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Sommer

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21.08.2017
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Sommer

Sommer

Frau Schuhmacher saß, wie jeden Nachmittag, an ihrem Fenster und beobachtete die gelegentlich vorbeigehenden Passanten auf dem Gehweg. Ab und an blieben ein paar Leute stehen, um ein Schwätzchen zu halten, oder dem Hund sein Geschäft zu ermöglichen, und jedes mal lehnte sich Frau Schuhmacher nach vorne, um besser sehen zu können, was genau da vor ihrem Fenster vonstatten ging. Schließlich gehörten diese zehn Meter Gehweg vor ihrem Fenster ja fast zu ihrem persönlichen Wohnbereich, und sie konnte es nicht leiden, wenn ungebetene Gäste zu lange verweilten.

Der Nachmittag schlich dahin und allmählich schien die Sonne durch die Straßenbäume. Fette faule Fliegen ließen sich im warmen Schein auf dem Fenster nieder, und keine auch noch so ruppige Handbewegung von Frau Schuhmacher beeindruckten sie. Wenn da mal nicht eine tote Ratte im Keller vergammelte, dachte Frau Schuhmacher. Schließlich ließ sie die Fliegen wo sie waren und wandte sich wieder ihrer Detektivarbeit zu. Immer noch keine Spur von ihm. Sie schlug ihr Notizbuch auf. Fein säuberlich waren dort Datum, Uhrzeit und Vorfall aufgeschrieben, der letzte Eintrag bereits eine Woche alt. Schon über 200 Einträge hatte Frau Schuhmacher seit Anfang des Jahres aufgelistet. Sie hatte extra ein eigenes Notizbuch für ihn angelegt. Als sie nämlich damals den Drogenhandel im gegenüberliegenden Kiosk gemeldet hatte, immer und immer wieder, da hatte die Polizei ihr empfohlen genauestens Buch zu führen, bis handfeste Beweise beisammen waren, die einen Einsatz rechtfertigten. Und auch diesmal bestanden die Herrn Beamten auf konkrete Hinweise bevor sie handeln könnten. Oh, diese untätigen Banausen! Sie hätten wenigstens den letzten Mord verhindern können, wenn sie nur endlich seine Wohnung durchsuchen würden, anstatt diesem netten Plausch an der Wohnungstür.

Wenigstens fünfzig Nächte war er mitten in der Nacht für mehrere Stunden aus dem Haus gegangen. Immer zwischen eins und vier. Manchmal war er auch früher nach hause gekommen, aber er war immer wenigstens eine Stunde weg. Und immer, wenn so eine Nacht gewesen war, da hatten sie wenige Tage später eine weitere Leiche gefunden - mal aus dem Kanal gefischt, mal hinter einem verlassenen Haus, mal im Park mitten auf dem Gras. Oh, dieser abscheuliche Mensch! Über die ganze Stadt verteilt hatte er bereits seine Schandtaten begangen. Und nun saß er gleich neben an und plante wahrscheinlich seinen vierten Mord, ohne dass ihm jemand auf der Schliche war. Niemand, außer Frau Schuhmacher. Ein kleiner Schauer überlief sie bei dem Gedanken.
Natürlich waren da auch noch die unzähligen anderen Zwischenfälle. Fast jeden Sonntag um die Mittagszeit dröhnte laute Musik durch das ganze Haus, laute Technoschlager, um genau zu sein. Und dann hatte er auch noch ein paar mal in den Flur gekotzt, einmal hatte er sogar Frau Semmelmayers Kinderwagen dabei beschmutzt. Nun ja, der Kinderwagen sollte eh nicht im Flur stehen, das war gegen die Hausordnung und verstellte einen potenziellen Fluchtweg. Grüßen tat er auch nie, er ging an einem vorüber, als wenn man Luft wäre. Vielleicht auch besser so, denn er stank abscheulich nach saurem Schweiß und Alkohol.

Ein Streifenwagen, gefolgt von einer Ambulanz hielten plötzlich mit Blaulicht auf der Straße. Zwei Beamte und Sanitäter sprangen aus den Wagen und verschwanden im Eingang. Aufgeregt lehnte sich Frau Schuhmacher ein wenig vor. Jemand hatte die Eingangstür geöffnet, doch sie hatte nicht erkennen können, wer. Sie saß mucksmäuschenstill und lauschte den Geräuschen im Treppenhaus. Zwei Männerstimmen wechselten sich mit Frau Semmelmayers Stimme ab. Dann ein Klopfen und Rufe an der Tür gegenüber. Hatten sie endlich die Beweise beisammen, die ihn des dreifachen Mordes überführten? Doch wer hatte den entscheidenden Hinweis gegeben? Wer war Frau Schuhmacher zuvorgekommen?

Ein lautes Krachen riss Frau Schuhmacher aus ihren Gedanken. Entsetzt sprang sie auf und eilte zu ihrer Wohnungstür. Durch den Spion beobachtete sie, wie einer der Polizisten gefolgt von den beiden Sanitätern die gegenüberliegende Wohnung durch die aufgebrochene Tür betraten. Der zweite Polizist blieb im Flur zurück und nahm weitere Notizen von Frau Semmelmayer. Eifersüchtig stierte sie Frau Semmelmayer an. Wie konnte diese luftige Person ihrer eignen Spürnase zuvorgekommen sein? Als wenn sie ihre Gendanken gehört hätte, deutete Frau Semmelmayer auf Frau Schuhmachers Tür und der Blick des Polizisten folgte. Schnell lehnte sich Frau Schuhmacher gegen die Wand, damit niemandem vom Flur aus ihre Gegenwart auffiel. Doch schon klopfte es an ihrer Tür. Zögerlich öffnete Frau Schuhmacher einen Spalt breit.

"Guten Tag, Frau Schuhmacher?"

"Ja?"

"Wären sie bereit uns ein paar Fragen zu beantworten?"

"Worum geht es denn?"

"Ihr Nachbar, Herr Sommer, ist verstorben. Es scheint, als wenn er schon einige Tage tot in seiner Wohnung gelegen hat."

 

Hallo, EMS Laurenson & herzlich willkommen bei den Wortkriegern,

du porträtierst hier eine gelangweilte, misstrauische und verbitterte alte Frau, wahrscheinlich Rentnerin, die nichts mit ihrem Tag anzufangen weiß. Aus dem Grund spioniert sie die Nachbarschaft und die Straße vor ihrer Wohnung aus.

Zur Story:

Frau Schuhmacher wird gut dargestellt und beschrieben: Die "Hexe von nebenan" wie sie im Buche steht. Schlecht gelaunt, gelangweilt und verbittert. Du hast sie (un)bewusst "hasswürdig" dargestellt [Gegenteil von liebenswürdig].

Die Sache mit der Polizei, die sie (mehrmals) wegen Herr Sommer gerufen hat, kommt nicht glaubwürdig rüber. Gerade bei so ernsten Dingen wie Mord ermitteln die auf jeden Fall. Dass Frau Schuhmacher richtige Beweise liefern muss, ist klar. Aber so passiv ist die Polizei dann auch nicht.
Und wenn die Polizei die Leichen schon findet und Frau Schuhmacher einen Tipp gibt, befragen sie diese Person. Das bleibt hier aber aus. Und nur der Ratschlag: "Schreiben Sie auf, wann er Lärm machen, etc." ist nicht plausibel. Du musst den Grund liefern, dass sie ihr nicht mehr empfehlen. Und der ist bestimmt, dass Frau Schuhmacher ständig die Polizei ruft und die für jede Kleinigkeit rausfahren müssen.


An deiner Stelle würde ich den Dialog ganz am Ende rausnehmen. Entweder komplett oder du lässt die Frage vom Polizisten drin.

"Guten Tag, Frau Schuhmacher?"

Und dann ist Ende.

Ist auf dem ersten Blick zwar ein beknacktes Ende, aber dann kann sich der Leser selber ein Ende ausdenken. Ob der Nachbar tot ist, sie ihn festgenommen haben, Frau Schuhmacher wird verhaftet, usw.


LG
betze

 

Hallo @EMS Laurenson,

ich habe gesehen, dass deine Serie mit dieser Story beginnt, also wollte ich hier zuerst vorbeischauen, bevor ich mich den neueren Texten widme. Und das werde ich auf jeden Fall in den nächsten Tagen tun, denn der hier hat mir gut gefallen. Aber zuerst zum Negativen, um das mal loszuwerden:

Erstens geb' ich meinem Vorredner, was den Inhalt angeht, recht. Er wirkt ein wenig unglaubwürdig. Aber ich fands beim Lesen nicht dramatisch, erst als ich den Kommentar gelesen habe, ging mir das Lichtlein auf.

Zweitens, diese Formulierung gleich am Anfang:

die gelegentlichen Passanten auf dem Gehweg

Die war eigenartig. Passanten können nicht gelegentlich sein. Sie können nur gelegentlich vorbeigehen.

Jetzt zum Positiven:

Ich mochte die Stimme, mit der du hier erzählst, sehr. Sie passt zum Inhalt, zu Frau Schuhmacher. Du beschreibst detailgenau, was Frau Schuhmacher detailgenau notiert hat. Und das ist grundsätzlich gefährlich, denn man könnte schnell ins Infodumping rutschen. Ist dir aber nicht passiert, eben wegen der angesprochenen Erzählstimme. Das fand ich schon gut.
Auch sprachlich habe ich, bis auf das oben Erwähnte, nichts auszusetzen. Du kannst mit ihr umgehen, deine Sätze sind einwandfrei – wunderbar, alles so, wie es sein soll.
Das Ende, das mein Vorredner bemängelt hat, möchte ich hingegen positiv hervorstreichen. Ich dachte mir nämlich schon, dass Herr Sommer verstorben ist und das Ende hat das bestätigt. Hättest du es so gemacht, wie mein Vorredner es vorgeschlagen hat, hätte ich mich beschwert :P Und ich fand das Ende auch inhaltlich sehr gut. Eine Frau, die minutiös notiert, was ihr Nachbar macht, sogar bemerkt, dass er sich länger nicht blicken lässt und doch nicht auf die Idee kommt, dass ihm etwas passiert sein könnte. Eine wunderbare Metapher für den ignoranten Voyeurismus unserer Gesellschaft. Sehr schön gemacht!

Freue mich auf den Rest der Serie. Bis dahin,
Alveus

 
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Hallo betzebub,

erstmal vielen Dank für dein Kommentar und Asche auf mein Haupt, dass ich dir nicht schon früher geantwortet habe, aber mein Leben ist dazwischengekommen.

Ich habe den Absatz mit den Polizisten umgeschrieben, und nun ist es hoffentlich etwas glaubwürdiger, dass die Polizei nicht auf Frau Schuhmachers Hinweise reagiert.

Die ganze Geschichte dreht sich nämlich darum, dass Frau Schuhmacher trotz ihrer Neugier nicht bemerkt, dass ihrem Nachbarn etwas zugestoßen ist, und dass er eben kein Serienmörder ist. Deshalb habe ich auch das Ende so gelassen, und nicht eher abgebrochen.

Mittlerweile habe ich zwei kleine Fortsetzungen, Semmeln und Stöckelschuhe, geschrieben, falls dir meine verspätete Antwort nicht die Lust an meinen Geschichten vertrieben hat.

LG Eva


Hallo Alveus,

Vielen Dank für dein Kommentar und deine positive Bewertung ?.

Ich habe deine Korrektur zu den gelegentlichen Passanten aufgenommen, und den Absatz zu den Polizisten nach betzebubs Anmerkungen umgeschrieben.

Das Ende habe ich so gelassen, da ich, wie du richtig erkannt hast, diese Zwiespältigkeit zwischen Frau Schuhmachers Neugier und totaler Ignoranz zu dem, was wirklich passiert, darstellen wollte.

LG Eva

PS Ich hoffe du hast genau so viel Spaß mit den beiden Fortsetzungen.

 

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