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Sommer 1933

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05.09.2011
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Sommer 1933

Unter der mittäglichen Sonne lief er, seinen ledernen Koffer in der Hand, den weiter treibenden Feldern hinterher. Staubig und hart trommelte der Weg unter seinen Füßen einen gleichmäßigen Takt; schwere Traktorenreifen hatten an lange zurückliegenden Regentagen tiefe Gräben hinterlassen, zwischen denen Grasbüschel und Löwenzahn blühten.
Der Koffer wechselte die Hand, für Minuten nur, dann wanderte er wieder auf die andere Seite des müde werdenden Körpers. Clemens dachte an die Dinge, die er Stunden zuvor, als er aufgebrochen war, nicht eingepackt hatte. Der Vater würde sie holen. Später, wenn er, Clemens, wieder zu Hause in der Stadt sein und sich an die gesteifte Bluse seiner Mutter schmiegen durfte. Wenn der Duft ihres Rosenwassers und der des Mittels, mit dem sie ihre aschblonden Haare in ihre hochgesteckte Form zwang, endlich wieder seine Sinne betörte. Bis dahin konnten die Hemden und Hosen, das Lesebuch und die Zeichenstifte getrost in dem Mörderhaus bleiben, aus dem Clemens am Morgen geflüchtet war.

Drei Wochen lang hatte er mit Tante Franzi und Onkel Nikosch unter einem Dach gelebt, nicht ahnend, zu welch unerhörten Grausamkeiten sie fähig waren. Getarnt durch Zärtlichkeit, Verständnis und liebevollem Bemühen. Verborgen hinter einer stets lächelnden Maske lauerte die Lüge, die, als dieser Tag noch jung war, ihr wahres Gesicht entblößte.
Unvermutet für Clemens, grauenvoll und blutig. Als hätte die grinsende Falschheit ihm selbst, der doch geglaubt hatte, die friedvolle Welt dieses Hofes sei unerschütterlich, das Leben aus der Brust gerissen.
Wie hatte er bis zu diesem Augenblick jede Stunde hier geliebt! Die immerfort fließende Zeit; die sich im wechselnden Wetter wandelnde Erde; jedes seiner Bestimmung folgende Tier; und die Menschen, die all dies lenkten. Tagesanbruch und Dämmerung bestimmten die Arbeit; Wind, Regen und Sonne richtete über Werden und Vergehen. Alles war so, wie es war. Da gab es nichts zu deuten und nichts zu hinterfragen.
Jolanta hatte ihm all dies offenbart. Sie wurde Freundin, Begleiterin, Lehrerin in der Schule des Verstehens um den Kern des Seins. Durch sie hatte er zu sehen gelernt.
Ihr heiseres Schnattern begrüßte ihn bereits lange bevor er die Stalltür öffnete; sie spürte sein Kommen. Allmorgendlich brachte er eine Schüssel Schrot, auf die sich die Gänse gierig stürzten; nur Jolanta hielt sich zurück, ließ den jüngeren aus der Schar den Vortritt, schmiegte ihren großen grau-weißen Körper mit den harten zerzausten Federn an Clemens’ Bein, und ihr kalter Schnabel kitzelte zart seine Wange. Und wenn er Jolanta einen Kornhalm hinhielt und die Gans das Geschenk vorsichtig entgegennahm, dann spürte der Junge die Kraft des Vogels, welche sich ihm gegenüber doch stets als unvermutete Zartheit zeigte. Erst wenn die Schar gesättigt war, wühlte auch Jolanta in der Schale, um sich schon bald darauf abzuwenden und mit stolz erhobenem Haupt die anderen zur nahen Wiese und hin zum modrigen Teich zu führen; immer wieder hielt sie dabei inne, um sich nach Clemens umzuschauen und ihn zu fragen, ob er nicht mitkomme.
Ja, durch Jolanta hatte er gelernt, zu verstehen.
Und auch durch Nikosch, den großen, hageren Onkel, den stillen Mann, dessen harter Akzent die Worte fremdartig klingen ließ. Seine dunklen Augen blickten stets ernst und ein wenig finster. Seine schwieligen Hände wussten die Arbeit auf dem Hof, wussten das Leben anzupacken. Im Stillen fragte Clemens sich, warum ausgerechnet er, der so grob und ungehobelt wirkte, die heitere, meist tanzend scheinende Tante Franzi hatte heiraten dürfen.
„Auf einen Bauernhof in den Osten muss sie gehen“, hatte er einmal seine Großmutter abfällig über ihre einzige Tochter sagen hören. „Zu einem Polacken. Alle Türen hätten ihr offengestanden. Zum Glück muss ihr Vater das nicht mehr erleben!“
Damals, als die Familie im großen Garten hinter Großmutters Haus bei Kaffee und Kuchen beisammensaß, hatte er den Sinn der Worte nicht verstanden. Doch blieben sie in einem verborgenen Winkel seiner Erinnerung stets erhalten. Erst an diesem grauenvollen Morgen dachte er wieder daran.

Clemens fühlte seinen Fußballen am harten Leder des Schuhs wundreiben. Fast war es Mittag, die Sonne glühte am Firmament. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Herz pochte. Entmutigt schaute er sich um. Er war ganz allein. Kein Haus war in der Nähe, kein Gehöft, keine einsame Menschenseele wie er selbst.
Jetzt bereute er, sich jemals auf die Ferien bei seiner Tante und seinem Onkel gefreut zu haben. Er bereute, Vaters jüngerer Schwester sein Herz geöffnet und ihrem Mann seine Liebe geschenkt zu haben. Er bereute seine übergroße Dummheit, durch die er sich hatte verleiten lassen, diesen beiden Menschen zu vertrauen, mit Franzi Brot gebacken und mit Nikosch hinaus auf die Felder gefahren zu sein, um dort zu pflügen, zu eggen, die Saat auszubringen und zu ernten. Und am Abend, wenn Tante Franzi das Brot schnitt und Onkel Nikosch die Wurst teilte, dann hatte Clemens mit ihnen die Hände gefaltet und demütig den Kopf gesenkt, dann hatte er so getan, als bete er, obwohl er kein Gebet kannte. „Gebete sind etwas für Gläubige“, sagte sein Vater. „Wer den Glauben an einen Gott braucht, ist zu schwach, an sich selbst zu glauben!“
Zuhause wurde nie gebetet, doch hier auf dem Hof wollte Clemens es seiner Tante und seinem Onkel gleichtun, hier gehörte der Dank an die Gaben eines für ihn fremden Gottes dazu.
Wieder wechselte sein Koffer die Hand, wütende Tränen brannten hinter den Augenlidern des Jungen. Aber er wollte nicht weinen, nicht schwach werden, kein kleiner Junge sein. Zum Mann musste Clemens heranwachsen. Groß und stark. In eine Uniform wollte er endlich passen, in eine solche, wie auch sein Vater sie seit einigen Monaten zu besonderen Anlässen trug. Zu Paraden, von denen es jetzt immer mehr in der Stadt gab, legte er sie an; warmes Braun, die schwarzen Stiefel auf Glanz gewichst, die gesteifte Baschlikmütze entschlossen in die Stirn gezogen. Seit Januar in diesem bedeutungsvollen Jahr 1933, seit Clemens dreizehn Jahre alt war, wurden auch immer mehr pompöse Kundgebungen ausgerichtet, bei denen Offiziere auf Podesten standen und der Menschenschar mit harter Stimme Parolen zuriefen. Von Härte und Unbeugsamkeit schrien diese bedrohlichen Parolen, von Schmach und Schande, von Rache, Blut und Boden. Und manchmal von einem deutschen Jungen, der gefälligst nicht zu weinen hatte.
Nein, er wollte nicht weinen. Niemals wieder. Nicht aus Wut, nicht aus Enttäuschung und schon gar nicht aus Schmerz. Und sei dieser auch noch so überwältigend.
Die Zeiten änderten sich, das hatte sein Vater gesagt. „Von jetzt an wird alles anders. Jetzt weht aber mal ein anderer Wind!“
Mit jedem Tag waren die Zeichen klarer zu sehen, auch wenn Clemens sie nicht zu deuten wusste. Doch ahnte er ein zukünftiges Anderssein von vielem. Ja, er spürte diesen anderen Wind, der wehte und der ein kalter war. Vor allem aber würde er selbst ein anderer sein. Ein aufrecht stehender Halm mit einer prall gefüllten Ähre voller Hoffnung auf die Zukunft. Kein Korn mehr, welches noch in gute Erde gelegt werden musste, um zu gedeihen. Ein Mann.
Ja, er, der Junge war, würde sich wandeln. Denn an diesem Morgen hatte er den Tod gesehen, und dieses Bild sollte von nun an für immer sein Begleiter sein. Ein Bild, welches sich auf abartigste Weise als grotesker Zwilling eines anderen verriet: den Anblick des werdenden Lebens.
Der Schein der aufgehenden Sonne hatte ihn geweckt. Vom Schlaf gekräftigt, war er flink in seine Kleider geschlüpft, die längst den einzigartig herben Geruch angenommen hatten, der über allem und jedem hier lag. Aufgeregt, denn am Abend zuvor hatte der Onkel angekündigt, an diesem Tag gemeinsam mit Clemens die letzte Saat für dieses Jahr ausbringen zu wollen. „Und am Sonntag“, verriet Nikosch und schaute dabei mit verklärtem Blick auf Tante Franzi, „am Sonntag feiern wir ein Fest.“
„Was für ein Fest?“, wollte Clemens wissen, aber der Onkel und die Tante lächelten nur und sahen einander lange an. Dann nahm Nikosch Franzis Hand und barg sie in seiner, die viel größer war und derber und doch so zart, als gehöre sie zu einem Maler, nicht zu einem Bauern. So feinfühlig war diese rissige, von harten Schwielen besetzte Hand; selbst ein winziges Korn konnte sie zwischen ihren Fingern halten und wenden, ohne Schaden anzurichten.
„Warte nur ab, kleiner Clemens“, hatte Tante Franzi gesagt, „du wirst noch früh genug erfahren, was wir zu feiern haben.“
Zwei Stufen auf einmal nehmend war Clemens an diesem Schicksalsmorgen die alte Holzstiege hinuntergesprungen. Vor der goldschimmernde Stube hatte er abrupt innegehalten, ihm schien, er habe ein Traumbild betreten, dessen Zartheit nicht berührt werden durfte.
Tante Franzi stand vor dem Fenster. Im frischen Gegenlicht glich ihre Gestalt einem Scherenschnitt, war undeutlich und verschwommen und dennoch auf wunderbare Weise klar und scharf umrissen. Abwesenden Geistes ließ sie ihren Blick hinaus in das Leuchten ziehen, ließ ihre Hand dabei sanft über die kleine, sich deutlich unter der geblümten Schürze hervorhebende Wölbung ihres Bauches streichen. Da erkannte Clemens: Seine Tante erwartete ein Baby, und dies war der Anlass für das bevorstehende Fest.
Im ersten Augenblick hatte ihn diese Erkenntnis Freude empfinden lassen aber auch Eifersucht. Tante Franzi und Onkel Nikosch hatten noch kein Kind; am Ende hatte er sie nur deshalb besuchen dürfen, weil sie sehen wollten, wie es ist, sich um einen Jungen zu kümmern. Würden die beiden noch Zeit für ihn haben, wenn sie erst ein eigenes Kind hätten? Würde er auch weiterhin im Sommer zu ihnen aufs Land kommen dürfen?
Nach dem anfänglichen Schrecken jedoch überwog die Freude in Clemens. Bald würde er selbst Onkel sein, würde er seinem kleinen Neffen all die Dinge zeigen und beibringen können, die er selbst schon kannte und beherrschte. Der Gedanke daran erfüllte ihn mit einem bislang unbekannten Stolz. Und dann sah er die Glückseligkeit auf Tante Franzis Gesicht, und im Nu waren alle Zweifel verflogen. Wärme und Liebe und Hoffnung füllten sein Innerstes auf beinahe schmerzliche Weise, deren er sich beinahe schämte, weil er weder für seine Mutter noch für seinen Vater jemals ähnliche Gefühle gehegt hatte.
Noch immer hatte die Tante ihn, der keinen Atemzug wagte, nicht bemerkt. Clemens scheute sich, dieses Bild, welches eine glückliche Schicksalsfügung ihn einen Herzschlag lang hatte ansichtig werden lassen, zu stören. Nein, er durfte kein Geräusch verursachen, durfte kein Wort an sie, die umgeben war von einem Kranz wie aus flüssigen Gold, richten; seine Stimme würde wie ein ins Wasser geworfener Stein die glatte Oberfläche kräuseln und jegliche Spiegelung zunichte machen. So wandte er sich leise ab und wünschte innigst, jener Anblick, den er verließ, um ihn zu erhalten, möge in der Zeit erstarren und ewiglich in seiner Erinnerung wiederkehren.

So lange war es her, so lange lag dieser Morgen hinter ihm. Ein Leben lang. Der Koffer wurde mit jedem seiner müden Schritte schwerer, die Schultern schmerzten und auch die Hände. Er verspürte Hunger und Durst, doch hatte er bei seinem Aufbruch versäumt, an Proviant für die Reise zu denken. Zu hastig war er geflohen, zu grauenvoll schien ihm jede Sekunde, die er länger als zwingend nötig auf dem Hof verbringen musste. Und selbst wenn in seinem Koffer Essen und Trinken im Überfluss gewesen wären; Hunger und Durst zu stillen hätte Clemens dennoch nicht gewagt, da er fürchtete, jenes andere Bild, welches sich ihm unmittelbar nach dem Wunder in der Stube gezeigt hatte, würde jegliche Nahrungsaufnahme vereiteln.
In der Ferne sah er die Silhouette eines dürren Baumes. Ein dunkler Fleck vor gleißendem Hintergrund nur, weiter nichts. Und doch schien er Clemens wie eine gnädige Erlösung, wie der Garten Eden selbst, in dem er rasten konnte und Kraft schöpfen, um sich dann mutig und gestärkt an die nächste Etappe seines Weges zu machen. Noch einmal zwang er seinen Rücken, sich aufzurichten, zwang er seine Beine, weitausholende Schritte zu tun, zwang er seine Füße, sich zu heben und nicht über die staubigen, steinharten, von der Sonne ausgedörrten Erdklumpen zu stolpern, die den ausgefahrenen Weg übersäten wie Steine ein im Frühjahr erwachendes Feld.

Ach, wäre er doch nicht hinaus auf den Hof und in den Sonnenschein getreten. Hätte er doch nur so lange bei der Tante verharrt, bis sie selbst den Zauber dieses Augenblicks durch eine Bewegung, einen tiefen Atemzug, ein erlösendes Blinzeln zerstört hätte. So vieles wäre ihm erspart geblieben! Aber Clemens war hinaus gegangen. Leise hatte er die Tür hinter sich geschlossen, war über den Hof hin zum Stall der Gänse gelaufen. Aufgewühlt vom soeben Erlebten hatte er nicht einmal das Fehlen des heiseren Schnatterns zu seiner Begrüßung bemerkt. Keine harten Federn schabten an diesem Morgen durch aufgeregte Flügelschläge über verwitterte Holzwände, keine hornigen Schnäbel kratzten am rostüberzogenen Riegel der Stalltür. Still war es auf dem Hof, ganz still.
Wie von selbst begannen Clemens’ Beine sich zu bewegen, liefen, rannten, flogen schier über den ausgedörrten Erdboden. An den Stallungen vorbei, um die Scheune herum, dahin, wo Onkel Nikosch am Abend den Traktor abstellte und wo Pflug und Egge und Sense auf ihren nächsten Einsatz warteten. Dort sah Clemens seinen Onkel stehen, den Arm hoch erhoben.
In diesem Augenblick drehte Nikosch sich um und wurde des Jungen gewahr. Er hielt inne, zögerte, schien mit dem Körper sein schändliches Tun vor den Augen des Jungen verbergen zu wollen. Doch es war zu spät, Clemens hatte bereits gesehen. Und was er sah, prägte sich wie von einem glühenden Brandeisen geformt in seine Seele. Des Onkels rechte Faust umklammerte ein Beil, während seine linke unerbittlich die Gans Jolanta – seine Jolanta! – auf einen von zahllosen Schlägen zerfurchten und verletzten Hauklotz presste. Und dann, mit der Geschwindigkeit eines kurzen Gedankens, sauste der blitzende Stahl herab, fraß sich durch Jolantas Gefieder am Hals, durch ihr Fleisch, ihre Knochen, besudelte die kostbare, die unschuldige Erde mit ihrem Blut.
Eines Schreies unfähig öffneten und schlossen sich Clemens´ Lippen. Tränen der Wut und der Trauer liefen über seine Wangen, und in seinem Kopf hämmerte immerzu nur der eine furchtbare Gedanke: Er hat Jolanta getötet, meine Jolanta!
Unbemerkt war Tante Franzi hinter Clemens getreten, hatte ihn sanft bei der Schulter gefasst. Wie eine Fee löste sie mit dieser Berührung die Starre, welche lähmend vom Körper des Jungen Besitz ergriffen hatte. „Nein!“, schrie er, wand sich aus der Hand seiner Tante rannte zurück, die Stiegen hinauf in sein Zimmer.
„Warum nur?“, schluchzte er unter immerfort laufenden Tränen, „warum hat er das getan?“
Und dann, auf dem Bett liegend, das Gesicht in den kühlen Kissen bergend, wuchs ein Entschluss in Clemens. Eine Woche sollte er noch hierbleiben, eine Woche mit dem grausamen Onkel unter einem Dach verbringen. „Nein!“, schrie er noch einmal, entschlossen, nicht eine Minute länger in diesem Mörderhaus zu bleiben.
Hastig hatte er seine Siebensachen in den ledernen Koffer gepackt, dann wandte er sich zum Gehen. Durch das Fenster sah er hinunter auf den Hof. Dort standen sie, die Mörder. Onkel Nikosch hatte den Arm um Tante Franzis Hüfte gelegt. Sie schaute besorgt. Aber sie stieß ihn nicht weg, diesen Arm, der eben noch getötet hatte. Clemens begann seinen Onkel zu hassen. Mit jeder Faser seines Körpers und mit jedem Gedanken seines Geistes verabscheute er ihn, und auch seine Tante blieb nicht länger verschont von seinem Hass. Wie konnte sie die Hand des Mörders um ihre Hüften dulden, wie seine Berührungen und Liebkosungen ertragen?
Leise schlich er die Stiege herab, verließ heimlich durch die Hintertür den Ort des Schreckens. Er wollte nach Hause, zurück in die wohlbehütete Unbekümmertheit seines Elternhauses.
Er erreichte den Baum, eine alte, verkrüppelte Birke, deren dürre Äste müde und zerzaust dem Erdboden entgegenwuchsen. Sie stand an einer Kreuzung, deren vier Wege jeder für sich ins Nirgendwo zu führen schien. Neben dem Baum, von einem verwitterten Holzzaun eingerahmt, dessen weiße Farbe abblätterte, stand ein altes steinernes Prozessionskreuz. Moos wuchs darauf, und in einer Einbuchtung zu Füßen des gepeinigten Jesus Christus klebte noch der Rest einer geschmolzenen roten Kerze.
Erschöpft ließ Clemens den Koffer ins gelbe, sonnenverbrannte Gras fallen. Seine Füße schmerzten, und für einen Augenblick wollte er im dünnen Schatten der Birke ruhen. Er setzte sich auf die Böschung und starrte die Figur des Gekreuzigten an. Dann wanderte sein Blick höher in die Zweige des Baumes, zwischen denen feine Streifen aus Licht tanzten. Eine Weile betrachtete Clemens das Schattenspiel der Zweige, dann flüsterte er: „Jesus, lass es mich verstehen!“
Tränen rannen über seine schmutzigen Wangen. Nein, er war kein Mann, war nicht hart und stark. Plötzlich spürte er Angst in sich keimen. Vor dem, was werden würde. War denn Jolanta nur der Anfang?, wuchs eine Frage in ihm.
Ihm schien, als wisperten die trockenen Blätter des Baumes eine Antwort, als riete ihm das Zischen des Windes im Gras und das Raunen der Erde unter ihm, was zu tun sei. Deutlich vernahm er die Worte, deren Geheimnis sich zu lüften begann, deren wahrhaftiges Sein sich mehr und mehr entblößte. Und was Clemens erkannte, ließ ihn erstarren. Alles würde anders werden; nichts besser.
Mit einem Seufzer nahm er seinen Koffer wieder auf, erhob sich und ging langsam den Weg zurück.
Die Sonne begann sich schon dem Horizont entgegenzuneigen, als er in der Ferne den Hof erblickte. „Alles hat seine Zeit“, hörte er in Gedanken Onkel Nikosch sagen. „Steine sammeln und Steine streuen, Bäume fällen und Bäume pflanzen, Säen und Ernten, Leben und Tod!“
Und morgen, dachte Clemens, morgen werde ich es vielleicht verstehen ...

 
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Hallo & herzlich willkommen hier vor Ort,

lieber Raffzahn,

mag sein, dass man in einer kindlichen Seele durch den Tod des Lieblingstieres stellvertretend eine aufkommende politische Katastrophe mit mehr als 50 Mio Toten darstellen kann – schwerlich träfe das aber unter Nutztierhaltung begründbar zu und erst recht nicht im Kitsch. Denn vor allem an der Beschreibungsflut krankt die Geschichte - selbst, wenn dem Jungen das Herz (sprich: die Zunge) überläuft.

Kurze Diagnose: Adjektivitis, Inflation der Hilfsverben und nicht nur dadurch Füllsel. Hinzu kommt ein offensichtlich technisches *-Problem: gleich*mäßigen …
Keine Ahnung; warum Sonderzeichen den Text stören (irgendwo hatt' ich dieser Tage schon einen solchen Fall gesehn). Sabotage?!, - eher nicht – oder könnten es in Deinem Ursprungstext Trennungszeichen sein? In jedem Fall: ich hab k. A.!
Machen wir die Kränkeleien an den ersten Sätzen fest:

Adjektivitis:

mittäglichen / ledernen / weiter treibenden / staubig / hart / gleichmäßigen / schwere / lange zurückliegenden / tiefe usw. usf.,
unnötige, weil in den entsprechenden Fällen eben keine Information: wer wüsste zB nicht, dass ein Traktorreifen schwer ist, zumindest schwerer als ein Kinderrad?

Dann folgen die Hilfsverben:

Der Koffer wechselte die Hand, für Minuten nur, dann wanderte er wieder auf die andere Seite des müde werdenden Körpers. Clemens dachte an die Dinge, die er Stunden zuvor, als er aufgebrochen war, nicht eingepackt hatte. Der Vater würde sie holen.
Bis zum Wechsel des Koffers in die andere hand ist der Satz okay. Die dann einsetzende Inflation der Hilfsverb-Konstruktionen ließe sich zwar nicht verhindern, aber einschränken:
Der Koffer wechselte die Hand, für Minuten nur, dann wanderte er wieder auf die andere Seite des [ermüdenden] Körpers
wäre eine Möglichkeit zB.
Der Vater würde sie holen.
Warum Konjunktiv II? Die erste Reaktion: bestehen da Zweifel, dass der Vater sie holend werde? Zweite Reaktion: es genügt Futur I, "wird" statt würde. Die dritte Reaktion aber: wenn ersichtlich wird, dass ein künftiges Ereignis gemeint ist, lässt die dt. Sprache auch Präsens zu:
Der Vater [wird] sie holen. / Der Vater holt sie.

Mein Genörgel sagt nun nix übers Inhaltliche - ich wer mich auch hüten, andern die Lesearbeit abzunehmen: denn Deine Idee, die anstehende Katastrophe "kindgerecht" aufzuarbeiten ist Dir allemal besser gelungen als überbewerteten andern kindlichen Briefeschreibern hierorts.

Gruß

Friedel

PS: Um auch dem Vorzubeugen: mein Lieblingshund musste vor zwo Jahren eingeschläfert werden. An uns beiden hätte man fragen müssen, wer sich da wem angepasst habe. Aber keine Bange: ich bin immer noch ein alpha-Tier!

 

Lieber Friedel,
hab Dank für die Be(Ver?)urteilung meiner Geschichte. Nun fühl ich mich doch genötigt, den einen oder anderen Deiner Kommentare meinerseits zu kommentieren.

Du verwendetest das böse Wort „Kitsch“ – wer fühlt sich berufen, zu entscheiden, was auf dieses Wort zutrifft?

Und ja: Ich finde, dass man „durch den Tod des Lieblingstieres stellvertretend eine aufkommende politische Katastrophe mit mehr als 50 Mio Toten darstellen kann“. Selbst dann, wenn es sich um ein Nutztier wie eine Gans handelt. Denn für den Jungen war es kein Nutztier, sondern fester Bestandteil des Lebens, ein Freund sozusagen, den man gefälligst nicht zu schlachten und zu essen hat.

Ich persönlich finde eine „Adjetivitis“, wie Du sie diagnostizierst, in der Regel ganz und gar nicht behandlungsbedürftig. Adjektive sind schließlich nicht umsonst fester Bestandteil unserer (und anderer) schönen Sprache. Sie vertiefen den Sinn des Gesagten, helfen dem Leser, den Kern, das Wichtige eines Satzen zu greifen. Mit Adjektiven lassen sich Wort-Bilder malen, schwarz-weiße Satzskizzen kolorieren, kühl distanzierte Abstände zwischen Ratio und Emotion überbrücken. Man stelle sich nur vor, ein Erzähler vermiede sämtliche Adjektive. Sein Bericht wäre trocken und sachlich, wäre eine journalistische Nachricht, die zwischen ihm und dem Zuhörer (bzw. Leser) keine Nähe aufkommen ließe. Ich liebe Adjektive, so sie denn passen und einen literarischen Sinn ergeben.

Kommen wir zum Konjunktiv II. Darüber ließe sich nun trefflich streiten – macht aber keinen Sinn. Wahrscheinlich hast Du in diesem Punkt recht, wenn ich mir auch nicht ganz sicher bin. Ich werde da noch mal in mich gehen.

Danach wird's bei Deiner Kritik ja richtig zart. Allerdings hätte ich jetzt aus rein persönlicher Neugier schon auch gerne gewusst, was Du zum Inhaltlichen sagst. Danke, dass Du mir ein besseres Gelingen als „überbewerteten andern kindlichen Briefeschreibern hierorts“ bescheinigst. Da drängt sich mir allerdings die Frage auf, ob dieser Satz nicht doch wieder ein kleines bisschen Gift enthält. Vielleicht verstehe ich es auch falsch: Siehst Du mich also ebenfalls als „überbewerteten kindlichen Briefeschreiber“?
Erklär's mir …

Aber danke bei allem dennoch herzlich (huch, ein Adjektiv…!) für die Zeit, die Du meiner kleinen Geschichte gewidmet hast.

Liebe Grüße
Raffzahn

 

Hi Raffzahn,

in puncto Kritik am Sprachstil verweise ich auf Friedel. Mir war die Story auch etwas zu blumig umschrieben.

Und zum Inhalt: Ich hatte danach irgendwie Clarice Starling im Kopf...

Die haut auch von Tante und Onkel ab, nachdem die Lämmchen geschlachtet wurden. Hach, diese empfindlichen Stadtkinder...

Meiner Meinung nach könnte die Geschichte auch locker in Jugend oder Gesellschaft stehen. Denn die Handlung an sich ist auch heute noch aktuell. Meine Verwandtschaft hat einen Bauernhof und wenn Besuch aus Berlin kommt, wird gerne auch mal die lila Kuh gesucht... Und das Steak auf dem Teller hat natürlich nichts mit den Kühen im Stall zu tun.

Fazit: Die Idee ist nicht unbedingt neu, aber ganz nett umgesetzt.

Grüße,

penny

 

Hi, Penny-lane!

Danke für Deine Kritik. Zum Sprachstil und der blumigen Umschreibung habe ich ja Friedel geantwortet.

Dass Dich meine Geschichte an Clarice Starling erinnert – nun ja, lassen wir die Lämmer darüber schweigen …

Natürlich wollte ich keine Geschichte über Stadtkinder schreiben, die zum ersten Mal auf einem Bauernhof Ferien machen und ob des Geschehens dort laut schreiend die Flucht ergreifen. In der Geschichte geht um das Entsetzen eines Jungen, der einen – in seinen Augen – Mord sieht, welcher als Vorbereitung zu einem Fest dient. Im Sommer 1933, ein halbes Jahr nach der Machtübernahme Hitlers, wurde alles für ein bis dahin beispielloses „Schlachtfest“, ein barbarisches Morden an Millionen von „nützlichen Gänsen“ vorbereitet. Vom kleinen zum Großen, vom Bauernhof zum Weltkrieg – so hatte ich die Geschichte gedacht.

Fazit: Vielleicht ist der Sinn dann doch im übergroßen Blumenstrauß meiner Worte untergegangen …

Liebe Grüße

Raffzahn

 

Nix zu danken,

lieber Raffzahn (schöner, zeitgemäßer nickname - während bei mir der Rauschebart und der dünner werdende Prinz Eisenherz auf'm Koppf rumwedelt, aber wahrscheinlich ist der Bart schon im Schreibtisch eingewachsen ...).

Um Vorurteilen (von denen sich niemand freisprechen kann) vorzubeugen: das ist keine Verurteilung (wie käm ich dazu?). Und eine Nötigung sollte es erst recht nicht sein (warum auch?). Und doch bin ich auf Deine(n) Kommtar/e gespannt wie der Flitzebogen des Odysseus.

„Kitsch“
ist nur insoweit bös, als es einer krumm nimmt. Schließlich ist es ein Kunsthandwerk mit manchem güldnen Boden (ich könnt's also auch, wollte ich denn.) Phrasen, Adjektive, Füllsel und Breittreten von Trivialitäten wären einige Merkmale, was man an Deiner Stellungnahme
Ich persönlich finde eine „Adjetivitis“, wie Du sie diagnostizierst, in der Regel ganz und gar nicht behandlungsbedürftig,
denn hättestu auch eine "unpersönliche" Meinung und das nicht wäre wenig genug ohne Verstärkunbg durch die Halbstarken ganz & gar, dass hier zB genügte
Ich ... finde eine „Adjetivitis“, wie Du sie diagnostizierst, in der Regel ... nicht behandlungsbedürftig.
Halbe Zeile gespart für neue Ideen - oder auch nicht. Ob die "schöne" Sprache dann durchaus eine "richtige" ist wüsst ich nun nicht zu sagen. Das ein 13-jähriger diese Gefühlswallungen hat, zumindest eher als ein wortkarger älterer Bauer, bleibt unbestritten.

Adjektive sind schließlich nicht umsonst fester Bestandteil unserer (und anderer) schönen Sprache.
Nicht mehr und nicht weniger als jede andere Wortart auch incl. Mischformen wie Partizipien usw.
Sie vertiefen den Sinn des Gesagten, helfen dem Leser, den Kern, das Wichtige eines Satzen zu greifen.
Sagen wir das im Konjunktiv, kann ich mit ja, so isset, antworten. Aber wie jedes Ding gibt's die andere Seite: Die vorgegebene Tiefe wird zugeschüttet. Der Sinn im Schwulst verschüttet. Es bliebe Falch- und letztlich Schwachsinn. Das wirstu auch wissen, was Deine Bemerkung verrät:
Ich liebe Adjektive, so sie denn passen und einen literarischen Sinn ergeben.
Was das inhaltliche betrifft hab ich es in einem Satz gesagt und zum Beleg mit Bingos (der blödeste und bösartigste & zugleich klügste & liebste Hund auf der Welt) Tod zu belegen versucht.
Siehst Du mich also ebenfalls als „überbewerteten kindlichen Briefeschreiber“?
Mitnichten & -neffen. Ich behaupte sogar, hinterm gelegentlichen Schwulst versteckt sich ein Erzähltalent, dem auch einleuchten wird, dass eine Novelle nicht halb so viel Beschreibung(en) enthalten kann wie ein Roman und eine Kurzgeschichte nicht einmal halb soviel wie die Novelle. Zum Schluss Deiner Stellungnahme mein ich sogar etwas Ironie zu erkennen.

In fremden Feldern erntend sei mir zum

Fazit: Vielleicht ist der Sinn dann doch im übergroßen Blumenstrauß meiner Worte untergegangen …
ein NEIN erlaubt.

Gruß

Friedel

 

Lieber, höchst zu respektierender Friedel,

Langsam – häppchenweise, sozusagen – nähere ich mich dem Verstehen Deiner Kritiker-Gedankengipfel. Zumindest hoffe/wünsche/glaube ich das …

Schöne bis sehr schöne Antworten auf meine Antworten hast Du gegeben, wenn ich bisweilen auch nicht in aller Gänze mit dieser, jener oder welcher einverstanden bin, Dir bei der einen oder anderen jedoch (zu meinem Beschämen, da ja meine Worte Ursprung des Disputs sind) absolut zustimmen muss. Vor allem, was Deine hundertprozentig korrekte Erläuterung, den Roman, die Novelle und die Kurzgeschichte betreffend, betrifft.

Jetzt jedoch kommt das große Aber vom Erbsenzähler: Hast Du da nicht eine Gattung aus der großen Familie der Schreiberei vergessen? Ich meine natürlich die Erzählung, jenes Mischding, welches von allem ein bisschen und von nichts ganz viel hat? Im literarischen Sinn lässt sie sich kaum in ein formales Korsett zwängen – wenn's auch immer wieder Versuche gab, gibt und geben wird, ebendies zu tun. Sie enzieht sich seit Erfindung der menschlichen Sprache dem Zensor, jenem altrömischen Bestimmer, der bestimmt, wer zu was bestimmt ist …

Doch lassen wir diese müßige Wort-, Sinn- und Inhaltsklauberei; führt sie doch letztendlich zu nichts Wirklichem. Ich werde mich nun zwei Aufgaben widmen: zum einen der, etwas zu verfassen, das möglicherweise ohne Wort-Blumenstrauß auskommt. Und zum andern muss ich jetzt unbedingt etwas von Dir, Friedel, lesen; schließlich gibt's ja immer wieder etwas zu entdecken, das zu lernen sich lohnt.

In diesem Sinne herzliche Grüße in respektvoll beginnender literarischer Zuneigung
Raffzahn

 

Langsam – häppchenweise, sozusagen – nähere ich mich,
was gut ist,

lieber Raffzahn,

man könnt's auch mit einem Wort sagen: behutsam oder - für die ängstliche Seele, und wer wäre nicht auch schon mal davon voll? - vorsichtig. Dass auch da ein Aber erfolgen wird / muss, vor allem darf, ist doch keine Frage. Meine Antwort ist aber: nein, wenn, dann hätt' ich das Vers-Epos vergessen. Aber Du siehst, es ist da. Selbst wenn ich im armseligen Berufsleben besten-, was ja auch ein schlimmstenfalls sein könnte, Bilanzen schrieb und statt zu "erzählen" angewandte Mathematik betrieb (was war zuerst da: zählen oder die Ableitung erzählen?) seh ich doch "Erzählung" als den übergeordneten Begriff an, da gibt's dann halt kürzere bis hin zu verdammt langatmigen, dabei kann es - mit der Form - wie Du schon sagst

von allem ein bisschen und von nichts ganz viel
haben. Und - da verrat ich Dir, was Dir nach einigen Pröbchen aufgehen wird -dass ich
[m]ich kaum in ein formales Korsett zwängen
lasse und zudem noch reichlich stur bin.

Also: nix wie ran!

Gruß

Friedel

 

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