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Sommer 1933
Unter der mittäglichen Sonne lief er, seinen ledernen Koffer in der Hand, den weiter treibenden Feldern hinterher. Staubig und hart trommelte der Weg unter seinen Füßen einen gleichmäßigen Takt; schwere Traktorenreifen hatten an lange zurückliegenden Regentagen tiefe Gräben hinterlassen, zwischen denen Grasbüschel und Löwenzahn blühten.
Der Koffer wechselte die Hand, für Minuten nur, dann wanderte er wieder auf die andere Seite des müde werdenden Körpers. Clemens dachte an die Dinge, die er Stunden zuvor, als er aufgebrochen war, nicht eingepackt hatte. Der Vater würde sie holen. Später, wenn er, Clemens, wieder zu Hause in der Stadt sein und sich an die gesteifte Bluse seiner Mutter schmiegen durfte. Wenn der Duft ihres Rosenwassers und der des Mittels, mit dem sie ihre aschblonden Haare in ihre hochgesteckte Form zwang, endlich wieder seine Sinne betörte. Bis dahin konnten die Hemden und Hosen, das Lesebuch und die Zeichenstifte getrost in dem Mörderhaus bleiben, aus dem Clemens am Morgen geflüchtet war.
Drei Wochen lang hatte er mit Tante Franzi und Onkel Nikosch unter einem Dach gelebt, nicht ahnend, zu welch unerhörten Grausamkeiten sie fähig waren. Getarnt durch Zärtlichkeit, Verständnis und liebevollem Bemühen. Verborgen hinter einer stets lächelnden Maske lauerte die Lüge, die, als dieser Tag noch jung war, ihr wahres Gesicht entblößte.
Unvermutet für Clemens, grauenvoll und blutig. Als hätte die grinsende Falschheit ihm selbst, der doch geglaubt hatte, die friedvolle Welt dieses Hofes sei unerschütterlich, das Leben aus der Brust gerissen.
Wie hatte er bis zu diesem Augenblick jede Stunde hier geliebt! Die immerfort fließende Zeit; die sich im wechselnden Wetter wandelnde Erde; jedes seiner Bestimmung folgende Tier; und die Menschen, die all dies lenkten. Tagesanbruch und Dämmerung bestimmten die Arbeit; Wind, Regen und Sonne richtete über Werden und Vergehen. Alles war so, wie es war. Da gab es nichts zu deuten und nichts zu hinterfragen.
Jolanta hatte ihm all dies offenbart. Sie wurde Freundin, Begleiterin, Lehrerin in der Schule des Verstehens um den Kern des Seins. Durch sie hatte er zu sehen gelernt.
Ihr heiseres Schnattern begrüßte ihn bereits lange bevor er die Stalltür öffnete; sie spürte sein Kommen. Allmorgendlich brachte er eine Schüssel Schrot, auf die sich die Gänse gierig stürzten; nur Jolanta hielt sich zurück, ließ den jüngeren aus der Schar den Vortritt, schmiegte ihren großen grau-weißen Körper mit den harten zerzausten Federn an Clemens’ Bein, und ihr kalter Schnabel kitzelte zart seine Wange. Und wenn er Jolanta einen Kornhalm hinhielt und die Gans das Geschenk vorsichtig entgegennahm, dann spürte der Junge die Kraft des Vogels, welche sich ihm gegenüber doch stets als unvermutete Zartheit zeigte. Erst wenn die Schar gesättigt war, wühlte auch Jolanta in der Schale, um sich schon bald darauf abzuwenden und mit stolz erhobenem Haupt die anderen zur nahen Wiese und hin zum modrigen Teich zu führen; immer wieder hielt sie dabei inne, um sich nach Clemens umzuschauen und ihn zu fragen, ob er nicht mitkomme.
Ja, durch Jolanta hatte er gelernt, zu verstehen.
Und auch durch Nikosch, den großen, hageren Onkel, den stillen Mann, dessen harter Akzent die Worte fremdartig klingen ließ. Seine dunklen Augen blickten stets ernst und ein wenig finster. Seine schwieligen Hände wussten die Arbeit auf dem Hof, wussten das Leben anzupacken. Im Stillen fragte Clemens sich, warum ausgerechnet er, der so grob und ungehobelt wirkte, die heitere, meist tanzend scheinende Tante Franzi hatte heiraten dürfen.
„Auf einen Bauernhof in den Osten muss sie gehen“, hatte er einmal seine Großmutter abfällig über ihre einzige Tochter sagen hören. „Zu einem Polacken. Alle Türen hätten ihr offengestanden. Zum Glück muss ihr Vater das nicht mehr erleben!“
Damals, als die Familie im großen Garten hinter Großmutters Haus bei Kaffee und Kuchen beisammensaß, hatte er den Sinn der Worte nicht verstanden. Doch blieben sie in einem verborgenen Winkel seiner Erinnerung stets erhalten. Erst an diesem grauenvollen Morgen dachte er wieder daran.
Clemens fühlte seinen Fußballen am harten Leder des Schuhs wundreiben. Fast war es Mittag, die Sonne glühte am Firmament. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Herz pochte. Entmutigt schaute er sich um. Er war ganz allein. Kein Haus war in der Nähe, kein Gehöft, keine einsame Menschenseele wie er selbst.
Jetzt bereute er, sich jemals auf die Ferien bei seiner Tante und seinem Onkel gefreut zu haben. Er bereute, Vaters jüngerer Schwester sein Herz geöffnet und ihrem Mann seine Liebe geschenkt zu haben. Er bereute seine übergroße Dummheit, durch die er sich hatte verleiten lassen, diesen beiden Menschen zu vertrauen, mit Franzi Brot gebacken und mit Nikosch hinaus auf die Felder gefahren zu sein, um dort zu pflügen, zu eggen, die Saat auszubringen und zu ernten. Und am Abend, wenn Tante Franzi das Brot schnitt und Onkel Nikosch die Wurst teilte, dann hatte Clemens mit ihnen die Hände gefaltet und demütig den Kopf gesenkt, dann hatte er so getan, als bete er, obwohl er kein Gebet kannte. „Gebete sind etwas für Gläubige“, sagte sein Vater. „Wer den Glauben an einen Gott braucht, ist zu schwach, an sich selbst zu glauben!“
Zuhause wurde nie gebetet, doch hier auf dem Hof wollte Clemens es seiner Tante und seinem Onkel gleichtun, hier gehörte der Dank an die Gaben eines für ihn fremden Gottes dazu.
Wieder wechselte sein Koffer die Hand, wütende Tränen brannten hinter den Augenlidern des Jungen. Aber er wollte nicht weinen, nicht schwach werden, kein kleiner Junge sein. Zum Mann musste Clemens heranwachsen. Groß und stark. In eine Uniform wollte er endlich passen, in eine solche, wie auch sein Vater sie seit einigen Monaten zu besonderen Anlässen trug. Zu Paraden, von denen es jetzt immer mehr in der Stadt gab, legte er sie an; warmes Braun, die schwarzen Stiefel auf Glanz gewichst, die gesteifte Baschlikmütze entschlossen in die Stirn gezogen. Seit Januar in diesem bedeutungsvollen Jahr 1933, seit Clemens dreizehn Jahre alt war, wurden auch immer mehr pompöse Kundgebungen ausgerichtet, bei denen Offiziere auf Podesten standen und der Menschenschar mit harter Stimme Parolen zuriefen. Von Härte und Unbeugsamkeit schrien diese bedrohlichen Parolen, von Schmach und Schande, von Rache, Blut und Boden. Und manchmal von einem deutschen Jungen, der gefälligst nicht zu weinen hatte.
Nein, er wollte nicht weinen. Niemals wieder. Nicht aus Wut, nicht aus Enttäuschung und schon gar nicht aus Schmerz. Und sei dieser auch noch so überwältigend.
Die Zeiten änderten sich, das hatte sein Vater gesagt. „Von jetzt an wird alles anders. Jetzt weht aber mal ein anderer Wind!“
Mit jedem Tag waren die Zeichen klarer zu sehen, auch wenn Clemens sie nicht zu deuten wusste. Doch ahnte er ein zukünftiges Anderssein von vielem. Ja, er spürte diesen anderen Wind, der wehte und der ein kalter war. Vor allem aber würde er selbst ein anderer sein. Ein aufrecht stehender Halm mit einer prall gefüllten Ähre voller Hoffnung auf die Zukunft. Kein Korn mehr, welches noch in gute Erde gelegt werden musste, um zu gedeihen. Ein Mann.
Ja, er, der Junge war, würde sich wandeln. Denn an diesem Morgen hatte er den Tod gesehen, und dieses Bild sollte von nun an für immer sein Begleiter sein. Ein Bild, welches sich auf abartigste Weise als grotesker Zwilling eines anderen verriet: den Anblick des werdenden Lebens.
Der Schein der aufgehenden Sonne hatte ihn geweckt. Vom Schlaf gekräftigt, war er flink in seine Kleider geschlüpft, die längst den einzigartig herben Geruch angenommen hatten, der über allem und jedem hier lag. Aufgeregt, denn am Abend zuvor hatte der Onkel angekündigt, an diesem Tag gemeinsam mit Clemens die letzte Saat für dieses Jahr ausbringen zu wollen. „Und am Sonntag“, verriet Nikosch und schaute dabei mit verklärtem Blick auf Tante Franzi, „am Sonntag feiern wir ein Fest.“
„Was für ein Fest?“, wollte Clemens wissen, aber der Onkel und die Tante lächelten nur und sahen einander lange an. Dann nahm Nikosch Franzis Hand und barg sie in seiner, die viel größer war und derber und doch so zart, als gehöre sie zu einem Maler, nicht zu einem Bauern. So feinfühlig war diese rissige, von harten Schwielen besetzte Hand; selbst ein winziges Korn konnte sie zwischen ihren Fingern halten und wenden, ohne Schaden anzurichten.
„Warte nur ab, kleiner Clemens“, hatte Tante Franzi gesagt, „du wirst noch früh genug erfahren, was wir zu feiern haben.“
Zwei Stufen auf einmal nehmend war Clemens an diesem Schicksalsmorgen die alte Holzstiege hinuntergesprungen. Vor der goldschimmernde Stube hatte er abrupt innegehalten, ihm schien, er habe ein Traumbild betreten, dessen Zartheit nicht berührt werden durfte.
Tante Franzi stand vor dem Fenster. Im frischen Gegenlicht glich ihre Gestalt einem Scherenschnitt, war undeutlich und verschwommen und dennoch auf wunderbare Weise klar und scharf umrissen. Abwesenden Geistes ließ sie ihren Blick hinaus in das Leuchten ziehen, ließ ihre Hand dabei sanft über die kleine, sich deutlich unter der geblümten Schürze hervorhebende Wölbung ihres Bauches streichen. Da erkannte Clemens: Seine Tante erwartete ein Baby, und dies war der Anlass für das bevorstehende Fest.
Im ersten Augenblick hatte ihn diese Erkenntnis Freude empfinden lassen aber auch Eifersucht. Tante Franzi und Onkel Nikosch hatten noch kein Kind; am Ende hatte er sie nur deshalb besuchen dürfen, weil sie sehen wollten, wie es ist, sich um einen Jungen zu kümmern. Würden die beiden noch Zeit für ihn haben, wenn sie erst ein eigenes Kind hätten? Würde er auch weiterhin im Sommer zu ihnen aufs Land kommen dürfen?
Nach dem anfänglichen Schrecken jedoch überwog die Freude in Clemens. Bald würde er selbst Onkel sein, würde er seinem kleinen Neffen all die Dinge zeigen und beibringen können, die er selbst schon kannte und beherrschte. Der Gedanke daran erfüllte ihn mit einem bislang unbekannten Stolz. Und dann sah er die Glückseligkeit auf Tante Franzis Gesicht, und im Nu waren alle Zweifel verflogen. Wärme und Liebe und Hoffnung füllten sein Innerstes auf beinahe schmerzliche Weise, deren er sich beinahe schämte, weil er weder für seine Mutter noch für seinen Vater jemals ähnliche Gefühle gehegt hatte.
Noch immer hatte die Tante ihn, der keinen Atemzug wagte, nicht bemerkt. Clemens scheute sich, dieses Bild, welches eine glückliche Schicksalsfügung ihn einen Herzschlag lang hatte ansichtig werden lassen, zu stören. Nein, er durfte kein Geräusch verursachen, durfte kein Wort an sie, die umgeben war von einem Kranz wie aus flüssigen Gold, richten; seine Stimme würde wie ein ins Wasser geworfener Stein die glatte Oberfläche kräuseln und jegliche Spiegelung zunichte machen. So wandte er sich leise ab und wünschte innigst, jener Anblick, den er verließ, um ihn zu erhalten, möge in der Zeit erstarren und ewiglich in seiner Erinnerung wiederkehren.
So lange war es her, so lange lag dieser Morgen hinter ihm. Ein Leben lang. Der Koffer wurde mit jedem seiner müden Schritte schwerer, die Schultern schmerzten und auch die Hände. Er verspürte Hunger und Durst, doch hatte er bei seinem Aufbruch versäumt, an Proviant für die Reise zu denken. Zu hastig war er geflohen, zu grauenvoll schien ihm jede Sekunde, die er länger als zwingend nötig auf dem Hof verbringen musste. Und selbst wenn in seinem Koffer Essen und Trinken im Überfluss gewesen wären; Hunger und Durst zu stillen hätte Clemens dennoch nicht gewagt, da er fürchtete, jenes andere Bild, welches sich ihm unmittelbar nach dem Wunder in der Stube gezeigt hatte, würde jegliche Nahrungsaufnahme vereiteln.
In der Ferne sah er die Silhouette eines dürren Baumes. Ein dunkler Fleck vor gleißendem Hintergrund nur, weiter nichts. Und doch schien er Clemens wie eine gnädige Erlösung, wie der Garten Eden selbst, in dem er rasten konnte und Kraft schöpfen, um sich dann mutig und gestärkt an die nächste Etappe seines Weges zu machen. Noch einmal zwang er seinen Rücken, sich aufzurichten, zwang er seine Beine, weitausholende Schritte zu tun, zwang er seine Füße, sich zu heben und nicht über die staubigen, steinharten, von der Sonne ausgedörrten Erdklumpen zu stolpern, die den ausgefahrenen Weg übersäten wie Steine ein im Frühjahr erwachendes Feld.
Ach, wäre er doch nicht hinaus auf den Hof und in den Sonnenschein getreten. Hätte er doch nur so lange bei der Tante verharrt, bis sie selbst den Zauber dieses Augenblicks durch eine Bewegung, einen tiefen Atemzug, ein erlösendes Blinzeln zerstört hätte. So vieles wäre ihm erspart geblieben! Aber Clemens war hinaus gegangen. Leise hatte er die Tür hinter sich geschlossen, war über den Hof hin zum Stall der Gänse gelaufen. Aufgewühlt vom soeben Erlebten hatte er nicht einmal das Fehlen des heiseren Schnatterns zu seiner Begrüßung bemerkt. Keine harten Federn schabten an diesem Morgen durch aufgeregte Flügelschläge über verwitterte Holzwände, keine hornigen Schnäbel kratzten am rostüberzogenen Riegel der Stalltür. Still war es auf dem Hof, ganz still.
Wie von selbst begannen Clemens’ Beine sich zu bewegen, liefen, rannten, flogen schier über den ausgedörrten Erdboden. An den Stallungen vorbei, um die Scheune herum, dahin, wo Onkel Nikosch am Abend den Traktor abstellte und wo Pflug und Egge und Sense auf ihren nächsten Einsatz warteten. Dort sah Clemens seinen Onkel stehen, den Arm hoch erhoben.
In diesem Augenblick drehte Nikosch sich um und wurde des Jungen gewahr. Er hielt inne, zögerte, schien mit dem Körper sein schändliches Tun vor den Augen des Jungen verbergen zu wollen. Doch es war zu spät, Clemens hatte bereits gesehen. Und was er sah, prägte sich wie von einem glühenden Brandeisen geformt in seine Seele. Des Onkels rechte Faust umklammerte ein Beil, während seine linke unerbittlich die Gans Jolanta – seine Jolanta! – auf einen von zahllosen Schlägen zerfurchten und verletzten Hauklotz presste. Und dann, mit der Geschwindigkeit eines kurzen Gedankens, sauste der blitzende Stahl herab, fraß sich durch Jolantas Gefieder am Hals, durch ihr Fleisch, ihre Knochen, besudelte die kostbare, die unschuldige Erde mit ihrem Blut.
Eines Schreies unfähig öffneten und schlossen sich Clemens´ Lippen. Tränen der Wut und der Trauer liefen über seine Wangen, und in seinem Kopf hämmerte immerzu nur der eine furchtbare Gedanke: Er hat Jolanta getötet, meine Jolanta!
Unbemerkt war Tante Franzi hinter Clemens getreten, hatte ihn sanft bei der Schulter gefasst. Wie eine Fee löste sie mit dieser Berührung die Starre, welche lähmend vom Körper des Jungen Besitz ergriffen hatte. „Nein!“, schrie er, wand sich aus der Hand seiner Tante rannte zurück, die Stiegen hinauf in sein Zimmer.
„Warum nur?“, schluchzte er unter immerfort laufenden Tränen, „warum hat er das getan?“
Und dann, auf dem Bett liegend, das Gesicht in den kühlen Kissen bergend, wuchs ein Entschluss in Clemens. Eine Woche sollte er noch hierbleiben, eine Woche mit dem grausamen Onkel unter einem Dach verbringen. „Nein!“, schrie er noch einmal, entschlossen, nicht eine Minute länger in diesem Mörderhaus zu bleiben.
Hastig hatte er seine Siebensachen in den ledernen Koffer gepackt, dann wandte er sich zum Gehen. Durch das Fenster sah er hinunter auf den Hof. Dort standen sie, die Mörder. Onkel Nikosch hatte den Arm um Tante Franzis Hüfte gelegt. Sie schaute besorgt. Aber sie stieß ihn nicht weg, diesen Arm, der eben noch getötet hatte. Clemens begann seinen Onkel zu hassen. Mit jeder Faser seines Körpers und mit jedem Gedanken seines Geistes verabscheute er ihn, und auch seine Tante blieb nicht länger verschont von seinem Hass. Wie konnte sie die Hand des Mörders um ihre Hüften dulden, wie seine Berührungen und Liebkosungen ertragen?
Leise schlich er die Stiege herab, verließ heimlich durch die Hintertür den Ort des Schreckens. Er wollte nach Hause, zurück in die wohlbehütete Unbekümmertheit seines Elternhauses.
Er erreichte den Baum, eine alte, verkrüppelte Birke, deren dürre Äste müde und zerzaust dem Erdboden entgegenwuchsen. Sie stand an einer Kreuzung, deren vier Wege jeder für sich ins Nirgendwo zu führen schien. Neben dem Baum, von einem verwitterten Holzzaun eingerahmt, dessen weiße Farbe abblätterte, stand ein altes steinernes Prozessionskreuz. Moos wuchs darauf, und in einer Einbuchtung zu Füßen des gepeinigten Jesus Christus klebte noch der Rest einer geschmolzenen roten Kerze.
Erschöpft ließ Clemens den Koffer ins gelbe, sonnenverbrannte Gras fallen. Seine Füße schmerzten, und für einen Augenblick wollte er im dünnen Schatten der Birke ruhen. Er setzte sich auf die Böschung und starrte die Figur des Gekreuzigten an. Dann wanderte sein Blick höher in die Zweige des Baumes, zwischen denen feine Streifen aus Licht tanzten. Eine Weile betrachtete Clemens das Schattenspiel der Zweige, dann flüsterte er: „Jesus, lass es mich verstehen!“
Tränen rannen über seine schmutzigen Wangen. Nein, er war kein Mann, war nicht hart und stark. Plötzlich spürte er Angst in sich keimen. Vor dem, was werden würde. War denn Jolanta nur der Anfang?, wuchs eine Frage in ihm.
Ihm schien, als wisperten die trockenen Blätter des Baumes eine Antwort, als riete ihm das Zischen des Windes im Gras und das Raunen der Erde unter ihm, was zu tun sei. Deutlich vernahm er die Worte, deren Geheimnis sich zu lüften begann, deren wahrhaftiges Sein sich mehr und mehr entblößte. Und was Clemens erkannte, ließ ihn erstarren. Alles würde anders werden; nichts besser.
Mit einem Seufzer nahm er seinen Koffer wieder auf, erhob sich und ging langsam den Weg zurück.
Die Sonne begann sich schon dem Horizont entgegenzuneigen, als er in der Ferne den Hof erblickte. „Alles hat seine Zeit“, hörte er in Gedanken Onkel Nikosch sagen. „Steine sammeln und Steine streuen, Bäume fällen und Bäume pflanzen, Säen und Ernten, Leben und Tod!“
Und morgen, dachte Clemens, morgen werde ich es vielleicht verstehen ...