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Soap
Soap
Gerald kennenzulernen stellte eine echt Herausforderung dar. Er zeigte nach und nach immer mehr Facetten seiner Persönlichkeit und Tim fühlte sich beinahe außerstande, den Rest der Gruppe mit ihm in Einklang zu bringen.
Hätte er ihn bloß nicht dazugeholt. Das hatte den täglichen Gang zur Arbeit zu einem Spießrutenlauf gemacht. Beinahe fühlte er sich von der ganzen Gruppe verfolgt.
Sue Ellen lächelte verführerisch aus dem Cabrio an der Ampel. Nur, um einen Moment später mit stechendem Blick in ihn einzudringen. Tinkas Blicke dagegen zeigten unverhohlene Wut. Sie stand hinter ihrem Tresen und starrte ihn über die Gäste hinweg solange an, bis er die halbe Tasse Kaffee stehen ließ, und beinahe im Laufschritt auf die Straße floh.
Elisabeth reagierte auf die Situation mit der gleichen unaussprechlichen Überheblichkeit, mit der sie alle Angriffe parierte, und die er an ihr so sehr hasste. Immer schon gehasst hatte.
Eigentlich wusste er mehr als genau, dass sie alle nicht da waren. Nicht da, wo er sie sah. Nicht im Auto, Café oder sonst wo. Aber dennoch verfolgten sie ihn.
Dann und wann lehnte Gerald lasziv an einer Häuserwand, mit diesem überlegenen Lächeln, das bei Tim immer den Eindruck hinterließ, als wisse Gerald mehr, als er selbst. Ein unangenehmer Eindruck, als säße er in einer Falle, die längst zugeschnappt war, ohne dass er es gemerkt hatte.
Wenn die Frauen der Gruppe ihn mit Blicken straften, fühlte er sich unwohl. Aber sie waren nicht die einzigen. Auch die Männer schienen Geralds Ankunft nicht gutzuheißen. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Arthur hatte mit ein paar Jungs gesprochen, soviel war sicher. Denn immer wieder sah sich Tim einem von ihnen gegenüber. An der Bushaltestelle, vor einem Geschäft, im Gedränge der Fußgängerzone. Er kannte keinen der Jungs, aber ein Blick in ihre Gesichter verriet ihm alles.
Samuel hatte weit weniger subtile Methoden. Er hatte gestern nacht auf dem Bürgersteig gesessen. Genau gegenüber. Jedes Mal, wenn Tim aus dem Schlafzimmerfenster gesehen hatte, hatte Sam dort gesessen, und heraufgesehen. Die Beklemmung hatte ihn die Nacht über ruhelos umherlaufen lassen, hatte ein Zittern in seiner Hand hervorgerufen, dass ebenso verhinderte, zu schlafen, wie zu schreiben, auch wenn er alles tat, um es zu leugnen.
Morgens, kurz nach Tagesanbruch, war Sam weggewesen. Einfach eine blanke Stelle Bordstein hinterlassen. Und das Zittern in der rechten Hand.
Nein. Natürlich nicht. Keiner von ihnen war da. Nicht so jedenfalls. Nicht einmal Domenico. Bei dem Gedanken daran, dass Domenico immer noch die 38er besaß, drehte sich Tim ein Teil seines Magens um. In den Lauf dieser Waffe zu sehen, in den Händen dieses Irren... Ebenso gut konnte er gleich vor einen Schnellzug springen. Das leere Gefühl in der Magengegend fraß sich noch eine Spur tiefer in ihn hinein, wen er sich eingestand, woher Domenico diese Waffe hatte. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass er sie bekam.
Jetzt wollte er sich dafür ohrfeigen. Den Reiz erhöhen. Wunderbar, ja, ja. Natürlich war die Rechnung aufgegangen. Hätte er ihm dann die Waffe wieder wegnehmen sollen? Den Kampf hätte er schnell verloren.
So wie Richard. Derselbe Blick in diesen Lauf. Die Augen fixiert auf den kleinen Kreis, der in die unendlich schwarze Tiefe lief. Aus dessen Mitte die Kugel hervorgeschossen kam, die sich Richard zwischen die Augen bohrte.
Tim schüttelte sich so heftig, um diese Blicke aus seinem Kopf zu schleudern, dass ihm der Kaffee über die Hand floss. Er hatte ihn gar nicht wahrgenommen, bevor er sich damit die Haut verbrannte.
Was er bereute? Eine Menge derzeit. Gerald. In jeder Hinsicht. Schon, dass er ihn zur Gruppe gebracht hatte, wie gesagt. Aber genauso, dass er nicht die Macht hatte, ihn in seine Schranken zu weisen. Gerald war stärker als er selbst. Soviel musste er sich mittlerweile eingestehen. Vor allem aber hatte er sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen. Die ganze Gruppe. In jedem von ihnen kamen dabei die Eigenschaften hervor, die er lieber nicht durchbrechen lassen wollte. Es erhöhte den Reiz, sicherlich. Und Bettina wäre sicherlich nicht unzufrieden, wenn die neuen Quoten kommen. Aber Tims Leben konnte damit nicht Schritt halten. Er würde daran zerbrechen. Früher oder später.
Nein, keiner der Männer würde ihm etwas antun. Nicht wirklich. Aber das, was sie mit ihm taten, reichte längst aus um seine Nerven zu zerreiben, und ihm den Schlaf zu rauben. Von Domenico ganz zu schweigen.
Bettina steckte den Kopf zur Tür herein und zwinkerte ihm zu. "Na, mal wieder das Mittagessen verpasst?" Einen Blick auf die Uhr vermied er. "Nö, hatte ein Sandwich", grummelte er. In Wahrheit hatte er sich schlicht nicht getraut, das Zimmer zu verlassen. Hier drin hatte er ein gewisses Maß an Kontrolle über die Gruppe. Hier drin war es seine Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Aber genau hinter dieser Tür endete auch der letzte Einfluss. Von da an begannen sie sich in alle Richtungen auseinanderzuentwickeln. Wuchsen ihm über den Kopf.
Mit Bettina sprechen? Nein, nie im Leben. Sie war die Herrin der Programmentscheidungen. Wenn sie anordnete, dass verschoben wurde, dann landete die Gruppe in irgendeiner Ecke, in der sie verkümmern würde.
Oder, noch schlimmer, sie könnte ihm das hier wegnehmen. Einem anderen geben. Auf gar keinen Fall durfte das passieren. Auch, wenn es zur Zeit schwierig war, ohne sie konnte er nicht leben. Auf Sue Ellens Lächeln zu verzichten, wenn er ihr ein Geschenk machte, Tinkas Schmollmund, einfach so. Tim schüttelte energisch den Kopf. Bitte nicht.
Gerade als er sich ernsthaft überlegte, wegen Domenico die Polizei einzuschalten, steckte Bettina noch einmal den Kopf herein: "Du denkst schon an da Meeting, ja?" Oh Gott, das Meeting. Angesetzt auf zwei Uhr. Jetzt schon fünf vor. Tim sprang auf und hastete zur Tür. schon fast draußen drehte er sich nocheinmal um. Keiner von ihnen hielt ihn zurück. Vielleicht konnte er ihnen ein paar Minuten entkommen. Vom Regen in die Traufe.
Der Konferenztisch war, wie üblich, übersät mit Memos, Papern, Briefings, Statistiken und Kaffeetassen. Der Geräuschpegel ähnelte mehr dem eines Schulhofes und was die Intrigen betraf, die unter der glatten "Wir sind doch eine Familie" – Oberfläche brodelten, erreichte die Szenerie wieder einmal Ausmaße, bei denen er sich aufs Protokollieren beschränken könnte, um jede Quote einzuspielen. Nicht mehr und nicht weniger, als "Ambrosia" und die Gruppe.
Bettina hatte sie mittlerweile auf die Plätze beordert, so halbwegs, und für eine Art von Ruhe gesorgt, in der man jetzt die Anspannung des Einzelnen fühlen konnte.
Vor ihr lag die Quote. Der Heilige Gral, der Schierlingsbecher, was auch immer. Hop oder Top.
Ambrosia stand sicher gut da. Er würde es wohl heil überstehen. Würde den Sendeplatz behalten.
"city lovers" bekam gerade den gefürchteten Dolchstoß. Von täglich elf Uhr jetzt auf sieben Uhr dreißig. Aber Hausfrauen im Frühstücksfernsehn sind rar. Die Quote ist damit endgültig zum Teufel.
Michael, master of city lovers – ein Titel Marke Eigenlob – schluckte schwer, überlegte wohl nebenbei, wie voreilig er im Januar das andere Angebot ausgeschlagen hatte, und stand schließlich auf, um hinten am Buffettisch den perfekten Donut auszuwählen. Zehn Minuten lang.
Ein neues Konzept für "Media News". Ach ja, Umfrageergebnisse, Paul ist raus, "Wake up" macht jetzt Clarissa.
Drei talks werden untereinander getauscht. Heißere Gäste heißt das Konzept für alle. Specials. "Perversion", Bettinas Gesichtsausdruck sprach Bände, "Schlüssel zur Quote." Wohl auch zu ihrer. "Identifikation ist out. Schockt sie!" Nadine stieß Tim an. Deutete mit dem Kugelschreiber auf die kleinen Galgenmännchen, mit denen sie das Memo dazu verziert hatte. Sie alle trugen die gleiche Designerbrille. Die gleiche wie Bettina. Sie wirkten äußerst stranguliert, nebenbei.
Tim ließ seine Gedanken schweifen. Galgen, Tod, Mord, Waffen. Schlagartig stand Domenico vor ihm. Den Lauf zwischen seine Augen gerichtet. Der kalte Schweiß sickerte durch sein Hemd in die Stuhllehne hinein.
Er verlor sich tiefer in seinen Grübeleien. Diese Waffe musste weg. Endgültig. Er musste Domenico diese 38er wegnehmen. Ohne dabei draufzugehen. Und als nächstes musste Gerald verschwinden. Letzte Woche hatte er schon auf Umwegen versucht, ihn rauszuschreiben. Ziemlich erfolglos selbstverständlich.
Cybill drehte ihren Kopf, sah ihn an, mit leicht gesenktem Blick über die Schulter. Sich in diesen Augen verlieren, die weichen, rehbraunen Haare zwischen seinen Fingern. Tim seufzte.
Nadine stieß ihn an. Ein paar Blicke auf ihn gerichtet. Hatte er laut geseufzt? Unruhig flogen seine Augen durch den Raum. Auf der Suche nach Domenico. Natürlich nicht. Nicht hier. Wie sollte er auch. Er wich Nadines Blick aus.
Ambrosia. Vielleicht war auch das der Grund für den Stups von Nadine. Für die Blicke. Bettina war bei Ambrosia angekommen. Bei seiner Quote. "Bombig", na, wunderbar, "aber noch nicht so gut, wie es sein könnte", aber hallo! "Tim, die Idee mit Gerald war vorläufig ganz gut. Der packt so zur Zeit. Aber nicht auf Dauer, das ist Dir klar, oder?" Er sieht zu ihr herüber. Eine erstaunlich wohlwollende Bemerkung, aus Bettinas Richtung eine Seltenheit.
"Klar, verstehe", er hatte sich auf einen Kampf mit ihr eingestellt, wenn er Gerald rausnehmen würde, aber jetzt schlug sie es ihm selbst vor. Wunder im Meeting! "Mach Dir keine Sorgen, noch diese Woche schreibe ich ihn wieder raus." Zufrieden lehnte er sich in dem Moment zurück, in dem Bettina aufschreckte. "Nein!", sie sah geradezu entsetzt aus. "Wir brauchen ihn. Er muss aber noch mehr Aktion bringen. So auf die Dauer. Er muss irgendwas Spektakuläres tun. Verbrechen, Sex, Intrigen? Das ist eine Soap! Und Du bist der Autor, mach was draus!"
Damit schwenkte sie zur nächsten Quote und dem dazugehörigen Opfer und Tim setzte sich mit Geralds feistem Grinsen auseinander, das in die Tischplatte eingebrannt zu sein schien. Mit dem Ärmel wischte er es weg. Zwei Mal, nocheinmal, drei weitere Male, jetzt schneller. Mit beiden Armen. Nadines Blicke waren nicht mehr die einzigen. Irgendwann gelang es ihm, eine Mappe mit Briefings über die Stelle zu schieben, sodass Gerald nicht mehr zu sehen war. Nicht mehr so richtig.
Als sie den Konferenzsaal verließen, gab es wiedereinmal mehr Opfer, als Sieger. Man tuschelte, redete, fluchte, wand sich durch die Niederlage. Nur mit Tim sprach niemand. Man schob sich an ihm vorbei, ließ ihn stehen, bedachte ihn mit belustigten Blicken, und mit ungläubigen. Seine Wischaktion würde wohl so schnell niemand vergessen. Mit gesenktem Kopf drückte er sich durch die Rückseite der Menge und in sein Büro.
Verbrechen, Sex, Intrigen. Gerald würde es wörtlich nehmen. Das durfte er nicht erfahren. Krampfhaft versuchte Tim, nicht an die Anweisung zu denken. Gerald schien seit Tagen die Dinge zu tun, vor denen er die meiste Angst hatte. Deshalb beschloss er, nicht mehr gleichzeitig an Gerald zu denken, und an Dinge, die ihm Angst machten. Denk nicht an rosa Elefanten!
"Rosa Elefanten?", Gerald tippte sich an die Stirn. Er musste raus. Dieses unangenehme Gefühl im Magen würde sonst nicht vergehen. Das Zittern in seiner Hand hatte zugenommen. Er konnte nicht mehr umhin, es sich einzugestehen. Ambrosia. Er musste die Probleme lösen. Ein für alle Mal. Sonst würde es ihm den Verstand rauben.
Gerald stand mitten auf der Kreuzung, ein paar Minuten vor Mitternacht. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er nervös war. Irgendetwas hatte ihn hierhergetrieben.
Es mochte Sue Ellens Brief gewesen sein. Sie hatte einen Boten mit einer dieser parfümierten Karten geschickt, mit denen sie zu Dinner-Partys einlud. Nein, er stand nicht auf diesen Müll. Aber immerhin: Es war Sue Ellen.
Sie war beeindruckend, wenn auch oberflächlich. Seine Charaktertiefe wäre ihr nie zugestanden worden. Sie diente der Unterhaltung. Vor allem aber war sie Arthurs Frau. Und schon deswegen war sie eine Trophäe, die es zu erobern galt.
Er hatte die Saat gestreut. Hatte sich geheimnisvoll, fremd, grob, aber gentlemanlike gegeben. Und sie hatte angebissen. Daher wohl die Karte.
Sicherlich hätte er auf dem Bürgersteig auf sie warten können. Aber auch mitten auf der Straße zu stehen, gehörte zu den Dingen, die er eben tat. Herausfordernd schweifte sein Blick über die Straßen, die auf ihn zuliefen. Vereinzelten Wagen parkten am Straßenrand, eine Katze warf eine Flasche um, die sekundenlang über das Pflaster rollte. Der Schuss kam unvermittelt und geräuschlos. Während das Blut aus seiner Brust sprühte, weiteten sich seine Augen. Dann sank er zusammen.
Domenico startete den Wagen und fuhr davon. Ohne Licht. Jetzt sollte er die Waffe in den Fluss werfen. Sicherlich. Das wäre vernünftig. Es gab nicht allzu viele 38er in der Stadt und lange würde es nicht dauern, bis man darauf kam, dass er die Finger im Spiel hatte. Sich von Gerald die Show stehlen zu lassen, war für ihn undenkbar gewesen. Ein dahergelaufener Neuling durfte ihm ebensowenig die Show stehlen wie jeder andere. Manche Dinge gebührten ihm allein.
Er hielt auf der Brücke und stieg aus. Mit der Waffe, die auf seiner flachen Hand lag, stand er eine volle Minute am Geländer. Dann steckte er den Revolver in den Gürtel und wendete den Wagen. Er musste zurück in die Stadt. Ein paar Dinge gab es noch zu erledigen. So wäre es eine halbe Sache. Vor Arthurs Haus hielt er an. Schon vor der Tür auf der Außentreppe stand einer der Jungs. Lautlos sackte er zusammen, als die Kugel in seinen Hinterkopf eindrang.
Von einem Querschläger wurde Tim an der Schulter getroffen. Er sank auf die Schreibtischplatte und presste eine Hand auf seinen
Oberarm. Wenn er sich nicht bewegte, an nichts dachte, würde alles vergehen. Dann würde nichts von allem geschehen. Konnte nichts geschehen. 'Ich bin der Autor. Ich bin der Autor. Es ist in meiner Hand.' Seine Worte sickerten in das Papier.
[ 16.06.2002, 17:11: Beitrag editiert von: arc en ciel ]