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Sommer, Sonne und ein bisschen Weihnachten...
Die Sonne wärmte Lotta’s Rücken und auf ihrer Stirn zeigte sich langsam ein leicht glänzender Schweißfilm. Der Sand rutschte und rieselte ständig unter ihren bloßen Füßen weg, so dass das Fortkommen recht anstrengend war, doch das kam ihrer gereizten Stimmung entgegen und so stapfte Lotta entschlossen die Düne hoch und wiederholte in Gedanken noch einmal den kurzen Streit mit ihrer Mutter.
Eigentlich war Lotta dran gewesen mit dem Abräumen des Frühstückstisches und dem Saubermachen in der Ferienwohnung. Doch nach zwei Regentagen hatte sie so gar keine Lust darauf, Krümel zu beseitigen und den Geschirrspüler einzuräumen. Sie wollte einfach nur endlich raus in die Sonne. Ihre Mutter sah das aber wie immer viel zu eng und bestand darauf, dass Lotta ihren Anteil am „Haushalt“ erledigte. Leider war das immer wieder ein Streitpunkt zwischen Lotta und ihrer Mutter, dabei hatten beide dieses Thema satt und wollten sich im Grunde nur etwas am Meer erholen. Die schlechte Stimmung verhinderte aber, dass die beiden sich, wie geplant, zusammen ein Boot mieteten.
Stattdessen lief Lotta in die entgegen gesetzte Richtung zu ihrer Mutter, sie schlug einen Weg ein, den sie noch gar nicht kannte und der wenig einladend gewirkt hatte. Aber Hauptsache: weg von Mama. Der Weg erwies sich als ganz schön anstrengend und Lotta bedauerte, keine Wasserflasche mitgenommen zu haben.
Der Anblick jedoch, der sich ihr bot, als sie endlich auf die andere Seite der Düne kam, entschädigte sie für ihre Anstrengungen, es verschlug ihr regelrecht die Sprache: sie stand am Meeresufer, doch es schien kein gewöhnlicher Strand zu sein.
Der Anblick des Horizonts und des Wassers war atemberaubend, aber auch irgendwie seltsam. Es sah nicht aus wie gewöhnlich, das Wasser sah nicht wirklich wie Wasser aus, obwohl es zweifelsfrei welches war. Bei näherer Betrachtung sah es so aus, als bestünde das Wasser aus lauter einzelnen Tropfen. Ungezählte einzelne Wassertropfen, die sich aneinanderreihten und das Wasser irgendwie bewegt und strukturiert aussehen ließen. Das Licht brach sich unterschiedlich auf den einzelnen Tropfen und erschuf ein seltsames Bild voller Schönheit.
Es gab ganz helle, durchsichtige Tropfen, andere hingegen schienen ein Hauch Farbe zu haben, sie schimmerten leicht in unterschiedlichen Farben. Manche Tropfen schienen leicht zu leuchten, andere wirkten eher trüb.
Im Gesamtbild ergab das eine einzigartige Struktur und eine Bewegung, als handelte es sich um ein lebendiges Wesen. Kleine Wellen verbreiteten sich und endeten in kleinen, weißen Schaum. Oder war das nur die Lichtbrechung auf den Tropfen? Lotta hätte es nicht sagen können, aber die Sprache hatte es ihr ohnehin verschlagen, sie war nach wie vor zu sehr mit ihre Betrachtungen vertieft um irgendetwas zu sagen außer: „Wow… was in aller Welt…“
„Das ist das Meer der ungeweinten Tränen“ hörte Lotta eine Stimme hinter sich sagen. Sie drehte sich um und sah sich einem alten Mann gegenüber stehen, der ihr sofort sympathisch war mit seinen tausend Falten um die freundlichen blau-grünen Augen, den weißen Haaren, die verstrubbelt nach allen Richtungen abstanden und dem Bart, der sich über die untere Hälfte seines etwas verwitterten Gesichts zog. „Noch ein roter Mantel, und der geht prima als Weihnachtsmann durch. Auf Urlaub.“ dachte sich Lotta schmunzelnd, denn statt dem roten Mantel trug der alte Mann eine etwas zu große, bollerige kurze Hose, die ein abstruses Würfelmuster hatte und schon fast so alt zu sein schien wie ihr Träger. Dazu trug er ein verblichenes, hellblaues Hemd mit kurzen Ärmeln und ein paar alte Latschen, die ihm ziemlich fadenscheinig an den Füßen hingen.
Der alte Mann musterte Lotta genauso eingehend wie sie ihn. Lotta fühlte sich auf einmal irgendwie erkannt und sprach etwas verlegen das aus, was ihr grade in den Sinn kam. „Wieso ungeweinte Tränen? Und wieso sieht das dann so komisch aus? Woher kommen denn diese Tränen?“ Lotta hätte noch ein paar weitere Fragen auf Lager gehabt, doch der Alte drehte sich einfach um und ging weg. „So einfach kommt der mir nicht davon. Ungeweinte Tränen… mit solchen Andeutungen kann er mich hier nicht einfach abspeisen.“ dachte Lotta und stapfte ihm entschlossen, beinahe trotzig, hinterher.
Hinter einem Felsen tauchte eine kleine, schäbige Hütte auf, deren Tür offen stand. Davor standen ein Tisch und ein Stuhl, der nicht sehr vertrauenerweckend aussah. Der Alte ließ sich in aller Ruhe darauf nieder und sah Lotta entgegen, die entschlossen hinterher kam. „Hol Dir doch einen Stuhl aus der Hütte und setz Dich zu mir“ lud sie der Alte freundlich ein.
Lotta ging in die Hütte und fand dort zu ihrer Überraschung alles einfach, aber sehr sauber und ordentlich vor. In der Ecke stand ein Bett, das sorgfältig gemacht war und ein einzelner Stuhl daneben. Prompt hatte Lotta ein schlechtes Gewissen, weil sie weder ihre Ferienwohnung, noch ihre Wohnung zu Hause jemals so ordentlich geputzt hatte. Sie verdrängte den Gedanken, nahm sich den Stuhl mit nach draußen und setzte sich dem Alten gegenüber. Der hatte inzwischen zwei Gläser Wasser da stehen. Lotta wunderte sich, die hatte sie gar nicht bemerkt. Und es waren zwei Gläser… woher hätte er wissen sollen, dass noch ein Gast kommt? Aber Lotta war zu durstig um lange zu überlegen. Sie trank ihr Glas in einem Zug aus. Das Wasser tat gut, es schmeckte frisch und lecker. Nun, da ihr Durst gestillt war, wandte sich Lotta wieder ganz dem alten Mann zu.
Der sah sie noch immer mit seinen freundlichen Augen und mit einem angedeuteten Lächeln um die Mundwinkel an. Das Lächeln war allerdings durch den etwas zu langen Bart hindurch kaum zu erkennen. „Wieso sind das ungeweinte Tränen und wieso sehen sie so seltsam aus?“ wiederholte Lotta ihre Fragen. Sie war viel zu neugierig um jetzt erst einmal den heißen Brei herumzureden.
Der alte Mann lehnte sich zurück und sah Lotta nun direkt in die Augen. Er schien sie mit den Augen durchleuchten zu können und Lotta schluckte unwillkürlich.
„Wie viel Leid und Schmerz in der Welt wird nicht beweint?! Oft können die Menschen nicht mehr weinen, weil sie keine Tränen mehr haben oder weil sie sich zu sehr an das Leid gewöhnt haben. Manche Menschen haben sich eine Mauer um ihr Herz gebaut um nicht mehr verletzt zu werden. Doch der Schmerz der leidvollen Erfahrungen wird darin mit eingesperrt. Wie oft erlaubt der Mensch sich nicht mehr zu weinen, weil es als Schwäche missdeutet wird. Mitunter lenken die Menschen sich so effektiv ab, dass der Schmerz andere Wege geht. Es gibt viele Gründe, weshalb Tränen, die lindern und heilen sollen, ungeweint bleiben. Das heißt aber nicht, dass sie nicht existieren. Nichts geht in diesem Universum verloren“ versicherte der alte Mann und trank einen Schluck Wasser. Dann fuhr er fort:
„Jede einzelne, ungeweinte Träne fließt hier in diesen Ozean. Keine einzige dieser Tränen verbindet sich mit den anderen, weil der Schmerz und das Leid noch darin gefangen sind. Wenn der Mensch Tränen weint, geht der Schmerz mit dem Tränenwasser. Wasser transportiert die Gefühle. Wenn das Leid und der Schmerz mit den Tränen fließt, können Herz und die Seele heilen. Deshalb sind Tränen so wichtig. Manchmal aber, wird nicht geweint, oder zu wenig. Dann fließen diese Tränen mit dem Leid in sich eingeschlossen hier her.“
„Aber wieso? Was machen all diese Tränen hier?“ fragte Lotta. „Sie warten“ flüsterte der Alte. Lotta staunte: „Warten? Worauf denn?“
„Darauf, dass der Mensch sich vielleicht erinnert und die Tränen doch noch weint.“ Das kommt vor und das ist es, was all die Tränchen hier erhoffen. Wenn sie ihren Schmerz preisgeben können, kann Heilung erfolgen. Es gibt immer Hoffnung.“ Ein leises Lächeln deutete sich unter dem Bart des Alten an und sein Gesicht strahlte so viel Güte aus, dass Lotta es versonnen betrachtete. Es dauerte etwas, bis sie sich an das Thema ihres Gesprächs erinnerte.
„Das ist ja interessant.“ Lotta blickte nachdenklich auf das Meer… „Es sind sooo viele…“ seufzte sie leise. „Was passiert, wenn die Menschen vergessen, was ihnen geschehen ist? Dann ist es doch gar nicht mehr nötig, dass die Tränen warten“ wunderte sich Lotta. „Der Mensch kann vergessen, doch die Verletzungen bleiben. Das Vergessen ist nur oberflächlich und unterscheidet sich kaum vom Vorgang des Verdrängens. Die Wunde bleibt unversorgt und unverheilt, das heißt, dass sie jedes Mal, wenn sie unwissentlich berührt wird, erneut weh tut. Man spricht dann vom „wunden Punkt“ – das hast Du bestimmt schon mal gehört. Es ist und bleibt eine Beeinträchtigung und eine Schwachstelle, die die Lebensqualität beeinträchtigt.“
Lotta hatte interessiert zugehört. „Klingt irgendwie einleuchtend“ meinte sie und blickte über das Meer der Tränen. Nach ein paar Augenblicken seufzte sie. „Es ist aber auch sehr traurig, finde ich…“ Ihr Gesicht verdüsterte sich und ihre Augen glänzten vom Schimmer der Tränen, die in ihr hoch stiegen. Der alte Mann sah sie liebevoll an und nickte langsam. „Das, liebe Lotta, nennt man Stellvertreter-Tränen. Mitgefühl für die Leidenden kann etwas von dem Schmerz ausgleichen, wenn auch nicht alles. Es spricht aber für Dein gutes Herz.“
Lotta sah den Mann an. „Was passiert, wenn die Tränen gar nicht geweint werden?“ Zu ihrer Überraschung lächelte er und erklärte: „dann verhärten sie am Ende und werden zu Perlen. Erst erfolgt die Verhärtung, weil die äußere Schicht immer dichter wird. Damit die Tränen dennoch gesehen und wertgeschätzt werden, nehmen sich Muscheln ihrer an. Das sind außergewöhnlich liebevolle und selbstlose Lebewesen, musst Du wissen. Sie umhüllen die Tränen mit Perlmutt und machen aus ihnen einen besonderen Schatz.“
Lotta kippte der Kinnladen herunter. „Krass!“ entfuhr es ihr. Aber schon folgte die nächste Frage. „Perlen sind aber so wertvoll, weil sie so selten sind. Heißt das, dass die meisten Tränen“, sie machte dabei eine ausholende Bewegung mit dem Arm, der das gesamte Meer mit einschließen sollte „letztendlich doch noch geweint werden, von wem auch immer?“ Der Alte strahlte und nickte lebhaft. „Oh ja! Das heißt es. Letztendlich findet auch das größte Leid immer ein gutes Ende. Das ist das Wichtigste, liebe Lotta, das gilt es, nie aus den Augen zu verlieren.“
Der alte Mann lachte und sah Lotta dabei tief in die Augen. „Hey, und schon haben wir Weihnachten… so wie der guckt!...“ dachte Lotta, doch sie lachte zurück und fühlte sich großartig.
Da kam Lotta der Streit mit ihrer Mutter in den Sinn. „Sagen Sie mir doch jetzt nur noch, was man mit Ärger macht und mit einem blöden Streit… bitte!“ Erwartungsvoll sah sie ihr Gegenüber an. Sein Lachen vertiefte sich und er strahlte Lotta unverhohlen an. „Ganz einfach: zähl‘ innerlich von 10 an rückwärts und erweitere Deinen Blick. Du musst auf das große Ganze gucken, dann verliert Dein Ärger an Intensität, weil sich die Wertigkeiten zurecht rücken.“ Der Alte stand auf und ging in seine Hütte. Lotta wollte sich nun auch auf den Rückweg machen und wartete kurz um sich zu verabschieden.
Als der alte Mann wieder zu Lotta trat, hielt er eine wunderschöne Perle in der Hand. „Hier, die schenke ich Dir. Dir fällt bestimmt jemand ein, der sich darüber freuen würde“ Lotta nahm die Perle ehrfürchtig entgegen. Natürlich wusste sie, was sie damit machen würde. Ihre Mutter würde sich bestimmt sehr darüber freuen. Nun war es an Lotta, über das ganze Gesicht zu strahlen. „Vielen Dank! Und vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“
„Oh, ganz im Gegenteil, ich danke Dir dafür, dass Du mir alten Mann zugehört hast. Das war sehr freundlich von Dir. Ich wünsch‘ Dir noch einen schönen Sommer!“ Der Alte zwinkerte ihr fröhlich lachend zu und verschwand in seiner Hütte.
Lotta wandte sich um und machte sich langsam auf den Heimweg. Sie sah den alten Mann nicht mehr, wie er ihr durch das Fenster der Hütte nach sah und eine Handbewegung machte, als würde er sie segnen.
Sie stapfte durch den Sand und ließ sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Die Weisheiten, die ihr der alte Mann geschenkt hatte, begannen bereits, sich in ihrem Denken zu manifestieren, während ihr Herz sich mitten im Sommer mit einem warmen Weihnachtsgefühl füllte.