Mein luftiges Sommerkleid wird von der Brise erfasst und fügt sich harmonisch in die Vielfalt der leuchtenden Blumen der mich umgebenden Wiese ein. Butterblumen, mit ihren kleinen sonnengelben Blüten. Dazwischen die blau-violetten Tupfer des Klees. Vereinzelt ein Schopf weißer Pünktchen der Schafgarbe. Und am Rand der Wiese, etwas erhaben, die knallroten Blüten der Mohnblume, die den Schotterweg rauf zur alten Hütte säumen. Das ganze Blütenmeer bewegt sich noch im Gleichklang der warmen Brise. Meine Augen sind noch immer geschlossen, doch sehe ich dieses farbenprächtige Bild mit allen Details klar vor mir.
Ruhe kehrt ein. Die Luft steht wieder still, und mit ihr die Blumen und Gräser. Nichts bewegt sich. Da sie jetzt nicht mehr überdeckt werden, dringen langsam die leisen Stimmen der Wiese in mein Ohr vor. Ein zaghaftes Zirpen einer einzelnen Grille sucht meine Aufmerksamkeit. Sie sitzt nicht weit entfernt, rechts von meinem Kopf. Vermutlich an einem langen Grashalm und übt für das große Konzert am Abend. Mit dem hellgrünen Kleid ist sie in dieser kleinen Wildnis fast nicht zu sehen, aber gut zu hören. Meine Augen bleiben geschlossen und ich genieße dieses Solokonzert für mich.
Ich liege jetzt schon lange da, genau weiß ich es aber nicht. Die hell strahlende Sonne am wolkenlosen blauen Himmel wandert unaufhaltsam über mich hinweg. Wo ihre Strahlen auf meine Haut treffen geben sie ihre Wärme an mich ab. Ich fühle mich warm und gut aufgehoben in diesem großen Naturbett mit all dem kleinen Leben um mich herum.
Der Schrei eines Vogels weit über mir bündelt meine Konzentration erneut. Ich glaube es war ein Habicht vom nahe gelegenen Wald, der an die Wiese anschließt. Mit der hell gesprenkelten Unterseite zieht er wohl weite Kreise über die Wiese, um nach Beute zu suchen. Hoffentlich verstecken sich die kleinen Mäuse hier am Boden gut. Gebannt lausche ich mit beiden Ohren und warte auf einen weiteren Schrei. Die Zeit vergeht aber es folgt leider keiner.
Langsam merke ich, dass die Sonne an Intensität verliert. Die Schatten der Blumen und Gräser neben mir fallen auf mich und wo die strahlende Sonne vor kurzen noch die Haut erhitzte, sind ihre Berührungen jetzt nur noch wollig wärmend. Der Tag neigt sich seinem Ende zu und macht bald Platz für die Nacht, die mit ihrer Finsternis die leuchtenden Farben der Wiese verschluckt. Jedoch ist es jetzt noch nicht so weit. Mit meinen geschlossenen Augen stelle ich mir noch mal das mich umgebende Wiesenmeer vor. Die Blumen darin, wie leuchtende kleine Fische überall verteilt. Kurz schwelge ich noch in der Vorstellung, dann richte ich mich auf, öffne meine Augen, aber alles bleibt schwarz wie immer.