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Sodom
Teil 1: E3
Gabriel betrat das Flugzeug mit diesem einen, unverkennbaren Gefühl das in einem aufkeimt wenn man einen Fuß in eine dieser Maschinen setzte. Ganz gleich wie oft man davon las wie sicher diese Art des Reisens doch ist und wie oft man den Vergleich mit der Autounfall-Statistik bereits gehört hatte, dieses eine Gefühl lässt einen nie wirklich los. Eine der Stewardessen und einer der beiden Piloten, begrüßten die Passagiere am Eingang des Flugzeuges mit einem strahlenden Lachen. Eine Kopie. So kam ihm diese Situation jedes mal vor. Es war nur eine Kopie des Fluges davor und wiederum die Kopie des Fluges davor. Somit hatten die strahlenden Gesichter der Crew-Mitglieder für ihn bereits vor langer Zeit jedwede Bedeutung verloren. Und zwar mit Recht wie er empfand. Nickend passierte er das überfreundliche Empfangskomitee und drückte sich in den engen Gang der ihn zwischen die Sitzreihen führte. Er hatte es nicht weit. E3. Ein Platz am Fenster. Wenn möglich hatte er bisher immer einen Fensterplatz eingenommen. Wenn ihm das Fliegen auch nicht ganz geheuer war, so mochte er doch den Ausblick beim abheben der Maschine. Wenn die Welt unter ihm kleiner wurde, rührte ihn das innerlich stets aufs neue. Gabriel konnte nicht einmal genau sagen warum. „Auf dieser Welt gibt es schon so viel. Und für so wenig haben sie bisher die passenden Worte!“. Die Worte seiner Mutter nahmen ihm die Aufgabe ab sich einen Reim daraus zu machen warum ihn ausgerechnet der Blick von oben so dermaßen in Rührung versetzte.
Gabriel blieb stehen und legte die mittelgroße Reisetasche, deren Riemen er um seine rechte Schulter gelegt hatte, ab. Sorgsam verstaute er sie in der Gepäckablage die über den Sitzreihen verlief. Danach zwängte er sich an den Sitzen E1 und E2 vorbei und nahm endlich seinen Platz ein.
Gabriel ging das Ritual durch das er vollzog sobald er sich in einem Flugzeug gesetzt hatte. Die Rückseite des Vordersitzes enthielt wie gewohnt die obligatorische Sicherheitsbroschüre sowie mehrere Zeitschriften und Werbemagazine. Zuerst sah er sich, obwohl er natürlich genau wusste was ihn erwartete, die bereitgestellte Broschüre an. Und wie jedes mal kam sie ihm wie ein schlecht gemeinter Scherz vor. „Ziehen sie langsam die Sauerstoffmaske an sich heran und helfen sie bei Bedarf der Person neben ihnen...klar“. Gabriel legte die Broschüre wieder zurück und blätterte kurz die Werbezeitschriften durch. Leicht verhüllte Photoshop-Models für Parfümwerbung, dicht gefolgt von einem ausführlichen Bericht über Flüchtlingskinder. Somit verloren für ihn beide Inhalte an Glaubwürdigkeit und er blätterte die folgenden Seiten um ohne tatsächlich hinzu sehen. Dann legte er auch sie zurück an ihren Platz. Er ließ seinen Blick kurz durch die Kabine schweifen bevor seine Augen an den Regentropfen hängen blieben die langsam am Fenster hinunter flossen. Durch die vielen verschwommenen, gelben Lichter die der Flughafen zu bieten hatte, wirkten sie auf ihn beinahe wie flüssiges Gold. Gabriel legte den Kopf zurück und starrte durch das Kabinenfenster in die verzerrte Nacht.
Wie oft hatte er schon so da gesessen und gestarrt? Wie oft würde er noch hier sitzen und starren? Auf dieses zweite, geheime Leben dort draußen. Er wusste dass er wieder kommen würde. Wahrscheinlich sogar sehr bald. Und wie jedes mal wenn er so da saß, musste er an Sarah denken. Seine Frau. Und an David, seinen Sohn. Und an Elisabeth, seine Tochter. Und natürlich was sie sagen und über ihn denken würden wenn sie herausfänden was er hier tat. Was hier seit Jahren vor sich ging. Und da waren sie wieder. Die Bilder die jedes mal in seinen Kopf eindrangen wenn er den Heimweg antrat. Zerstörerische Bilder. Bilder von Sarah, wie sie hysterisch ihre Arme um David und Elisabeth schlingt und versucht die beiden vor ihrem eigenen Vater zu beschützen. Bilder von seinen Freunden die ihn verließen. Ihm sagten dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen und Schweine wie er für immer eingesperrt gehören. Und dann sah er sich selbst. Wie er Sarah machtlos gegenüber stand. Dem Hass seiner Freunde nichts entgegen zu setzen hatte und nicht im Stande war seinen Kindern in die Augen zu sehen. Und natürlich keimte wie immer die eine Frage auf: Was würde er versuchen ihnen klar zu machen? Dass er nicht anders kann? Dass er diese Bedürfnisse hatte? Dass er von diesem einen, besonderen Verlangen getrieben wurde welches zu Hause nicht gestillt werden kann? Doch er wusste es besser. Er würde einfach gar nichts sagen. Er wusste dass es nicht die geringste Möglichkeit gab ihnen klar zu machen das er einfach nicht anders konnte. Dass er es schon vor langer Zeit aufgegeben hatte seine Triebe zu ersticken und sich stattdessen dafür entschied, sie gewähren zu lassen. Diese Bilder in seinem Kopf lähmten ihn. Er musste den Kopf zurücklegen und schloss die Augen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Doch das war er inzwischen gewöhnt. Erst jetzt fiel ihm auf wie kühl es doch in der Maschine war. Wie er so in Gedanken versunken war, hatte er den Übergang zwischen feucht-schwitziger Tropenluft und der klimatisierten Kabine völlig verpasst. „Beim nächsten mal dann“ schoss es ihm in den Kopf und er wusste nicht ob man darüber nun besser lachen oder weinen sollte. Er öffnete die Augen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Regen der die gesamte Insel seit Tagen in Beschlag hatte. Wie lange würde es noch gut gehen? Wie lange konnte er noch Geschäftsreisen vortäuschen? Als könnte er die Gedanken damit abwerfen, schüttelte Gabriel den Kopf hin und her. Es war alles wie immer. Es hatte keine 2 Tage gedauert. Er hatte an alles gedacht. Und als er Sarah angerufen hatte klang sie voller Vorfreude. Wie immer. Es war alles wie schon dutzende male davor. Beinahe.
Von seinem Platz aus konnte Gabriel dein Eingangsbereich der Maschine verhältnismäßig gut einsehen. Und so entging ihm natürlich auch der dickbäuchige Mann nicht, der sich schnaufend an der Stewardess vorbei zwängte. Gabriel musste schmunzeln. Der Mann hatte schon Mühe seinen eigenen, wuchtigen Körper durch die engen Sitzreihen zu bewegen. Doch nun kamen auch noch eine schwere Tasche und ein kleiner Koffer hinzu die er, recht ungeschickt, links und rechts von sich positioniert trug. Bevor Gabriel bösartige Berechnungen darüber anstellen konnte wie viele Sitzplätze dieses Ungetüm von einem Menschen wohl gebucht haben könnte, trafen sich ihrer beider Blicke.
Die Temperatur im inneren der Maschine schien noch einmal um mehrere Grad zu sinken und Gabriel erwartete beinahe seinen Atem erscheinen zu sehen. Er erkannte den Mann. Dessen körperliche Ausmaße hatten Gabriel aus purer Schaulust daran gehindert den ersten Blick auf das Gesicht zu konzentrieren. Doch nun erkannte er ihn. Sein Haar klebte an seinem verschwitzten Kopf und hing ihm schleimig in die Stirn. Das auffällig dicke Brillengestell war ihm bis auf die Nasenflügel heruntergerutscht. Als er Gabriel erblickte hielt er einen Moment inne. Doch es verging keine Sekunde bevor er seinen Blick wieder abwandte und mit gespielter Konzentration seinen beschwerlichen Weg fortsetzte. Auch Gabriel löste sich aus seiner Starre und richtete seine Aufmerksamkeit eisern geradeaus. Das war falsch. So war es bisher noch nie gewesen. Denn normalerweise treffen sich die „Reisenden“ nicht.
Vor seinen Augen vergilbte und verdreckte die Flugzeugkabine solange bis sie sich zu der engen, kaum beleuchteten Gasse verwandelt hatte in der er vor nicht einmal 24 Stunden gestanden hatte. Es war ein kleiner, unscheinbarer Weg der von der Hauptverkehrsstraße abzweigte nur um sich dann zwischen baufällige Betonhäuser und Hütten aus billigsten Wellblech zu quetschen. Der Boden war immer nass und man konnte die kleinen Pfützen entweder durch den Mond oder ein weit entferntes Licht schimmern sehen. Moos bildete sich an den Betonwänden. Er hatte diese Gasse nie bei Tageslicht gesehen.
Er stand einfach nur da. Durch dieses regungslose verharren konnte er die Schweißerlen spüren die ihm am Gesicht entlang rannen. Sein Hemd hatte er noch nicht wieder zugezogen. Es war einfach zu heiß. Die billige Holztür mit dem abgeblätterten Lack aus der er so eben herausgetreten war, hatte er nicht komplett zu gezogen. Man solle sie hinterher immer einen Spalt weit offen lassen. So hat es von Anfang an stets geheißen. Das Wimmern, welches durch den Spalt nach draußen gelang, war kaum zu hören. Der Lärm der umliegenden Stadt war einfach zu aggressiv. Es war vorbei. Dass, wofür er hergekommen war, war getan. Er blickte auf seine Armbanduhr herab. 40 Minuten waren vergangen. 30 waren vereinbart worden. Er würde draufzahlen müssen. Gabriel griff in seine rechte Gesäßtasche und holte seine Geldbörse hervor um sich zu vergewissern das er zahlungsfähig war. „Alles gut“ dachte er sich als er die vielen bunten Scheine durchblätterte. Er steckte das Geld zurück. Es war angenehm kühl in der Gasse. Eine Wohltat gegenüber der fiebrigen Wärme des kleinen Zimmers. Und muffig war es gewesen. Der meiste Gestank dürfte von der gelblichen Matratze ausgegangen sein. In jedem anderen Zustand hätte er sich auch sicher darüber gestört. Doch Gabriel hatte inzwischen gelernt die Welt um sich herum zu vergessen um sich auf das „wesentliche“ zu konzentrieren. Wann immer es eben nötig war. Nur so funktionierte das hier.
Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch einer nackten Glühbirne entgegen die das Ende eines dilettantisch verlegten Kabels bildete welches wiederum lediglich an die nackte Betonwand geklebt worden war. Fühlte er sich gut? Ja. Das tat er. Sehr gut sogar. Gabriel strich sich eine nervige Haarsträhne von der Stirn. Dann begann er sein Hemd zu zu knöpfen. Den obersten Knopf lies er offen. Er warf einen Blick über die Schulter und riskierte einen letzten Blick in das dreckige Hinterzimmer. Zumindest soviel wie der Türspalt zu lies. Doch er sah nur ihre kleinen Füße.
Mit zügigen Schritten zwängte er sich durch die kleine Gasse in Richtung Hauptstraße. Die Geräusche wurden lauter und die Lichter heller. Aber auch die Hitze der Straße war inzwischen zu spüren. Gabriel entnahm seiner Zigarette den letzten Zug bevor er sie auf den nassen Boden warf. Das Gedränge und nächtliche Leben auf der Hauptstraße war nun bereits deutlich hörbar. Er passierte die letzte scharfe Abbiegung und der Blick auf die Straße war frei. Gabriel senkte intuitiv den Kopf. Die Straße mit erhobenen Hauptes zu betreten wäre dann wohl doch zu viel des Guten gewesen. So viel wusste er noch. Gabriels Schritte wurden schneller. Die Hauptstraße war ein sich stetig bewegender Fluss aus Menschen, Autos. Pulsierend und rastlos. In eintausend Farben. In diesen Strom würde er nun nahtlos übergehen. Und dann würde er verschwinden. So als sei er nie dagewesen.
Noch ein paar Schritte bis zur Unsichtbarkeit. Dann ein lautes Zischen und ein Knall. Ein Feuerwerkskörper. Nichts ungewöhnliches in diesem Viertel. Wahrscheinlich demonstrierte ein Marktanbieter mitten auf der Straße seine Ware. Doch der Knall hatte Gabriel dazu gebracht den Blick zu heben bevor er aus der Gasse trat. Und dann sah er ihn. Der Mann stand links am Ausgang der Gasse. „Blöder Fettsack“ dachte sich Gabriel nur. Man wartete nicht bis der andere heraus kam. Man drehte ein paar Runden um die Häuser. Immer und immer wieder. Dann, wenn der Vorgänger das Gebiet verlassen hatte, kam die SMS. Die SMS enthielt nie große Worte. Nur „Jetzt“ oder im ärgsten Fall „Du bist dran“. Die Textnachricht war der Schlüssel. Ohne sie lief nichts. Wenn keine SMS kam, gab es dafür einen Grund. Dann stimmte irgendetwas nicht. Und dann näherst du dich der Gasse auch auf keine 10 Meter. Erst wenn du aufgefordert wurdest betrittst du den dunklen Weg mit der selben Selbstverständlichkeit mit der du dir vorher an der Eckbar ein Bier genehmigt hast.
Gabriel überlegte warum dieser Idiot wartete. Vielleicht weil er selbst überzogen hatte? War es sein erstes mal? War er nervös oder einfach zu betrunken? Oder hatte er den Teil mit der SMS nicht verstanden? Es zischte und knallte noch einmal. Dieses mal konnte Gabriel ein paar aufflackernde Lichter erkennen. Es handelte sich also tatsächlich um Feuerwerkskörper. Er passierte den Wartenden und so kam es wie es kommen musste. Gabriel schaute auf, und blickte ihm ins Gesicht. Es verging höchstens eine halbe Sekunde. Doch selbst wenn sie sich in ein nahegelegenes Cafe gesetzt und ein ausführliches Gespräch geführt hätten, hätte er nicht mehr erfahren können. Sein Blick sagte alles. Es war definitiv nicht sein erstes mal. Sein Gesicht war hart, fern jeglicher Nervosität. Doch seine Augen waren glasig. Er war wie Gabriel schon vermutet hatte entweder stark angetrunken oder stand unter Drogeneinfluss. Manche tun dies. Damit es ihnen leichter von der Hand geht. Den Kopf leicht in den Nacken gelegt blickte er Gabriel mit seinen ausdruckslosen Augen ins Antlitz. Sein ganzer Kopf und sein ganzes Hemd waren komplett verschwitzt.
Dann war die halbe Sekunde vorbei und er schritt an dem korpulenten Mann vorbei. Sie hatten sich angesehen. Gabriel wusste wohin er ging. Und der Fettsack wusste woher er kam. Sie teilten das selbe, schändliche Geheimnis das jenseits dieser Gasse lag. Ein zurechtgelegtes Geheimnis. Mit Tauen so verschnürt dass es nicht entweichen kann. Damit nur die davon erfahren die es zu schätzen wissen.
Mit diesen Gedanken trat er auf die Hauptstraße und schloss sich dem Menschenmeer an das sich größtenteils nach rechts bewegte. Er konnte noch hören wie sich der Fettwanst mit einem Schnaufen in Gang setzte. Dann übertönten Motoren und Musik jegliches Geschehen. Gabriel blickte nicht noch einmal zurück. „Ausgerechnet so ein Kerl“ dachte sich Gabriel. In dessen Blick hatte er gesehen dass dieser sich nicht zurückhalten wird. Er wusste dass es brutal zugehen würde.
Er kam an einem kleinen Ausschank vorbei. Vor diesem waren billigste Plastiktische und Plastikstühle aufgestellt. Alle belegt. Er stellte sich an den Tresen und bestellte ein kühles Bier und lies sich etwas Geld wechseln für den Zigarettenautomat.
Einen großen Schluck Bier nehmend stand er dicht am Straßenrand und atmete die schwere Luft ein. Alles roch nach Benzin, Rauch und in zu viel Öl gebratenem Essen. Er dachte an seinen Mitwisser, auch wenn er es nicht wollte. Doch das konnte er sich jetzt nicht mehr aussuchen. „Ausgerechnet so ein brutaler Fettsack. Ausgerechnet so einer. Das arme Kind...“
Ein lautes Poltern holte ihn zurück in die Flugzeugkabine. Eine Frau hatte ihren Kofferroller, beim Versuch diesen einzuladen, fallen gelassen. Gabriel beobachtete sie. Peinlich berührt ging sie in die Knie und begann mehrere Gegenstände aufzulesen. Was genau konnte er aus seiner sitzenden Position nicht erkennen. In ihrer Nähe saßen mehrere Personen. Niemand half ihr. Hastig verstaute die junge Frau (er schätzte sie auf Mitte 30) alles wieder in ihrem Koffer und konnte ihn schließlich problemfrei in der Gepäckablage unterbringen. Gabriel sah sich weiter um. Noch immer betraten Menschen das Flugzeug doch die Kabine hatte sich seit seinem Abschweifen gefüllt. Gabriel fiel auf das die meisten Passagiere alleine zu reisen schienen. So wie er.
Der Regen hatte nicht nachgelassen. Natürlich dachte er einen Moment darüber nach ob es bei diesem Niederschlag eine gute Idee war zu fliegen. Und dann erinnerte sich wieder daran wie oft er schon bei Stürmen, wesentlich wüster als diesem, gestartet war. Er erwischte sich dabei wie er insgeheim darüber philosophierte, wie viel einfacher das Leben doch wäre, könnte man überflüssige Gedankengänge doch einfach im Vorbeigehen in den Papierkorb werfen. Schnell vergaß er diesen Blödsinn wieder.
Seit mehreren Minuten hatte niemand mehr die Maschine bestiegen. Gabriel schob den Ärmel seiner Jacke ein Stück nach oben und blickte auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. 21:39 Uhr. In 6 Minuten müsste es soweit sein. Doch die Maschine stand noch immer. Er legte den Gurt an so als würde das den Vorgang beschleunigen. Dann kam die Durchsage. Man begrüßte alle Passagiere im Namen der Airline an Bord und gab die üblichen Informationen zu dem bevorstehenden Flug preis. Danach bat man um Aufmerksamkeit für die Sicherheitsanweisungen. 2 Stewardessen schickten sich an mit den Einweisungen zu beginnen. Gabriel wandte den Blick ab. Inzwischen sah er sich selbst dazu in der Lage diese Prozedur vor einem Haufen ahnungsloser vorzuführen. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Gabriel blickte nach oben auf die kleine Anzeigetafel über seinem Kopf. Das „Bitte anschnallen“ Symbol blinkte bereits. Er hatte es gar nicht mitbekommen. Routine wohin man sah.
„Die Sicherheitseinweisungen finden sie auch in der von uns bereit gestellten Broschüre.“ kratzte es aus den Lautsprechern. Gabriel beobachtete noch wie die Stewardessen hinter dem Vorhang verschwanden bevor er sich wieder dem Fenster zu wandte.
Rumpelnd setzte das Flugzeug seine Fahrt über den Start- und Landebereich fort. Abgesehen davon war es jedoch auffallend ruhig in der Kabine. Bevor er nun aber Theorien über diese ungewohnte Ruhe aufstellen konnte, machte er die im Alleingang reisenden Passagiere dafür verantwortlich. Das Licht in der Kabine war inzwischen gedimmt worden. Eine wohlige Atmosphäre machte sich um Gabriel breit. Obwohl er es schon mehrmals getan hatte, prüfte er noch einmal ob sein Sicherheitsgurt fest genug saß. Das Flugzeug fuhr eine letzte Kurve nach rechts und blieb dann auf dem Rollfeld stehen. „Sobald wir oben sind, werde ich versuchen zu schlafen“ ging es Gabriel durch den Kopf. In der Kabine war es noch immer ruhig. Ein männliches Husten drang von hinten an Gabriels Ohr. Die Sicht durch das Fenster war nun viel klarer. Wassertropfen besiedelten zwar noch immer die äußere Hülle des Flugzeuges doch der Regen hatte nachgelassen. Das Rollfeld unter ihnen wirkte durch den Regen glatt und rutschig.
Dann kam das Dröhnen. Gabriel stützte seine Arme auf den Armlehnen ab. Die zwei Sitze links von ihm waren leer geblieben. Das war ihm nur recht. Jetzt kam der Schub der Gabriel in den Sitz drückte. Das tosen der Maschinen brannte immer lauter während das Flugzeug im Sekundentakt an Geschwindigkeit zulegte. Die unterschiedlichen Lichter der Startbahn flogen nur so am Fenster vorbei. Das Terminal war schon nicht mehr zu sehen. Gabriel versuchte zu erraten wann sie endlich abheben würden. Noch rasten sie die Startbahn entlang. Die ganze Kabine vibrierte unter den Kräften denen sie alle ausgesetzt waren. Ein letztes mal fragte sich Gabriel wann der Pilot sich denn nun dafür entschließen würde ab zu heben. Und da war sie. Die Leere. Sie hatten sich von der Erde losgelöst. Gabriel sah aus dem Fenster. Die Lichter die das Rollfeld markierten verschwanden langsam aus seinem Blickfeld. Doch nun gab die Nacht die erleuchtete Stadt hinter dem Flughafen für ihn frei. Die Maschinen tobten noch immer während das Flugzeug sanft in die Lüfte glitt. Gabriel legte den Kopf zurück. Ein funkelndes, flimmerndes Meer aus den unterschiedlichsten Farben erstreckte sich unter ihnen so weit seine Augen reichten. Manche Stadtteile leuchteten heller als andere. Manche bunter. Wie Adern zogen sich die dicht befahrenen Straßen durch die einzelnen Bezirke und ergänzten das Farbenmeer noch um die Scheinwerfer der unterschiedlichsten Fahrzeuge. Die Stadt stand unter Strom. Auch ohne ihn. Und wenn er nun das Fenster öffnen könnte, würde er wetten er könnte von hier oben ein pochen hören. Hervorgerufen durch den Puls der Stadt.
Die ersten Wolken schoben sich ins Bild. Hier und da wurde der Lichter-Teppich von ihnen befleckt. Dann wurden es mehr. Das Leuchten entfernte sich und die Welt wurde kleiner und kleiner. Gabriel drückte seine Stirn gegen das kalte Kunststofffenster. Es wurde dunkler draußen. Die Wolken wurden dichter. Sie befanden sich nach wie vor im Steilflug. Das Brummen der Triebwerke lies hin und wieder nach, zog dann aber rasch wieder an. Als sich das Flugzeug dann schließlich nach links neigte, waren alle Lichter verschwunden. Gabriel verharrte in seiner beobachtenden Position und blickte nun in das tiefe Schwarz der Nacht.
Das unverwechselbare Geräusch, das ertönte wenn sich während des Fluges ein Ereignis vollzog, riss Gabriel schließlich aus seiner Starre. Der Pilot hatte die Anschnallpflicht aufgehoben. Er sah sich um. Ein paar Leute richteten sich sofort auf. Einige gingen in Richtung der Toiletten davon doch die meisten von ihnen kramten in den Stauräumen nach ihrem Handgepäck. Gabriel dagegen lockerte seinen Gurt lediglich ein wenig und machte es sich somit bequemer. Er klappte die Armlehne seines Nachbarsitzes nach oben. Es würde noch etwas Zeit verstreichen bis die Stewardessen das Abendessen servieren.
Gabriel hatte sich vorgenommen den ganzen Nachmittag im Hotelzimmer zu verbringen um zu schlafen, doch dazu war es nicht gekommen. Es war viel schwüler gewesen als normal. Oder schwüler als er es in Erinnerung hatte. Er konnte nicht einschlafen und hatte stattdessen den Tag mit schnellem Essen, ein paar Bier und einem Buch in einer Strandbar verbracht. Bei der Fahrt zum Flughafen hatte ihn die Müdigkeit dann jedoch schließlich eingeholt. Gabriel beugte sich nach vorne und streifte sich die Schuhe von den Füßen. Man schlief nie in Schuhen. Also warum sollte man es im Flugzeug tun. Mit einem Griff zog er die von der Airline bereitgestellte Decke und das Kissen unter dem Sitz hervor. Er zog die dünne Plastikverpackung auseinander und breitete die Decke aus. Das Kissen klemmte er rechts von sich zwischen Bordwand und Kopfstütze. Bevor er sich zudeckte, griff Gabriel in seine rechte Hosentasche und zog eine angebrochene Packung Pfefferminzpastillen hervor. Er schüttelte eine heraus und steckte sie sich in den Mund. „Immerhin fast wie Zähneputzen“ dachte er bei sich während sich der frische Geschmack in seinem Mund entfaltete. Die schwere Armbanduhr an seinem Armgelenk legte er zwischen seine Beine.
Das Brummen der Triebwerke hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er zog sich die Decke bis zum Halse hinauf. Sie war nicht sonderlich groß. Seine Knie lagen bereits wieder frei. Sein Blick wanderte auf die von ihm einzusehenden, anderen Sitzreihen. Die meisten Leute hatten sich bereits einem Buch oder dem Bordradio zugewandt. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken sich mit Musik in den Schlaf zu wiegen. Doch die monotone Soundkulisse der Kabine dürfte ausreichen. Inzwischen fiel es ihm schwer bei völliger Geräuschlosigkeit einzuschlafen. Er führte ein hektisches Leben. Job. Familie. Seine geheimen Ausflüge. Da wirkte Stille für ihn stets wie ein Fremdkörper.
Er streifte sich seine schwere Uhr vom Handgelenk und verstaute sie zwischen seinen Beinen. Gabriel schloss die Augen. Er entspannte sich merklich als seine Lider sich senkten. In Gedanken malte er sich bereits seine Ankunft aus. Sarah, wie sie die Tür öffnete. Elisabeth, die ihn strahlend empfing. Und David, den er in seinem Kinderzimmer antreffen würde, irgendein Computerspiel spielend. Er würde Sarah die Geschichte erzählen die er sich noch vor dem Hinflug ausgedacht hatte und dann schnell das Thema wechseln. Er würde ihr sagen dass er dringend den Anzug reinigen müsse den er während seines Aufenthaltes nicht einmal angerührt hatte. Für den Kaffeefleck auf dem Hosenbein hatte er heute Morgen im Hotel absichtlich gesorgt. Sie würde ihn einen Tollpatsch nennen und dafür sorgen dass der Anzug noch am nächsten Tag seinen Weg in die Reinigung findet. Sarah liebte ihn zu sehr um irgendetwas zu hinterfragen. Vor dem Abendessen würde er dann seine Mutter anrufen um ihr zu sagen dass er wieder daheim sei und es ihm gut gehe. Sarah würde ein Festmahl zubereiten denn sie hatten 2 Tage hintereinander nicht miteinander zu Abend gegessen. Nach dem Essen würden keine 3 Stunden mehr vergehen bis David und Elisabeth im Bett lägen. Und wenn sie sicher sein konnten das beide feste träumten, würden er und Sarah miteinander schlafen. Und er würde so tun als könne sie ihm alles geben was er brauchte. Mit diesem Gedanken schlief er schließlich ein.
Ein Ruck ging durch die Maschine und Gabriel öffnete die Augen. Er fühlte sich träge. Er hätte seine Augen auch direkt wieder geschlossen um weiterzuschlafen wäre da nicht das rote Licht gewesen. Für einen Moment hielt er es für eine falsche Wahrnehmung da er eben erst seine Augen geöffnet hatte. Doch inzwischen bestand kein Zweifel mehr. Das normalerweise sonst so dämmrige, weiße Licht im inneren der Kabine hatte in ein drückendes Rot gewechselt. Gabriels Kopf ruhte noch immer seitlich auf dem schmalen Kissen während er mit halb offenen Augen nach oben starrte. Er konnte sich nicht erinnern jemals davon gehört zu haben dass man Rotlicht in Flugzeugen einsetzte.
Langsam richtete sich Gabriel auf. Er zog seine Beine zurück die er zuvor dankbar ausgestreckt hatte. Durch das Aufrichten verlor das Kissen an Halt und fiel hinter seinen Rücken. Er beschloss dass es dort erst einmal liegen bleiben könne denn er musste sowieso auf die Toilette. Er legte die Decke beiseite und lies seine Füße in seine Schuhe gleiten. Das zubinden würde er sich sparen. Vorausschauend klemmte er die Schnürsenkel jedoch unter die Schuhzunge. Langsam schob er sich an den zwei leeren Sitzen vorbei und trat in den Durchgang. Durch das rote Licht wirkte die Röhre vor ihm wie ein U-Boot. Er ging einige Schritte in Richtung der Bordtoilette ehe er seinen Gang wieder auf ein Minimum verlangsamte. Und dann blieb er stehen. Gabriel drehte sich um und kniff die Augen zusammen. Die Kabine war leer. Nun wirkte das rote Licht auf ihn nicht mehr fremd, sondern bedrohlich. Wo waren die Passagiere? Stumm lies er seinen Blick durch die Maschine gleiten. Die Sitze waren leer. Auf den Plätzen, soweit er sie einsehen konnte, lagen die verpackten Decken und Kissen. Nichts deutete darauf hin dass außer ihm jemals jemand an Bord gegangen war. Gabriel ging alle halbwegs realistischen Szenarien durch welche die bizarre Situation erklären könnten. Sie waren irgendwo notgelandet? Die Passagiere mussten in ein anderes Abteil wechseln und man hatte ihn vergessen? Die anderen hatten sich fälschlicherweise in der 1 Klasse niedergelassen und waren verwiesen worden? Die Maschinengeräusche waren seltsam leise. Mehr als ein seichtes Summen war nicht zu vernehmen. Gabriel drehte sich wieder um und setzte seinen Weg fort. Beim vorbeigehen lies er seine Blick über die leeren Sitzplätze schweifen, auf der Suche nach irgendeinem Lebenszeichen eines anderen Passagiers. Doch nichts erweckte seine Aufmerksamkeit. Er passierte die Bordtoilette und zog dann mit einem Ruck den Vorhang zur Seite der die 1. von der 2. Klasse trennte.
Ein unangenehme Schwere schien sich in seinem gesamten Körper auszubreiten. Er schluckte. Niemand. Keiner. Das Flugzeug blieb leer. Verwirrt von dem Anblick blieb er mehrere Sekunden starr. Dann trat er einen Schritt vor und setzte sich auf die Armlehne der ersten Sitzreihe links vor ihm. Was sollte das? Gabriel überlegte doch je mehr er nachdachte umso verwirrender kam ihm seine Situation vor. Wie viel Uhr war es? Er stand auf und lief mit hastigen Schritten an seinen Platz zurück. Dort angekommen suchte er nach seiner Armbanduhr. Er müsste während dem Schlaf darauf gesessen haben. Er hob die zerknüllte Decke hoch. Die Uhr fiel auf den weichen Sitz. Gabriel legte die Decke beiseite und griff sich die Uhr. Sein Gefühl sagte ihm dass er nicht länger als eine halbe Stunde geschlafen hatte. Erwartungsvoll sah er auf das Ziffernblatt bevor sich seine Miene erneut versteinerte. 23:38 Uhr. Doch der Sekundenzeiger stockte. So als würde ihn jemand mit Absicht daran hindern weiter zu ticken. Das war natürlich kompletter Unsinn. Es musste ein Defekt vorliegen. Gabriel versuchte mit Klopfen den Zeiger zum Fortlauf zu bewegen. Erfolglos. „Das darf doch alles nicht wahr sein“ flüsterte er leise. Er stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich noch einmal um. Noch immer kein Lebenszeichen. Erst jetzt kam ihm die Idee zu prüfen ob sich die Maschine überhaupt noch in der Luft befand. Nachdem die Armbanduhr kurzerhand in seiner Hosentasche verschwand, kletterte er zu seinem Sitz hinüber und sah durch das Fenster. Er sah die Lichter der Tragflächen. Doch sie leuchteten gedämpft, beinahe zu schwach. Doch ebenfalls in warnendem Rot. Die Tragflächen bewegten sich nicht. Zumindest soweit er das beurteilen konnte. Es war beinahe so als wären sie mitten im Fluge stehen geblieben. Ernüchternd trat er erneut in den Durchgang hinaus und schloss für einen Moment die Augen. Beinahe hoffte er alles würde sich wie von selbst regeln sobald er sie wieder öffnete. Doch nichts dergleichen geschah.
Doch dann durchzuckte ihn der eine, rettende Gedanke. „Die Piloten“. Wenn sie sich noch im Flug befanden, müssten zumindest die Piloten vor Ort sein. Er musste auf die andere Seite der Maschine um das Cockpit zu erreichen und so schob er sich durch die insgesamt 4 mittleren Sitzplätze und erreichte den gegenüberliegenden Durchgang. Mehr als ein paar Schritte in Richtung des Cockpits kam Gabriel jedoch nicht. Er blieb abrupt stehen.
Zuerst hielt er es für ein Gepäckstück, was allen voran ein gutes Zeichen gewesen wäre. Doch dann sah er noch einmal hin und ein erdrückendes Gefühl der Lähmung machte sich in seinem Körper breit. Es waren ungefähr 5 Meter die zwischen ihm und der Kabinentür lagen. Und dort, vor dem Eingang durch den er die Maschine im Vorfeld betreten hatte, kauerte eine Gestalt. Sie befand sich in hockender Position, abgestützt auf den Fußballen. Die Arme ruhten beide auf den Knien so dass die Hände nach vorne weg gen Boden hingen. Ihre Haut war komplett schwarz. Jedoch nicht so wie man es von dunkelhäutigen Menschen gewohnt war sondern ein durchgehendes, tiefes Schwarz. Soweit Gabriel es beurteilen konnte waren auch die Handflächen farblos. Der Kopf der dürren Gestalt hing zwischen den Schultern herab so dass das Gesicht nicht zu erkennen war.
Gabriel schluckte schwer. „Hallo?“ fragte Gabriel leise. Keine Regung. Langsam tat er einen weiteren Schritt nach vorne ohne das fremdartige Wesen aus den Augen zu lassen. Es gab noch immer kein sichtliches Lebenszeichen von sich. Gabriel merkte wie sein Unterkiefer zitterte. Seine Hände fühlten sich feucht an. Und da hob die Gestalt langsam ihren Kopf.
Gabriels Knie wurden weich und er ballte seine Hände unweigerlich zu Fäusten. Der Kopf des Wesens war kahl und soweit ersichtlich, fehlten alle nötigen Gesichtsmerkmale durch die er hätte das Geschlecht erahnen können. „Hallo?“ hörte sich Gabriel erneut selbst krächzen doch die Worte waren wie ein Reflex über ihn gekommen und weniger wie eine kontrollierte Handlung. Den Kopf weiter anhebend, begann das Phantom nun sich aus seiner kauernden Position zu befreien. Mit einer fühlbaren Leichtigkeit stützte es sich erst mit einer Hand am Boden ab bevor es seinen gesamten Körper nach vorne streckte. Das hintere Gewicht immer noch auf den Fußballen verlagert und sich mit den Händen am Boden abstützend, kam ihm das Wesen nun wie eine Raubkatze vor die sich bereit machte, ihre zuvor erspähte Beute jeden Moment zu reißen.
Bevor er diesen unheilvollen Gedanken jedoch auf sich und seinen schattenhaften Gegenüber übertragen konnte, drehte eben dieser plötzlich mit einem Ruck seinen Kopf in Richtung Gabriel und stierte ihn mit rot unterlaufenen und weit aufgerissenen Augen an. Ein Frösteln rann durch Gabriels Körper und seine Fäuste ballten sich so feste zusammen, dass sich seine Fingernägel schmerzhaft ins Fleisch gruben. Alle unglückseligen Gefühle die er sich auch nur im entferntesten ausmalen konnte, schienen sich plötzlich in ihm und der gesamten Kabine auszubreiten. Schuld. Wut. Hass. Gier. Trauer. Angst. Und ein jedes dieser Gefühle ließ sich problemlos auf ihn zurückführen oder mit ihm in Verbindung bringen. Dieses Ding schien einfach alles von ihm zu wissen und der Raum war voll von dieser Dunkelheit. Es schien ihm beinahe so als würden sich all diese Empfindungen zu einer greifbaren Masse verdichten. „Lauf weg“ rief er sich selbst ins Bewusstsein, „jetzt“.
Es vergingen noch mindestens zwei Sekunden bevor es Gabriel gelang sich aus seiner krampfhaften Starre zu lösen und sich umzudrehen. Er rannte los und musste zu seinem Entsetzen mit anhören wie sich die unheimliche Erscheinung ebenfalls in Bewegung setzte. Ein wutentbranntes, bedrohliches Schnauben brach hinter ihm aus und brachte die Maschine zum erzittern. „Schau dich nicht um“ befahl er sich und musste dann nach mehreren Schritten feststellen dass seine Beine schwerer und schwerer wurden. Er wurde langsamer. Er kannte dieses Gefühl. Immer dann wenn er mit David und Elisabeth Hand in Hand ins offene Meer gerannt war. Und wenn sie das Wasser erreicht hatten, konnten sie irgendwann die Beine nicht mehr schnell genug anheben. Und dann fielen sie alle gemeinsam lachend ins Wasser. Das war Gabriels nächster Gedanke der blanke Panik in ihm auslöste: Er würde fallen. Und dann würde ihn das Wesen erwischen.
Wie der Morast eines Sumpfes, hinderten ihn unbekannte Kräfte daran seine Füße zu heben. Sie waren schwer wie Blei. Das unheimliche Schnauben hinter seinem Rücken wurde lauter und aggressiver. Wie eine anfahrende alte Lok schob es sich ächzend durch die Kabine an Gabriel heran. Dann passierte es. Er wollte seinen linken Fuß heben, doch dieser war wie angewachsen. Keuchend versuchte er das Gleichgewicht zu halten doch alle Bemühungen schlugen fehl. Schützend riss er beide Arme hoch und streckte sie weit von sich während er nach vorne kippte.
Mit einem dumpfen Geräusch landete er bauchseitig auf dem harten Kabinenboden. Ohne zu zögern drehte er sich nach dem Aufprall auf den Rücken. Er wollte schreien doch wie eine Schlange legte sich die Furcht um seine Kehle und zog sich zu. Mehr als ein rasselndes Geräusch brachte er somit nicht über sich als er sah wie das Wesen ihn mit einer Hand feste an der Hüfte packte, sich über ihn hinwegzog und mit der anderen Hand nach seinem Gesicht griff. Die Kreatur war dünn, doch presste sie sich mit einem ungeheuren Gewicht auf Gabriels Körper nieder. Die rot leuchtenden Augen blickten tief in die seinen als sich die rechte Hand des Wesens hinter Gabriels Kopf schob und diesen leicht anhob. Langsam glitt das schwarze Antlitz dichter an dass seine heran. Das dämmrige rote Licht der Kabine verdunkelte sich und der Raum um ihn und seinen Angreifer verschwand in tiefstem Schwarz. Das auf ihn wirkende Gewicht nahm weiter zu während die roten Augen näher und näher glitten.
Ein verheerendes Gefühl völliger Verlorenheit flutete sein gesamtes Bewusstsein als er den heißen Atem der Gestalt spürte und gleichzeitig ihre gefühllose, klirrend kalte Stimme in seinen Ohren vernahm: „Gabriel!“
Der Signalton für die aufgehobene Anschnallpflicht beendete Gabriels Schlaf. Er öffnete die Augen und spürte die harte Bordwand an seiner rechten Schläfe. Das Kissen war verrutscht. Mit den Fingern der rechten Hand tastete er danach. Er konnte es fühlen. Es war auf seinen Schoss gefallen. „Ein Traum, ging es ihm durch den Kopf, es war ein Traum“. Seine Handflächen schmerzten. Er hob seine linke Hand und spreizte die Finger. Es fühlte sich gut an. Befreiend. Dann entdeckte er die kleinen, aber unangenehmen Abdrücke inmitten seiner Handfläche. Es waren kleine Rillen. Er musste sie sich im Schlaf selbst zugefügt haben. Er ballte seine Hand sanft zu einer Faust. Dort, wo seine Fingerspitzen die Handfläche berührten, schmerzte es.
Schwerfällig erhob sich Gabriel und streifte die Decke von sich. Er fühlte sich benommen und der Schreck saß ihm noch immer spürbar in den Gliedern. Das Licht der Kabine war wie gewohnt hell und das Flugzeug bewegte sich geräuschvoll durch die Nacht. Mit prüfendem Blick sah er sich um und vergewisserte sich ob er auch wirklich nicht alleine war. Doch die Passagiere saßen alle wie vorgesehen in ihren Sitzen. Nun entdeckte er auch das kleine Tablett mit gut rationierten Portionen an Essen welches auf dem Ausklapptisch seines Nebensitzes stand. Gabriel griff zwischen seine Schenkel und holte die Uhr hervor die er zuvor dort positioniert hatte. Es war inzwischen 22:42 Uhr. Das Abendessen war wohl bereits serviert worden und die Stewardess muss es wohl, in dem guten Willen ihn nicht wecken zu wollen, dort abgestellt haben. Mit einem musternden Blick griff er sich das Tablett und begutachtete das Menü. Ein Stück Schwarzbrot, Butter, eine überschaubare Portion Mousse au chocolat. Unter einer Klarsichtfolie konnte er zusätzlich ein Stück Hühnerbrust und diverses Gemüse ausmachen. Dazu stilles Quellwasser. Nichts was er nicht erwartet hätte. Doch egal was sie ihm vorgesetzt hätten, er hätte es nicht hinunter bekommen. Er hatte keinen Appetit und seit seinem Erwachen einen seltsamen, metallisch wirkenden Geschmack im Mund. Er stellte das Tablett zurück.
Gabriel lehnte sich zurück und schloss noch einmal für einen Moment die Augen. Es waren zwar schon einige Minuten vergangen, doch noch immer konnte er die verderbliche, beklemmende Stimme aus seinem Traum hören. Er musste unglaublich tief geschlafen haben. Da ihn das Signal, welches die geltende Anschnallpflicht beendete aus seinem Albtraum gerissen hatte, war davon auszugehen dass es während seines Schlafes zu Turbulenzen gekommen war. Er griff nach der Flasche Wasser und genehmigte sich einen großen Schluck. Mit der Zunge verteilte er das Wasser in seinem Mund in der Hoffnung, somit den eigenartigen Geschmack loszuwerden. Nach mehreren großen Schlücken war die kleine Flasche schnell leer. Nachdem er sie zurückgestellt hatte merkte er wie in ein nur allzu menschliches Bedürfnis ereilte.
Gabriel beugte sich nach vorne und wollte gerade in seine Schuhe schlüpfen als ein anderer Passagier an seinem Platz vorbei schritt. Gabriel sah kurz auf und stellte fest das der Mann keine Schuhe trug und nur auf Socken den Gang entlang ging. Er überlegte kurz und schob dann die Schuhe zurück unter seinen Sitz. Das Essens-Tablett und die leere Plastikflasche nahm er vom Nachbarstich und stellte beides auf dem äußersten Sitz ab. Die Stewardess würde diesen Wink verstehen.
Gabriel stand auf und betrat den Durchgang. Sofort warf er einen Blick in Richtung der Kabinentüre um sich zu vergewissern das dort kein Schatten auf ihn lauerte. „Ein Traum.“ wiederholte er leise und trat dann seinen Gang zur Toilette an. Gemächlich lief er zwischen den Sitzreihen entlang. Er stellte fest das auch andere Fluggäste das servierte Essen nicht oder nur teilweise angerührt hatten. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.
Der Mann den er im Vorfeld an sich hatte vorbeilaufen sehen stand vor der geschlossenen Toilettentüre. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er eines der anderen WC aufzusuchen, entschied sich dann aber doch dafür kurz zu warten. Gabriel musterte den Mann vor sich. Er trug eine schwarze Jogginghose mit weißen Seitenstreifen und einen grauen Kapuzenpullover der ihm eine Nummer zu groß erschien. Gabriel konnte den Ansatz eines Tattoos erkennen dass über den Nacken hinauf zum linken Ohr verlief. Während er darauf tippte dass es sich bei dem Tattoo um ein weiteres, einfallsloses Tribal handelte, drehte sich der der Mann zu schnell um als dass Gabriel seinem Blick noch rechtzeitig hätte ausweichen können.
Der Gesichtsausdruck des Mannes war hart und über alle Maße hinaus ausladend. Schnell wandte Gabriel den Blick ab und trat einen kleinen Schritt zurück. Er fixierte seinen Blick auf die Toilettentüre so dass sein Vordermann sich wieder umdrehte. Ein kurzes Rütteln ging durch die Kabine und Gabriel hoffte dass man sie nicht jeden Moment dazu auffordern würde sich zu setzen und an zu schnallen. Die WC-Tür ging auf und ein hagerer Mann mit zu großem Brillengestell trat heraus. Als er Gabriel und den anderen Passagier erblickte, schlich er schneller als unbedingt nötig an ihnen vorbei und machte sich auf den Weg zu seinem Platz. Nun betrat der Jogginghosen-träger die Toilette und lies die Türe hinter sich überflüssig laut ins Schloss. Als wolle er Gabriel noch einmal daran erinnern dass er nun an der Reihe war. „Idiot.“ dachte sich Gabriel und trat ein paar Schritte in den nun freien Gang. Er lehnte sich gegen die Wand neben der Toilettentüre und lies seinen Blick in die nachfolgende Kabine wandern. Es war ruhig dort. Niemand redete und viele Sitze waren leer geblieben. Er wollte sich gerade abwenden als ihm eine schlafende Frau ins Auge fiel.
Sie hatte den Sitz sehr weit zurück geklappt (wenn ihn nicht alles täuschte saß hinter ihr auch niemand den dies hätte stören können) und eine seitliche Haltung eingenommen. Ihre dunkelbraunen, gelockten Haare verdeckten einen kleinen Teil ihres Gesichts. Sie gefiel Gabriel. Er schätzte sie auf ungefähr 30 Jahre und empfand sie als überdurchschnittlich attraktiv. Sie schien kaum geschminkt zu sein was ihm zusätzlich imponierte. Gabriel wurde bewusst dass er sie nun schon einige Momente durchdringend musterte und wollte den Blick lösen als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Die junge Frau saß auf dem rechten, äußersten Platz der mittleren Sitzreihe. Ihr rechter Arm war auf der Armlehne abgestützt, doch vom Ellenbogen abwärts baumelte dieser von ihrem Körper weg in den Durchgang. Gabriels Blick schweifte über ihren Arm bis zu ihrer Hand die krampfhaft zu einer Faust geballt war. An ihrem Daumen, der über Zeige- und Mittelfinger lag, konnte er erkennen dass sie lange Fingernägel trug. Unweigerlich musste er an seine eigene, schmerzende Hand nach dem Aufwachen denken.
Gabriel konnte hören wie die Toilettentüre hinter ihm geöffnet wurde. Er drehte sich nur langsam um. Seine Gedanken waren wo anders als er sich von der Frau abwandte um sich endlich erleichtern zu können. Er schob die Tür auf. Sein Vorgänger hatte längst kehrt gemacht und lief breitschultrig über den Gang davon. Er betrat das WC, jedoch nicht ohne seinem Blickfang eine letzte Sekunde Aufmerksamkeit zu schenken. Denn das Flugzeug hielt sich ruhig. Der Kabinenraum wurde durch nichts erschüttert. Doch die Faust der schlafenden Frau bebte und zitterte.
Gabriel betätigte die Toilettenspülung. Der Geruch von Chemikalien erfüllte kurzzeitig die enge Räumlichkeit. Das Licht auf der Bordtoilette war unangenehm hell im Vergleich zur Kabinenbeleuchtung. Gabriel drehte den Wasserhahn auf und lies etwas Wasser in seine Hände fließen. Behutsam beugte er sich vor und tauchte sein Gesicht hinein. Wie eine Maske legte sich die belebende Kälte des Wassers auf seine Haut. Er schüttelte die Hände aus und griff blindlings nach dem Stapel Papierhandtücher neben dem Spülbecken. Schnell tupfte er sich das Gesicht ab und warf die benutzten Tücher in den vorgesehenen Papierkorb. Er verließ die Toilette nicht sofort. Stattdessen stützte er sich mit beiden Händen am Waschbecken ab und starrte in den Ausguss. „Du denkst zu viel.“ sprach er sich leise zu. In Gabriels Kopf wühlten Gedanken um Gedanken. Der dicke Passagier. Die Tatsache das viele der Fluggäste alleine reisten. Sein grotesker Traum. Der Mann vor der Toilette und allen voran die schlafende Schönheit. Ihm war schlecht und er fühlte sich wackelig auf den Beinen. Er hatte seit Stunden nichts gegessen. Wenn er zurück an seinem Platz war, würde er sich über das Mousse au Chocolat hermachen. Bei dieser Vorstellung sammelte sich sofort Speichel in seiner Mundhöhle an. Gabriel spuckte aus. In wenigen Stunden würde er zu Hause sein. Und dann würde all das hier, egal wie eigenartig es ihm vorkam, an Bedeutung verlieren.
Diese Aussicht verlieh Gabriel die nötige Motivation, seinen Schwindel zu ignorieren und um zu seinem Platz zurück zu kehren. Er erhob sich, sah in den Spiegel und starrte geradewegs in seine glühend roten Augen.
Ein kurzer Aufschrei und Gabriel stolperte nach hinten. Mit einem dumpfen Geräusch traf er auf die hinter ihm liegende Kabinenwand. Heftig atmete er ein und aus. Er hatte es genau gesehen. Das hatte er sich nicht eingebildet. Sein Spiegelbild stierte ihm erschrocken entgegen. Kein Traum. „Verfluchte Scheiße!“ fauchte Gabriel. In Eile wandte er gezielt den Blick vom Spiegel ab und entriegelte das Schloss. Er trat hinaus, drehte sich um und schlug die Tür der Bordtoilette feste zu so als würde er versuchen etwas daran zu hindern ihm zu folgen. Er sah nach rechts. Die Frau die er zuvor beobachtet hatte war aus ihrem Schlaf erwacht. Doch sie hatte sich in ihrem Sitz weit nach vorne gebeugt und wühlte nervös in einer kleinen Tasche umher. Gabriel konnte ihr Gesicht nicht erkennen. „Geh jetzt“ forderte er sich auf. Schnellen Schrittes trat er den Rückweg an. Durch eigenen Zwang hielt er den Kopf geradeaus. Was auf den Sitzplätzen links und rechts von ihm geschah sollte nicht mehr seine Sorge sein.
Schnell erreichte er seine Sitzreihe. Das Abendessen stand noch immer dort wo er es abgelegt hatte. Hastig quetschte er sich am ersten und zweiten Sitz vorbei und nahm Platz. Er seufzte erleichtert auf und hielt einen Moment inne. Anschließend griff er nach dem kleinen Becher Mousse au chocolat und dem dazugehörigen Plastiklöffel. Er riss den Deckel aus Aluminiumfolie ab. „Leck doch den Deckel vor den Kindern nicht ab.“ Die Worte seiner Frau hallten ihm in den Ohren. Aber hier waren ja keine Kinder. Keine Kinder. Kein einziges. Weit und breit. Gabriel drehte den Deckel um. Es klebte nur sehr wenig von dem Inhalt daran. Natürlich leckte er es ab. Den Deckel knüllte er zusammen und legte ihn zurück auf das Essens-Tablett. Der Löffel schob sich beinahe widerstandslos in das Dessert. Auch wenn die gebotene Portion nicht viel hergab, schöpfte er sich sofort einen großen Teil davon auf. Gierig schob sich Gabriel den Löffel in den Mund. Es schmeckte viel zu süß. Viel zu künstlich. So wie er es erwartet hatte. Auch beim Essen packte ihn keinerlei Appetit doch er merkte schnell dass der Zweck die Mittel heiligte. Er fühlte sich wohler. Bissen um Bissen. Sorgsam kratzte er die Reste aus der kleinen Plastikschale und legte sie dann ebenfalls zusammen mit dem Löffel auf das Tablett. Auch wenn er sich nun besser fühlte, verspürte er keinen Drang danach noch den Rest seines Abendessens anzurühren. Der Schwindel verließ ihn allmählich. Leichte Entspannung machte sich breit und zu gern hätte er jetzt weitergeschlafen. Diesen Wunsch verwarf er jedoch augenblicklich. Die Vorstellung, in seinen Träumen noch einmal der dämonischen Erscheinung zu begegnen, lies den Gedanken an Schlaf in weite ferne rücken. Diese Augen. Diese lodernden roten Augen. Beinahe noch konnte er den sengenden Atem spüren der ihm entgegenschlug als das Wesen ihm beim Namen nannte. Oh nein. Auf keinen Fall würde er einschlafen. Gabriel sah auf seine Uhr hinab. 22:57 Uhr. Seinen Sitz brachte er in eine aufrechte Position und Decke und Kissen mussten auf den Nachbarsitz weichen. Wenn die Stewardess kam um das Essen zu verräumen, würde er sich einen Kaffee bestellen. Vielleicht würde er auch nach einem Energy Drink fragen. Er hatte kein Buch dabei. Nichts womit er sein Gehirn fordern konnte. Doch er war sich sicher: „Ich bleibe wach.“
Ungeduldig fummelte er an der Verpackung der Kopfhörer herum die ihm die Airline zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte sich vorgenommen dem Programm des Bordradios eine Chance zu geben. Die Plastikfolie gab nach. Er hielt seine rechte Hand auf und lies die Kopfhörer hinein fallen. Die Verpackung lies er einfach los so dass diese zu Boden glitt. Er rollte Kopfhörer auf und steckte das Ende des Kabels in die in der Armlehne befindliche Öffnung. Noch bevor er die Ohrhörer selbst bei sich angebracht hatte, drehte er die Lautstärke auf das Maximum von 9 auf.
Ohne wirklich hin zu hören klickte er sich durch die verschiedenen Sender. Klassik. Pop. Charts. Eine Talkrunde. Dann noch etwas mehr gitarrenbetontes. 2 Sender blieben stumm. „Tolle Auswah.l“ schimpfte er in sich hinein. Er entschied sich für die Charts und tippte die Anzeige zurück. Erneut empfing er den Sender der eine lautstarke Diskussion mitschnitt. Bereits in der sicheren Erwägung weiter zu schalten, erregte ein Wortfetzen aus der Debatte seine Aufmerksamkeit: „...Das Dunkel findet seine Kinder...“.
Der tosende Klang der Triebwerke wühlte sich bis durch die Ohrhörer. Gabriel hielt sich die Hände auf die Ohrmuscheln und drückte leicht zu. Die Geräusche von außen klangen ab. Die Worte die ihn aufhorchen ließen waren von einer Frau gesprochen worden. Regungslos starrte er vor sich auf den Boden und folgte der laufenden, jedoch für ihn recht unübersichtlichen Konversation:
„Das Dunkel findet seine Kinder.“ „Das sind beunruhigende Worte die sie da wählen. Wie dürfen wir das verstehen?“ . „Wissen sie, ich kann mich den Ausführungen ihres Kollegen nicht anschließen...“
Gabriel war sich jetzt sicher dass das hitzige Wortgefecht zwischen einer Frau und zwei Männern stattfand. Sie war am Zug und die Stimme der Frau klang hart und bestimmend.
„..ich wurde von meinen Eltern und auch dem Rest meiner Familie im Einklang mit der Natur erzogen. Doch das hat nichts damit zu tun, dass das Leben um uns herum nur funktioniert wenn alle Gegensätze in einem Gleichgewicht zueinander stehen. Hitze und Kälte. Jäger und Gejagte. Gut und Böse...“
„Machen sie es sich mit dieser Überzeugung nicht etwas zu einfach.“ „Tue ich das wirklich?“ „Meiner Meinung nach, und ohne sie diesbezüglich persönlich angreifen zu wollen,machen es sich alle sprituell denkenden Menschen ein wenig einfach!“
Eine kurze Pause trat ein. Auf den Tonfall der Frau schließend, war sich Gabriel fast sicher das es nun zum Streit zwischen den Beteiligten kommen würde, doch mit gefasster Stimme fuhr die Frau fort:
„Warum verhungert ein Löwe?“„Was?“ „Sie haben schon richtig gehört.Warum verhungert er?“
„Warum verhungert ein Löwe. Nun, weil keine Beute vorhanden ist würde ich sagen.“ Schon wieder Stille. Wieder ergriff Sie das Wort: „Warum erfriert ein Mensch am Südpol unseres Planeten selbst wenn die Sonne scheint?“ „Finden sie das jetzt nicht etwas oberflächlich?“ „Beantworten sie...!“ „Nun, weil die Sonne, wenn überhaupt, nur sehr flach am Horizont steht. Sie kann gar nicht genug Wärme abgeben um...!“ „Weil das nötige Gleichgewicht fehlt!“
Gabriel versuchte anhand der Stimmlage jedem der Gesprächspartner ein passendes Äußeres zu verleihen. Da war zum einen der ältere, dickliche alte Herr mit Brille. Seiner tiefen Stimme entsprang ein faltiges, kantiges Gesicht. Sein männlicher Mitstreiter war mit seiner ruhigen, jugendlichen Stimme das genaue Gegenteil. Kurzerhand verpasste Gabriel ihm eine schlaksige Statur und ein neunmalkluges Aussehen.
Aufgrund ihrer alternativen Ansichten, gepaart mit ihrer spitzzüngigen und selbstbewussten Art zu sprechen, fiel ihm die Modellierung der Frau am leichtesten. Anfang vierzig. Auffallende Kleidung. lange, lockige Haare. Da er nun ein für ihn funktionierendes Bild der sich uneinigen Runde vor Augen hatte, verlief der weitere Gesprächsverlauf für ihn nun um einiges geordneter:
Mister Neunmalklug: „Liebe Kollegin, mir ist bewusst worauf sie uns aufmerksam machen wollen. Doch was sie beschreiben sind Gesetze der Natur. Das alles sind Ergebnisse aus Jahrmillionen der Evolution. Diese Gleichgewichte von denen sie sprechen gab es schon lange bevor sich die Menschheit überhaupt angedeutet hatte. Wie können da Gut und Böse, Dinge denen wir erst einen Namen gegeben haben, ins Bild passen?"
Tiefe Stimme (höchst zufrieden): „Danke ihnen!“
In Gedanken konnte sich Gabriel regelrecht ausmalen wie sich die aufgeschlossene Dame in ihren Sessel oder worauf auch immer sie saß zurücklehnte und erst einmal die Hände zusammenfaltete. Und gerade als er sich sicher war dass einer der beiden Herren erneut das Wort ergreifen würde um die peinliche Stille zu zerreißen, war es doch wieder Sie:
Frau: „Wie ich bereits erwähnt hatte, habe ich eine strenge, spirituelle Erziehung genossen. Eine Erziehung die mir einen Glauben beschert hat der mich ein funktionierendes, ehrfürchtiges Leben leben lässt. Verwechseln sie spirituell bitte nicht mit religiös. Ich glaube nicht an den alten Mann mit Bart der über uns wacht und beschützt.“
Tiefe Stimme: „Sondern?“
Frau: „Energie!“
Tiefe Stimme: „Energie in welchem Sinne?“
Frau: „Karma. Das was von uns bleibt. Es gibt viele Bezeichnungen dafür. Ich bin mir der Gesetze von Natur und Physik im klaren und nehme sie auch an. Dies würde sich mit dem Glauben an ein göttliches Wesen, welches die Erde oder gar das ganze Universum erschaffen haben soll, beißen. Und auch wenn ich nicht an Gott glaube, so bin ich mir dennoch sicher dass wir mit unserem Erscheinen auf diesem Planeten etwas aufkeimen ließen. Etwas das vorher nicht nötig war. Eine Kraft die weder für Tier noch Gewächs Bedeutung hat. Etwas das nur uns gilt.
Mister Neunmalklug: „Warum?“
Wieder trat Stille ein. Ein schwer definierbares Gefühl kroch sich in Gabriel nach oben. Er war sich plötzlich ziemlich sicher dass die Antwort nicht spurlos an ihm vorbeiziehen würde.
Frau: „Weil... wir Dinge in diese Welt gesetzt haben mit der sich das Leben bis dahin nicht auseinander setzen musste. Verfolgung oder Macht. Versklavung. Unterdrückung. Vergewaltigung. Mord. Das Töten ohne Grund. All das ließ sich mit den bestehenden Richtlinien der Natur in kein Gleichgewicht mehr rücken.
Tiefe Stimme: „Ich bitte sie. Wir haben Gesetze. Und auch klare Regeln..."
Frau: „Gesetze und Regeln die nur die Oberfläche angreifen. Was regeln und bestimmen wir denn? Wir bestimmen wer sich schuldig gemacht hat vor den von uns geschriebenen Gesetzen. Wie können wir uns anmaßen zu glauben dass wir, die gerade einmal einen Augenblick auf dieser Welt existieren, die notwendige Ordnung geschaffen haben damit das Leben funktionieren kann? Was ist denn das Leben für uns? Das was es tatsächlich ist oder das was wir darüber bisher durch Wissenschaft und Forschung in Erfahrung gebracht haben?
Tiefe Stimme: „Und sie wissen mehr?“
Mister Neunmalklug räusperte sich und Gabriel vernahm das knarzen von Leder. Beinahe wünschte er sich das Sie die Frage bejahen würde. Dann konnte er sie in die Schublade zu den ganzen anderen engstirnigen Spinnern stecken wo sie sich bis an ihr Lebensende darum streiten würden, wer mit seiner Überzeugung letzten Endes im Recht sei.
Frau: „Nein. Tue ich nicht. Ich weiß nur an was ich glauben möchte. Oder besser gesagt, an was ich glauben muss damit ich das Leben als solches akzeptieren kann“
Tiefe Stimme: „Und?“
Frau: „Und... ich habe mich entschieden zu glauben dass, egal ob wir es nun Gott, Schicksal, Karma, Gerechtigkeit oder Himmel und Hölle nennen, es um uns herum eine Kraft gibt der wir uns nicht entziehen können. Eine Kraft die zu gleichen Teilen Wächter, Richter und Henker sein kann. Eine Kraft die alles tun wird was nötig ist, um das Leben von den Mächten zu befreien die ihm Schaden zufügen. Es geht nicht im Gut und Böse. Das wäre viel zu einfach. Die Welt hat, lange bevor wir sie betreten haben, gelernt über sich und ihre Bewohner zu wachen...“
Die Stimme der Frau war nun nicht mehr weich sondern kühl und anklagend. Gabriels Kinn bebte. Die Vorstellung war verrückt doch es kam ihm vor als wüsste Sie genau das er zuhörte. Als hätte sie diese Worte nur für ihn gewählt. Ihn, der dem Leben Schaden zufügte. Ihn, der sich schuldig gemacht hatte. Ihn, den Schänder. Und dann:
...aus verbrannter Erde kann neues Leben entstehen. Und wer das Leben nicht annimmt, es verachtet oder gar zerstört, dessen Weg kann nur in die Asche führen. Damit das Leben weitergehen kann. Und wenn es das ist was andere Hölle nennen. Dieser Ort existiert.
Ich habe mich dazu entschlossen zwischen heller und schwarzer Energie zu unterscheiden. Engel und Dämonen. Glück und Pech. Das macht keinen Unterschied. Wir reden von der selben Gewalt. Einer Gewalt der sich niemand verwehren kann. Nicht ein Lebewesen. Und wann immer das Gleichgewicht zu kippen droht, wird sie eingreifen. Und das ist es letzten Endes woran ich mich entschieden habe zu glauben: Dass das was wir Böse nennen nicht geduldet werden kann.“
Nach Luft japsend riss er sich die Ohrstöpsel heraus und warf sie in mit einer Geste des Abscheus von sich. Seine Hände krallten sich in den Stoff seiner Hosenbeine. Wie ein Blitzschlag waren die Worte in ihn eingefahren: „Das Böse wird nicht geduldet.“ Ein Schlag in die Magengrube hätte ihm das Atmen nicht schwerer machen können. Er kannte diese Worte. Jemand hatte ihn schon einmal davor gewarnt. Er hatte es wohl nur einfach verdrängt.
Die Stewardess erschien an seiner Sitzreihe und entdeckte das Essens-Tablett das er bis auf das Dessert nicht angerührt hatte. Pflichtbewusst lächelte sie ihm zu und stellte alles zurück auf den Servierwagen. Gabriel lächelte verkrampft zurück. Doch er nahm sie gar nicht wirklich wahr. Alles war in weite Ferne gerückt. Die Passagiere, das Flugzeug. All das war nicht real. Real war nur Er selbst, als er nicht einmal 7 Jahre alt war, sowie die durchdringenden Blicke seiner Großmutter.
Es war an einem Abend im Oktober gewesen als er und seine Großmutter gemeinsam vor dem Fernseher saßen. Gabriels Eltern waren ausgegangen und so sollte er die Nacht bei ihr verbleiben. Sie war eine einfache, gottesfürchtige Frau gewesen. Er hatte ihr immer großen Respekt gezollt denn er konnte sich noch daran erinnern, wie er sich durch etwas in ihrer Art zu sprechen und ihre tiefe Stimme irgendwie stets schutzlos fühlte. Seinen Großvater hatte Gabriel nie kennen gelernt und das Haus in dem sie lebte, hatte er bereits damals für eine einzelne Person als viel zu groß empfunden.
An diesem Abend hatte es draußen schwer gestürmt. Er erinnerte sich daran wie die Zweige der umliegenden Bäume gegen die Fenster schlugen. Das ganze Haus duftete noch nach dem Abendessen das sie zuvor zu sich genommen hatten und der Kachelofen im Wohnzimmer verbreitete wohlige Wärme.
Seine Großmutter saß wie immer in dem großen Sessel direkt vor dem Fernseher und wie so oft hatte er sich einfach im Schneidersitz davor gesetzt. Es war nie still im Haus seiner Großmutter gewesen. Da waren der knisternde Ofen, die tickende Standuhr in der Diele und er könnte es zudem nicht beschwören dass das alte Radio in der Küche jemals wirklich ausgeschaltet war. Viele der Türen im Haus waren stets verschlossen gewesen. Durch die permanente Geräuschkulisse und die abgesperrten Bereiche versprühten die Räumlichkeiten immerzu eine geheimnisvolle Atmosphäre. Die Tatsache dass seine Großmutter die Abende am liebsten bei Kerzenlicht verbrachte, verstärkte diese Faszination in ihm nur noch. Und so saßen sie auch an diesem Abend bei schummrigen Licht beisammen, umgeben von den nebulösen Klängen des Hauses.
Im Fernsehen lief eine Nachrichtensendung. Ein längerer Beitrag über eine Katastrophe in einem Gefängnis in einem weit entfernten Land. Er erinnerte sich. Es hatte einen Erdrutsch gegeben und eine Schlammlawine hatte mehrere Zellenblöcke überschwemmt. Sie zeigten unkenntlich gemachte Aufnahmen von Toten die von Helfern aus dem Schlamm gezogen wurden. Er hatte darauf gewartet dass seine Großmutter das Programm wechseln würde denn von seinen Eltern war er es gewohnt von den alltäglichen Gräueln dieser Welt verschont zu werden. Doch sie schaltete nicht um. Er drehte den Kopf und warf ihr einen Blick zu doch sie starrte nur auf den Bildschirm. Sie hatte die Lippen fest aufeinander gepresst. Dann wurden mehrere Leute durch die Reporter interviewt. Es fielen die üblichen Sätze von wenig Hoffnung auf Überlebende und durch weitere Unwetter auftretende Behinderungen bei den Bergungsarbeiten. Dann aber zeigten sie einen Mann mittleren Alters. Er gehörte zu den Bergungsteams und unter seinem verdreckten Antlitz konnte man erkennen wie erschöpft er war. Er sprach davon dass die Zeit gegen sie arbeite und dass man leider nicht damit rechnen könne die noch als vermisst geltenden Personen lebend zu bergen. Der Mann schien alles nötige gesagt zu haben doch dann wollte einer der Reporter wissen ob man schon absehen könne ob lediglich Insassen des Gefängnisses bei der Katastrophe ums Leben gekommen waren. Gabriel konnte hören wie seine Großmutter hinter ihm tief Luft holte. In wenigen Sätzen erklärte er dann dass bisher niemand vom Gefängnispersonal als vermisst gelte und es quasi ein Wunder sei dass sich zum Zeitpunkt des Unglücks keiner der Wärter in den überfluteten Zellenblöcken aufgehalten habe. Man bedankte sich für das Gespräch und es folgten weitere Bilder der Unglücksstelle. „Wenn die Strafen der Menschen nicht ausreichen!“ hörte Gabriel dann seine Großmutter sagen. Er hatte sich umgedreht und diesmal sah auch sie ihn an. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengekniffen. Schwerfällig beugte sie sich vor und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Verstehst du was dort geschehen ist?“ hatte sie ihn gefragt. Er war verdutzt über diese Frage und da im Fernsehen doch so eben ausführlich erklärt wurde was vorgefallen war, konnte er sich nicht vorstellen welche Antwort sie nun von ihm erwartete. „Diese Dinge geschehen mein Kind, fuhr sie fort, und sie geschehen weil sie manchmal geschehen müssen. Verstehst du das?“ Gabriel hatte genickt obwohl er natürlich keine Ahnung hatte wovon sie redete. Die Hände auf seinen Schultern packten nun etwas fester zu und die Stimme seiner Großmutter war schneidend und bestimmend geworden: „Das Böse wird nicht geduldet. Wann immer es Zeit wird müssen diese Dinge passieren. Verstehst du. Der Teufel findet seinesgleichen. An manchen Tagen ist es wahrlich besser von reiner Seele zu sein.“
Erst jetzt fiel ihm auf dass er sich stark nach vorne gebeugt hatte und mit seiner Stirn beinahe den Vordersitz berührte. Gabriel wusste dass die von Energien überzeugte Frau im Radio nichts mit seiner streng religiös denkenden Großmutter gemein hatte. Und doch hatte sie die selben Worte benutzt. Sie hätte genauso gut die Worte „negativ“ oder „schlecht“ benutzen können. Doch sie hatte sich für „böse“ entschieden.
Gabriel hielt sich die Hände an die Schläfen und starrte vor sich ins Leere. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er war ein rational denkender Mensch. Religionen und der Glaube an höhere Mächte waren nie ein Thema für ihn gewesen. Bestrafung durch Gott? Nein, er hatte Dinge gesehen und getan die keinen Platz für solche Thesen ließen. Er atmete ein paar mal tief ein und aus. Da war kein Himmel und auch keine Hölle in seiner Welt. Da waren lediglich Zufälle. Die Worte aus dem Radio hätten keinerlei Bedeutung für ihn gehabt, hätte es diesen Abend bei seiner Großmutter nicht gegeben. Der Fettsack am Eingang hätte nicht das geringste in ihm ausgelöst wenn dieser sich an die Regeln gehalten hätte, und nicht vor seiner Zeit an der kleinen Gasse aufgetaucht wäre. Gabriel massierte sanft seine Schläfen und ordnete seine Gedanken. Für Wahn sollte es bei ihm keinen Platz geben. Dieser unheimliche und zu gleichen Teilen intensive Traum hatte ihn stark mitgenommen. Dies akzeptierte er. Doch was er nicht bereit war zu akzeptieren war die Theorie, welche besagte dass er sich in einem Flugzeug voller Sünder befand und dass ihn unheilvolle Anzeichen auf sein unseliges Schicksal aufmerksam zu machen versuchten. Gabriel merkte wie er sich entspannte. Er war also nach wie vor in der Lage zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Von diesem Gedanken sichtlich beruhigt beendete er die Massage an seinen Schläfen und lies die Hände sinken. Er kam sich lächerlich vor und konnte sich auch ein kleines Kopfschütteln nicht mehr verkneifen. Was war denn bloß los mit ihm? Er hatte einen gut bezahlten Job. Er hatte noch nie in seinem Leben Schulden gehabt. Seine Frau Sara liebte ihn über alles und seinen Kindern hatte es noch nie an etwas gefehlt. Zudem hatte er es geschafft seit Jahren ein erfolgreiches Doppelleben zu führen. Zwei Leben. Die meisten Menschen schafften es noch nicht einmal ein einziges vollends zu gestalten. Und das alles hatte er geschafft weil er ein logisch denkender und nach Fakten handelnder Mensch war der sich von Trugbildern und Halbwahrheiten niemals hatte blenden lassen. Wie konnte er es zulassen dass Zufälle, wie sie tagtäglich passierten, ihn in seinen Festen erschütterten?
Nach dieser mentalen Stärkung fühlte er sich beschwingt genug, einen neuen Versuch zu starten den Rest des Heimfluges zu nutzen um Schlaf nachzuholen. Albtraum hin oder her. Und zur allgemeinen Beruhigung würde er die Stewardess zuvor noch um einen Tee bitten. Stolz darauf, sich selbst Kraft verliehen und unnötige Furcht ausgeredet zu haben, wollte sich Gabriel in seinen Sitz zurückfallen lassen als ihn mehrere Wortfetzen, die ihren Ursprung mehrere Plätze vor ihm hatten, erneut inne halten ließen. Die beiden Sitzreihen vor ihm waren definitiv nicht belegt. Da war sich Gabriel sicher. Ob die Stimmen nun aus den Reihen A oder B kamen konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Es machte auch keinen Unterschied. Wichtig war nur das er sie gehört hatte. Es war die Stimme einer Frau gewesen die sich mit ihrem Sitz- und offensichtlich auch Lebenspartner unterhielt. Und die wenigen Worte die er von seinem Platz aus wahrgenommen hatte, hätten verstörender nicht sein können: „...Traum...Gestalt...unfähig zu laufen...rotes Licht...ganz allein...“.
Kerzengerade und mit leerem Blick saß er nun in seinem Sitz. Die schlafende Frau in der B-Klasse, deren Hand ohne äußerliche Einwirkung krampfhaft erzitterte, kam ihm wieder in den Sinn. Hatte sie etwa auch geträumt? Und war sie in diesem Traum etwa alleine im Flugzeug gewesen? Voller Angst? Bei rotem Licht? Ebenso wie die gesichtslose Passagierin ein paar Meter vor ihm? Gabriel spürte wie sich seine Kiefer verschlossen und sich sein Brustkorb zusammen zog. Die ganze innere Stärke, die er so eben in sich aufgestaut hatte, war längst verflogen. Da war es wieder. Dieses Chaos in seinem Kopf. Und jetzt fühlte sich das Chaos unbestreitbar real an.
Der Signalton ertönte und der Flugkapitän bat die Passagiere ihre Sitze einzunehmen und sich anzuschnallen da man in den kommenden Minuten mit Turbulenzen zu rechnen hätte. Nervös sah er an sich herunter und schloss den Gurt in seinem Schoß. Gabriel sah sich um. Die Fluggäste die zu zweit unterwegs waren tuschelten untereinander und unterhielten sich. Männer hielten ihre Frauen im Arm. Und die die alleine waren, und dass war die Mehrzahl, starrte angespannt drein. Tatsächlich konnte er niemanden entdecken der einfach nur da saß, ein Buch las, Musik hörte oder den Versuch unternahm zu schlafen. Alles was er sehen konnte waren angestrengte Gesichter und aufmerksam umher irrende Blicke.
Gabriel überlegte. Alle Passagiere wirkten auf ihre eigene Art beunruhigt oder desorientiert. Aber war das überhaupt möglich? Konnten sie wirklich alle geschlafen haben? Um das zu träumen was er geträumt hatte? Und für den Fall dass sie nicht geschlafen hatten, hatten sie dennoch einen Grund beunruhigt zu sein? Die Stewardessen gingen prüfend durch die Reihen um sich zu vergewissern dass die Passagiere der Anweisung Folge leisteten. Da kam Gabriel der entscheidende Gedanke. Die Crew. Sie hatten definitiv nicht geschlafen. Die Stewardessen, die Piloten. Sie waren die ganze Zeit über wach gewesen. Wie stand es um sie? Waren auch sie auf irgendeine Weise heimgesucht worden? Gabriel drehte den Kopf herum. Die Stewardess würde gleich bei ihm sein. Reflexartig prüfte er selbst noch einmal nach ob der Gurt denn auch wirklich eingerastet war. Sein Magen zog sich weiter zusammen je näher sie ihm kam. Er wollte ihr Gesicht sehen. Damit er sich endlich wieder beruhigen konnte. Damit dieser Irrsinn zu Ende ging und er sich nur noch auf Sarah, David und Elisabeth konzentrieren konnte. Damit er sich endlich freuen konnte.
Gabriel legte den Kopf nach links und da stand Sie. Es waren nur Sekunden. Zuerst bemerkte sie seine hoffnungsvollen und musternden Augen nicht. Dann aber trafen sich ihre Blicke und ein unabwendbarer Schauer floss an ihm herab. Es war das selbe Mädchen das bereits vorhin bei ihm war um die Reste seines Abendessens entgegen zu nehmen. Sie hatte dabei gelächelt. Sie hatte nicht gelacht weil sie wollte. Sondern weil es Vorschrift war. Damit er und die anderen Passagiere sich wohl fühlen konnten. Doch von diesem Pflichtbewusstsein schien nun nichts mehr übrig zu sein. Jegliche Leichtigkeit schien von ihr gewichen. Dafür lag nun eine Eile und eine Schwere in ihrem Gesicht die Gabriel dazu zwang, frühzeitig den Blickkontakt zu unterbrechen. Er hätte eben so gut in einen Spiegel schauen können. Verunsichert, bestürzt, rastlos. Gabriel las in ihrem Gesicht wie in einem Buch das er selbst geschrieben hatte. Ein Buch über die nicht enden wollende Erwartung an ein Ereignis das sich nicht beschreiben ließ, von dem man aber wusste dass es nichts als Elend für einen bereit hielt. Er hatte sich inzwischen abgewandt und auch sie war längst weitergegangen. Sein Schädel pochte. Allein der Gedanke an die angekündigten Turbulenzen lösten bei ihm ein Gefühl von Übelkeit aus. Er vergewisserte sich dass ein Spuckbeutel in greifbarer Nähe war, sollte es je zum äußersten kommen. Dann lehnte er sich zurück. Das bedrohliche Gefühl in ihm wich nun allmählich einer irritierenden Wut. Der Gurt um seine Hüfte schien sich straffer zu ziehen und sein Sitz engte Gabriel viel stärker ein als er es bisher empfunden hatte. Eine schwer zu fassende Benommenheit überkam ihn denn der Zorn den er verspürte richtete sich gegen ihn selbst. Zorn darüber dass er sich unter Zwang dem irrationalen verschrieb. Er kämpfte gegen Trugbilder die er selbst erschuf. Und auch die Arena in der sie sich gegenüber traten hatte er kreiert. Und dieses Flugzeug, der dicke Mann, der Nachtmahr, die schlafende Frau und die Stimme seiner Großmutter waren sein Werkzeug gewesen. Gabriel hob das Kinn und richtete sich in seinem Sitz auf. Ein kurzer Ruck ging durch die Maschine. Die Turbulenzen kündigten sich an. Und er war bereit für sie. Denn wenn er es war der diese zehrende Furcht mit auf diesen Nachtflug gebracht hatte, dann war es genau so gut auch er der eine leitende Funktion in einem führenden Unternehmen darstellte. Er, der abgöttisch geliebt wurde von seiner Frau und verehrt von seinen Kindern. Er, der in seinem Leben bisher mehr Macht und Gewalt über Menschen ausgesprochen hatte als so mancher Politiker. Er lebte versteckte Sehnsüchte aus während andere nicht einmal davon zu sprechen wagten und hatte mit seinen 42 Jahren mehr erreicht als so manch einer in seinem ganzen Leben. Sein Gurt wurde wieder lockerer und sein Sitzplatz dehnte sich spürbar aus. Ja, darüber sollte sich die Furcht gewiss sein: Er hatte ihr einiges entgegen zu setzen. Er wusste wieder genau wer er war und was ihn in dieses Flugzeug gebracht hatte. Es war seine Fähigkeit die Kontrolle zu wahren und seine Umgebung sowie seine Mitmenschen zu den Puzzlestücken zurecht zu formen die er brauchte, damit sie sich für das große Ganze zusammenfügen ließen. Nur deswegen war er hier. Er brauchte Bausteine für sein Mosaik. Denn das ist es was alle Menschen tun. Sie sammeln Steine. Stunde um Stunde. Tag für Tag. Damit sie diese, am Ende ihres Weges, zu einem Bild zusammensetzen konnten das den Rahmen füllt. Dies war Gabriels Überzeugung. So funktionierte das Leben für ihn. Mit dem Unterschied dass er sich vorgenommen hatte den Rahmen zu sprengen. Sein Bild sollte schon immer größer werden. Bunter. Imposanter. Lückenlos. Und er war noch lange nicht am Ende. Seine Steinsammlung war enorm. Aber nicht komplett. Noch lange nicht.
Nach diesem Lobgesang auf sich selbst hörte er sich selbst laut durch die Nase ausatmen. Er war so eben eine große Last losgeworden die ihm zuvor das Atmen erschwert hatte. Die Kabine wurde auf spürbare aber wenig beängstigende Weise geschüttelt. Gabriel lehnte sich zurück und lies die Hände in seinen Schoß sinken. Er nahm die Erschütterung wahr, schenkte ihr jedoch keine Beachtung. Er sah auf seine Uhr. 23:36 Uhr.
Die Maschine erlebte weitere kurze Stöße als das Licht innerhalb der Kabine zu flackern begann. Gabriel lies sich nichts anmerken. Zuerst ignorierte er auch den hysterischen Frauenschrei aus dem hinteren Teil des Flugzeuges. Er tat ihn als Überreaktion auf das Flackern ab. Das Licht hielt sich einige Sekunden bevor es erneut zuerst hell aufloderte und dann wieder zu flimmern begann. Den zweiten Aufschrei ignorierte er nicht mehr. „Da! Da war es!.“ hörte er erneut eine weibliche Person rufen. Gabriel horchte auf. Das flackern hielt an. Nun schrie ein Mann: „Was zum Teufel!!!.“ Dann der nächste: „Verdammt nochmal!!.“ Er vernahm lauter werdende Stimmen. Auch andere Passagiere aus seinem Abteil drehten sich neugierig um. Die panisch klingenden Stimmen kamen näher. Sitzreihe um Sitzreihe. Das zitterige Licht loderte nun noch stärker. Gabriel presste seinen Rücken fest in den Sitz. Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Und dann sah er sie. In dieser einen Sekunde in der das Licht erlosch. Sie stand direkt neben ihm im Gang und starrte ihn aus rot glühenden Augen an. Gabriels gesamter Körper schien sich zusammen zu ziehen. Er bekam keine Luft. Er war hellwach. Der Fluchtweg „Traum“ war versperrt. Doch sie war da. Die Gestalt. Das Phantom aus seinem Traum. Es stand nur wenige Zentimeter von ihm entfernt und blickte durch ihn hindurch mitten in ihn hinein. Diese roten Augen.
Licht an. Sie war verschwunden. Gabriel atmete schnell wie eine Maschine. Überall in der Kabine verwirrte und panische Rufe: „Was war das! „Wieso ich? „Habt ihr das gesehen?“ Einige Passagiere hatten sich ab geschnallt und waren aufgestanden. Er hörte das mitleiderregende Weinen einer Frau. Die Turbulenzen wurden stärker. Die Kabinenwand rechts neben Gabriel begann zu rattern und das doppelte Fenster begann zu erzittern. Ein metallisch klingendes Raunen quälte sich durch das Flugzeug. Gabriels Finger gruben sich in das Sitzpolster. Sarah. Er wollte zu Sarah. Und dann, bevor Gabriel die Möglichkeit hatte sich noch einmal Stärke und Furchtlosigkeit einzureden, ging alles ganz schnell.
Ein letztes großes Rumpeln rann durch das gesamte Flugzeug. Gabriel war sich sicher das jeder einzelne Passagier, er eingeschlossen, die Kälte verspürte die sich im Bruchteil dieser einen Sekunde ausbreitete. Dann sank die Maschine ab. Er holte tief Luft und drückte sich mit all seiner Kraft in den Sitz. Ein kurzer Moment verging in dem er auf eine starke Turbulenz hoffte doch der Moment ging vorüber und das Flugzeug schaffte es nicht seinen ursprünglichen Kurs wieder auf zu nehmen. Die Triebwerke heulten auf und übertönten erbarmungslos die blanke Panik die sich wie ein Virus ausbreitete. Gabriel schien sich von innen heraus aufzulösen. Eine Leere breitete sich in seiner Mitte aus und suchte sich seinen Weg bis in seine Fingerspitzen. Über ihm knallte es. Der Druck fiel ab und die Sauerstoffmasken schoss geräuschvoll herunter. Er war gelähmt. Alle Anweisungen und Vorschriften aus der Sicherheitsbroschüre waren nun weit weg. Das wütende aufbäumen der Triebwerke grub sich durch seinen Gehörgang tief in seinen Schädel. Gepäckstücke rollten durch die Gänge und kollidierten mit den Sitzen. Die Menschen schrien verzweifelt um Hilfe doch ihr Flehen und Bitten vermengte sich zu einem einzigen, wirren Getöse und verlor somit jegliche Bedeutung. Gabriels Atem setzte aus. Er schnappte nach Luft doch jeglicher Sauerstoff schien entwichen um der Todesangst den Platz einzuräumen der ihr gebührte. Die Maschine sackte weiter ab und nahm nun eine beinahe senkrechte Haltung ein. Mit beiden Händen ergriff er die Sauerstoffmaske und presste sie sich so feste auf den Mund das es schmerzte. Sein Kopf zuckte von links nach rechts. Die meisten Passagiere hatten es geschafft die Masken auf zu setzen. Wieder andere kreischten und strampelten nur wie kleine Kinder, schlugen weinend um sich und verletzten sich und andere. In der Hoffnung das Geschehen einfach abschütteln zu können, peitschte sein Kopf weiter hin und her. Das Flugzeug schoss wie eine Rakete in die Leere doch für Gabriel drehte es sich. Es drehte sich so schnell für ihn dass sich seine Umgebung verzerrte. Er spürte wie er sich in seine Maske erbrach und ihm die Tränen in die Augen schossen. Er resignierte dass er jede Sekunde tot sein würde. Die Todesschreie der anderen waren in seinen Ohren längst zu einem stechenden, hellen Ton verkommen von dem Gabriel ausging dass dieser ihm in jedem Moment das Trommelfell zerfetzen würde. Reflexartig riss er sich die Maske vom Mund als er spürte dass er daran war sein eigenes Erbrochenes wieder ein zu atmen. Ein pulsierender Schlag ging durch die Kabine. Gabriel wünschte sich sie würde auseinander brechen. Das ganze verdammte Flugzeug sollte auseinander fallen. Hauptsache raus hier. Raus in die Leere. Doch stattdessen wurde sein Kopf nach rechts gegen das Fenster geschleudert. Ein stechender Schmerz überkam ihn und er wusste dass er blutete. Er starrte hinaus. Inzwischen bäumten sich die Triebwerke so geräuschvoll auf, dass er von den anderen Fluggästen keinen Laut mehr wahr nahm. Seine pochende Stirn wurde gegen das Bordfenster gepresst. Er konnte die bebenden Tragflächen sehen die sich unter der steigenden Geschwindigkeit verbogen. Die Positionslichter der Maschine gaben preis dass sie durch eine dichte Wolkendecke rasten. Tränen verwischten seinen klaren Blick und er spürte wie sie über sein Gesicht strömten. Dann fielen die Lichter aus so dass die Kabine nur noch blitzartig von der äußeren Beleuchtung der Maschine erhellt wurde. Gabriels Kopf war kurz davor zu platzen. Seine Gedanken waren zu spitzen Gegenständen geworden die in seinem Kopf hin und her geschleudert wurden. Völlig willkürlich erschienen sie vor seinem inneren Auge nur um gleich darauf wieder hinfort gerissen zu werden. Kein Gedanke, keine Erinnerung blieb lange genug um an ihr festhalten zu können. Große Momente vermischten sich mit Nichtigkeiten. Die Geburt seines Sohnes nahte sich geradezu absurd an unvollständige Arbeiten in seinen Büroschränken. Gabriels Augen begannen zu schmerzen doch er war unfähig sie zu schließen. Sie fühlten sich an wie kleine, hohle Glaskugeln die jeden Moment im Begriff waren zu zerspringen. Sein Kopf schnellte nach rechts. Die Wolken waren nun verschwunden und gaben den Mond preis, der nur aufgegangen zu sein schien um sich bedrohlich im endlosen Meer zu spiegeln. Kein buntes Lichtermeer empfing ihn. Nur unendliches, schwarzes Wasser. Gleich war es soweit. Gabriels Herz schlug nicht, es peitschte und hämmerte sich aus seiner Brust hinauf in seinen Hals. Nun raste das Flugzeug im kompletten, senkrechten Sturzflug nach unten. Das pochen in seiner Halsgegend wurde so kräftig dass sein Rachen brannte wie Feuer. Seine Brust dagegen war nun endgültig leer.
Sanft legte sich die Stimme seiner Großmutter über das tosende Gebrüll der herabstürzenden Maschine: „Verstehst du was dort geschehen ist?!“ Gabriel biss die Zähne so feste zusammen dass sie jeden Moment herausbrechen konnten. „Verstehst du was gerade geschieht mein Kind?“ Das Wasser kam näher. Gleich war es vorbei. Gleich war alles überstanden. In weniger als 5 Sekunden waren sie alle erlöst. Gabriels gesamter Körper spannte sich an. 3 Sekunden, höchstens. Seine Muskeln verkrampften sich und wurden hart wie Stein. Sein eigenes Gewicht drohte seine Knochen zum bersten zu bringen. 2 Sekunden. In einem letzten Anflug von Hoffnung ballten sich die Schreie der Passagiere zu einem einzigen Chor zusammen. Das Wasser. Da war es. der Mond spiegelte sich darin. 1 Sekunde. Endlich konnte Gabriel die Augen schließen. Es war soweit. Jetzt.
Kein Schlag. Kein kaltes Nass. Kein verstummen der Schreie. Es hätte längst passieren müssen doch es passierte nicht. Keuchend riss er die Augen auf. Gabriel wollte sehen. Die Kabine präsentierte sich nun in kompletter Dunkelheit. Und sie stürzten weiter. Sie hätten längst auf der Wasseroberfläche zerschellen müssen. Stattdessen schienen sie direkt hindurch geflogen zu sein. Und nun schrie auch er. Von draußen her blitzten keine Positionslichter mehr. Ein letztes mal nahm das Flugzeug an Geschwindigkeit zu. Ein unvorstellbarer Sog erfasste die Maschine und riss sie in die nicht enden wollende Tiefe. Dass Rufen und Flehen wurde leiser und wich der Verwirrung. Aus den Augenwinkeln heraus sah Gabriel durch das Kabinenfenster ein heller werdendes Licht auf das sie zurasten. Er verspürte Hitze.
„Nein....“ kam es erstickt und jämmerlich aus seiner schmerzenden Kehle hervor. Dann zerbarst die Kabine in tausend Teile und das letzte was Gabriel noch wahr nahm, war grenzenloses Feuer und das Wehklagen von Milliarden.