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So viel Schuld
Wie oft hatten wir genauso hier gelegen und den Sternen beim Atmen zugesehen? Du nanntest es immer so, weil nach jedem deiner Atemzüge, nach jedem blinzelnden Augenschlag ein Stern dazugekommen war.
Immer warst du eingeschlafen, bevor der sattschwarze Himmel von Sternen übersät war.
Dann hörte ich dein Atmen, und es legte sich schwer über mich wie ein Tuch, das nicht einmal vom unerbittlichen Grillenzirpen durchdrungen wurde.
Wie lange lauschte ich deinen flachen Atemzügen?
Ich weiß noch, wie die Angst in mir zitterte. Diese Angst, die mich nicht schlafen ließ, obwohl das taufeuchte Gras unter meinem Kopf weich und alles um mich herum so dunkel war, dass die Welt nur noch aus Umrissen bestand.
Wenn meine Gedanken nicht gewesen wären, hätte mein Herz mich wach gehalten. Unaufhörlich laut klopfte es in meinen Ohren und fast war es, als käme dieses Pochen direkt aus der Erde unter mir, irgendwo aus der Tiefe.
Meine Finger schlossen sich wie von selbst um deinen Arm und ich zuckte zusammen, als ich deine Kälte spürte. Erneut staute sich das Salz in meiner Kehle.
Alles zieht sich in mir zusammen, wenn ich daran denke, was sie mit dir gemacht haben. Als sie dich festhielten und beruhigend auf dich einredeten, haben die Tränen in deinen Augen mich an meine Schuld erinnert. Warum habe ich das getan?
Die Schwestern, die Ärzte, alle wollten sie dich beruhigen, doch ihre Stimmen waren so laut, dass sie es niemals vermocht hätten.
Ich hatte sie angeschrien, der Zorn ließ mir kaum Luft für die Tränen, die mir den Hals verstopften.
Jemand gab mir ein Glas Wasser und ich habe nur zusehen können durch ein Fenster. Da war nur ein absurdes Stück Glas, das mich von dir trennte.
Doch vorhin habe ich bei dir sein wollen. Die Ärzte erlaubten mir, deinen Kopf zu halten. Er war fast noch so klein wie in der Nacht, als ich zum ersten Mal deine weiche Haut berührte. Nur der Flaum braunen Haares, den ich nachts manchmal berührt hatte, nur um mich zu vergewissern, dass du noch in deinem Bettchen lagst, war nicht mehr da.
Dein Zittern übertrug sich auf mich, plötzlich schien mein Herz in genau diesem Rhythmus zu klopfen … Tränen sickerten aus deinen Augenwinkeln und fingen sich in meinen Händen. Ein Schauder durchfuhr jede noch so kleine Einheit meines Körpers.
Wie musstest du dich fühlen? Wie ein Kind, das unerbittlich nach seiner Mutter schreit und dann verstummt, weil es keine Geborgenheit in ihren Armen findet? Keine sanfte Stimme, die dich in deine Träume singt, keine Hand, die dir über die Stirn streicht, bevor deine Augen eins werden mit der Dunkelheit? Niemanden mehr, für den dein zufriedenes Glucksen das größte Glück der Welt bedeutet?
Keine Liebe …
Selten beschriebst du mit Worten, wie es dir ging. Die Schmerzen, vor denen dich nicht einmal der Schlaf rettete und die Angst, die du so direkt ansprachst, dass ich jedes Mal meine ganze Kraft darauf konzentrierte, dir Sicherheit zu geben.
„Du wirst nicht sterben.“
Es war ein Fehler, dass so viele Menschen glaubten, man könne Kinder täuschen. Auf einer anderen Station war ich einmal Eltern begegnet, die sich fieberhaft darüber unterhielten, ob sie ihrem Kind die Wahrheit sagen sollten.
Für mich hatte das nie in Frage gestanden. Stets sagte ich dir das Gleiche.
„Du musst tapfer sein und kämpfen.“
Dann hast du mir immer stolz deinen Playmobilritter entgegengehalten und warst für einen Moment wieder der kleine Junge, der sich nun mit jedem Tag, den ich bei ihm verbrachte, mehr von mir entfernte.
„Papa? So tapfer wie der hier?“
„Ich glaube, sogar noch mehr.“
Daraufhin hast du dich in deinem Bett zurückgelehnt und mich ungläubig angesehen.
Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Dabei hörte ich bei jedem Gespräch mit dem Arzt deine tatsächliche Überlebenschance.
Wenn deine Mutter und ich uns dann anschauten und jeweils die Furcht in den Augen des anderen lasen, fühlten wir uns manchmal wieder so nah wie vor unserer Trennung. Da war nur eine unsichtbare Barriere, die mich davon abhielt, Marinas Hand zu halten.
Die sachliche Stimme deines Arztes verwandelte meine Angst in Wut. Es sei trotz allem nicht klug, die Chemo abzusetzen … unser Junge sei stark und würde es vielleicht schaffen.
„Was ist, wenn er es nicht schafft?“
Oft lag die Frage schon stundenlang vorher trocken und unaussprechlich in meinem Mund.
Marinas Gesichtsausdruck wurde jedes Mal panisch und ich hatte den Eindruck, dass sie ihre Augen schloss, um sich zu beruhigen.
„Er ist – unser Junge …“
Auf einmal waren alle Gedanken aus meinem Kopf verschwunden. Hitze und Kälte fuhr mir durch die Glieder, als müssten sie mich auf irgendeine Weise für meine Frage strafen.
„Es ist …“
Nach diesem Versuch verstummte Marina oft und verließ überstürzt das Zimmer.
Es ist so egoistisch, sagte mir mein Gewissen dann unentwegt; ich konnte tun, was ich wollte, die ganze Zeit umfingen mich diese vier Worte.
War es das gewesen? Egoistisch?
Hätten wir dich nicht aufgegeben, wenn wir die Therapie abgesetzt hätten? Hatte es nicht noch die leiseste Chance gegeben, dass die Metastasen in deinem Körper bei der nächsten Untersuchung zurückgegangen wären?
Für dich mag es unsinnig klingen. Natürlich hast nur du wissen können, ob du die Krankheit besiegst. Doch deine Mutter und ich wollten dich nicht aufgeben.
Du verbindest uns bis zu diesem Augenblick, denn es hatte nie etwas Schöneres für uns gegeben als dich in Händen zu halten. Dein Lachen hatte sich auf immer und ewig in uns eingeprägt, so sehr, dass wir es nicht ertragen konnten, dich weinen zu sehen.
Du weintest noch immer stumm. Ich konnte es nicht verhindern, indem ich deinen Kopf streichelte und mich hinunterbeugte, um ihn zu küssen. Für diese Sekunden, in denen meine Lippen deine Haut berührten, waren alle anderen Eindrücke ausgeblendet. Du warst wieder mein kleiner Junge, dem ich auf das Knie küsste, nachdem ich unsanft ein Pflaster abgezogen hatte.
Als ich meinen Kopf wieder hob, schlug mir wiederum die Realität mit ihrer Faust ins Gesicht.
Beim Anblick der Kanülen zog sich mein Magen zusammen und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
In Gedanken sah ich deinen kleinen Körper vor mir, wie er sich durch den Würgereiz zusammenzog, bis das Gift durch die Speiseröhre deinen Mund erreichte und du dich spuckend vor der Toilette hinknietest. In den letzten Monaten hatte ich dich in diesen Momenten immer an den Schultern festgehalten, als würdest du mich verlassen, wenn ich es nicht tat.
Ich konnte nichts anderes tun als dich zu trösten, meine Tränen und meine zitternde Stimme vor dir zu verstecken. Unzählige Abende habe ich versucht, dir die Angst vorm Schlafen zu nehmen. Seitdem du hier warst, konnte ich sie nicht einmal mehr mit deinen Lieblingsgeschichten bändigen.
Und doch habe ich versucht, etwas Normalität in dieses Chaos zu bringen, habe Sachen von zu Hause geholt, die du noch von deinem früheren Leben kanntest.
Wenn ich dich zum Abschied umarmte, hast du manchmal schmerzvoll die Augen zusammengekniffen, weil deine dünnen Ärmchen von blauen Flecken übersät waren.
So viele Spritzen, so viel Gift, das dich durchströmt hatte.
Es war nicht mehr die Haut eines Kindes, die sich über deinen abgemagerten Körper spannte und so blass war, dass die Sommersprossen in deinem Gesicht wie Feuerblumen aufblühten.
Obwohl die Abschiede nie von großer Dauer waren, zitterten meine Hände jedes Mal am Lenkrad, wenn ich nach Hause fuhr. Mit dem Gang in dein Zimmer empfing mich die Vergangenheit wieder, dein altes beschütztes Leben.
Ich versuchte, mich an dein erstes Kinderzimmer zu erinnern. Ich hatte es zusammen mit Marina eingerichtet, voller Erwartung auf das Kommende.
Vor deiner Geburt hatten wir die Spielsachen gekauft, die Wände gestrichen, das Bettchen aufgebaut …
Ich weiß noch, wie ich es nach unzähligen Flüchen erleichtert ans Fenster gestellt hatte.
Alles kam mir so verdammt unwirklich vor. Ich Narr vergaß manchmal fast, dass es dieses Leben irgendwann einmal gegeben hatte.
Meine Zeitrechnung belief sich nur noch auf wenige Tage vor deiner Überweisung ins Krankenhaus und die Monate, die seitdem mit atemberaubender Geschwindigkeit an uns vorbeigezogen waren.
Nun liege ich hier, im Feld vor unserem Haus, atme den Geruch des letzten Regens ein und verscheuche die Grashüpfer und Marienkäfer, die sich auf mir niederlassen. Mohnblumen, kleine schwarze Flecken nur, die vor der nächtlichen Dunkelheit Kontur annehmen … Sie erinnern mich unwillkürlich an die Bluttropfen auf deinem Kopfkissen. Ich weiß noch, wie panische Angst in mir aufgestiegen war, als ich eines Morgens dein blutverschmiertes Gesicht und die schorfigen Ränder an deiner Nase erblickte.
Die Ärzte hatten mich mit allen Nebenwirkungen der Chemo vertraut gemacht. Aber wenn ich doch gewusst hatte, was diese Therapie anrichtete, warum habe ich mich dennoch für sie entschieden?
Die Zeit auf der grünen Station war die schlimmste. Ich konnte nicht mehr neben dir liegen und deine kleinen Hände mit meinen umschließen.
Anfangs weigerte ich mich, Kittel und Mundschutz zu tragen.
Als ich dann schließlich doch so dein Zimmer betrat, sah ich deine Augen kurz schreckerfüllt aufblitzen. Doch dann hörtest du meine Stimme und hieltest mich nicht mehr für einen der Menschen, die dich Tag für Tag quälten.
Du befandest dich in einem Gefängnis und hattest es mit der Zeit aufgegeben, zu weinen, wenn der Tropf neben deinem Bett aufgestellt wurde und die Nadel in deine Vene stach.
Hieltest du mich doch für den Missetäter, für den Verursacher aller Qualen, der ich doch war? Ich hatte dich hierher gebracht, hatte diesen sinnlosen Spruch der Ärzte und Schwestern sogar manchmal vor dir wiederholt.
„Es ist gleich vorbei. Wenn du durchhältst, wirst du wieder gesund.“
Du hattest keine Chance gegen die Krankheit, die dich willkürlich und grausam von dieser Welt nahm.
Deine Tapferkeit ist in den Sternen festgeschrieben, denn immer, wenn ich nachts in den Himmel blicke, scheint der Schmerz weniger zermürbend, obwohl die Tränen wie Rinnsale über meine Wangen laufen.
Vielleicht hörst du die Sterne dort oben besser atmen.