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So tief in den Wänden
Es macht mich nicht glücklich, in der allerobersten Etage zu wohnen. Wegen den Ameisen macht es mich nicht glücklich.
Ich habe gehört, sie dringen in die Wände ein. Mit ihren ungemein kräftigen Kiefer arbeiten sie sich voran, sie fressen sich einfach durch den Stein. Als wäre es Papier.
Sie bauen winzige Tunnels, es müssen hunderte sein, ganze Tunnelsysteme entstehen auf diese Weise. Wenn man das Ohr an die Wand legt, müsste man sie hören können. Nachts, wenn alles schläft und es im Haus ganz, ganz still ist, dann müsste man es wirklich hören, ein leises Scharren, ein unmerkliches Bröckeln tief in den Wänden.
Das ganze Fundament höhlen sie aus auf ihren Irrwegen. Und irgendwann kracht alles zusammen. Schrecklich, die Vorstellung.
Um mich abzulenken, habe ich mir den Vogel angeschafft. Es ist so ein kleiner bunter Wellensittich. Ich nenne ihn kleiner bunter Wellensittich. Das ist eine Abmachung zwischen uns beiden, dem Vogel und mir. Solange er nicht sprechen lernt, kriegt er auch keinen Namen. Bisher hatte ich nicht das Gefühl, dass er besonders viel auf unsere Abmachungen gibt, er hat noch kein Wort gesagt. Vielleicht schämt er sich mir gegenüber, vielleicht sprudelt er los, sobald ich die Wohnung verlasse.
Und wenn schon, darum geht es mir ja gar nicht. Ich muss schon sagen, ich bin etwas enttäuscht. Sein Schweigen irritiert mich. Wenn er wenigstens ab und zu einen Piepser von sich geben würde. Aber nein. Nichts. Seit vorgestern boykottiert er zu allem Übel auch noch sein Körnerfutter. Ich dachte, vielleicht liegt es an dem Käfig, vielleicht will er mal ein bisschen rumfliegen. Also öffnete ich heute morgen die Käfigtür und ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Als ich, die Tasse lässig in der Hand haltend, aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, war der Vogel fort. Um ein Haar hätte ich den Kaffee verschüttet. Ich suchte unter dem Sofa und überall, aber der Vogel war nicht aufzufinden. Das Fenster war auf Kippstellung, nicht einmal mein Arm passt in die Lücke. Und meine Arme sind alles andere als dick, eher dünn wie Stöckchen; solche, denen, wenn man sie wegwirft, die Hunde hinterherspringen.
Es war einfach nicht zu fassen.
In Momenten der Verzweiflung gehe ich gewöhnlich raus auf den Balkon und bügle Hemden. Die Bügelbewegung hat etwas Beruhigendes: vor und zurück, zurück und vor, immer dasselbe, man weiß genau, was als nächstes kommt. Das Bügelbrett ist schmal, so schmal, dass darauf kein Platz ist für Streit und Gewalt. Vom Balkon geht der Blick auf andere Balkone, die wie blumenlose Blumenkästen an der schäbigen Rückwand des gegenüberliegenden Hauses hängen.
Zwischen den beiden Häusern fließt der Fluss, ganz, ganz tief unten. Vom Balkon aus kann man an manchen Tagen nicht erkennen, wohin das Wasser fließt. Nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich überhaupt bewegt.
Der Fluss ist wie ein gewaltiger Schnitt in die Haut der Stadt. Bei dem Rot darin handelt es sich jedoch keineswegs um das Blut der Stadt, es ist Farbstoff aus der Chemiefabrik, die gleich hier um die Ecke ist. Das Wasser ist nicht immer rot, rot ist nur Dienstag und Donnerstag, Montag ist grün und Mittwoch gelb. Am Wochenende hat die Fabrik geschlossen.
Weiter oben am Fluss ist der, der den Schnitt gemacht hat, mit dem Messer ausgerutscht. Dort macht das Flussbett eine Biegung. Dass sich die Biegung genau an dieser Stelle befindet, ist ärgerlich. Wenn die Biegung nicht wäre, könnte ich wie durch ein Guckrohr hinaus aus der Stadt sehen, bis hinter, wo die Berge sind. Es heißt, die Berge seien lila. Ich kann das nicht beurteilen, ich hab ja die Flussbiegung vor Augen, das ist mein Horizont, weiter sehe ich beim besten Willen nicht. Und extra hinfahren zu den Bergen will ich auch nicht. Wer weiß, vielleicht sind sie gar nicht lila, vielleicht sind sie gar nichts Besonderes und die Leute erzählen Mist.
Wenn ich so beim Bügeln bin und hin und wieder den Kopf über das Balkongeländer strecke, habe ich die Möglichkeit, allerlei seltsame Vorgänge zu beobachten. Gegenüber wohnen arme Leute. Sie müssen in der Tat sehr arm sein, so arm, dass sie keine eigene Waschmaschine haben. Sie gehen runter an den Fluss, um sich und ihre Sachen zu waschen. Schon morgens in aller Herrgottsfrühe schälen sie sich aus der Dämmerung und tappen über die Straße, bewaffnet mit Seife und Handtüchern, und dann stapfen sie durch das hohe Gras der Böschung runter ans Wasser, ein richtiger Trampelpfad ist das inzwischen geworden.
Manchmal glitschen sie aus und fallen hin, wegen dem Flussnebel und weil das Gras so früh am Morgen noch feucht vom Morgentau ist. Ich werde dann wach durch ihr Gekreische. Man hört es bis hier oben. Das Waschen von Kleidern ist nicht ganz leicht, man muss auf die Farbe der Kleider achten. Das Wasser ist schließlich voll mit den Farbstoffen aus der Chemiefabrik.
Also kann man Montags nur die grüne Wäsche waschen, Dienstags und Donnerstags die rote und Mittwochs die gelbe. Mit den weißen Sachen muss man bis zum Wochenende warten, aber arme Leute haben meist sowieso nicht soviel weiße Wäsche.
Dann gibt es da noch die komische Frau. Jeden Abend, wenn die Sonne hinter den lila Bergen versinkt, was ich wegen der Flussbiegung nicht sehe, schlüpft sie aus der Haustür, huscht wie ein scheues Nagetier über die Straße und geht runter zum Fluss. Sie kniet sich am Ufer hin und steckt irgendwas ins Wasser, einen Stock oder ein Brett, ich kann es nicht genau erkennen. Dann macht sie eine Markierung, bis wohin das Wasser am Holz reicht. Das ganze wiederholt sie noch zwei bis drei Mal an verschiedenen Stellen flussaufwärts. Anschließend verschwindet sie wieder im Haus, genauso still und heimlichtuerisch, wie sie gekommen ist.
Unsere Wohnungen liegen auf gleicher Höhe, sie wohnt da drüben auch in der obersten Etage. Das weiß ich, weil sie ihre Kleider zum Trocknen auf den Balkon raushängt, die Kleider sind lang und aus grellbunten Stoffen gemacht. Die armen Leute tragen sowas nicht, da bin ich mir ganz sicher. Sowas tragen nur verzweifelte oder komische Frauen.
Ehrlich gesagt, mache ich mir ein wenig Sorgen um den kleinen Piepmatz. Nicht, weil ich ihn sonderlich vermissen würde. Es ist mehr wegen den zwanzig Euro, die ich für ihn in der Zoohandlung hingeblättert habe. Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass meine zwanzig Euro einfach davongeflogen sein sollen, so mir nichts dir nichts.
Ganz so schlecht, wie ich ihn mache, war er ja nun auch wieder nicht, wenigstens hat er mich abgelenkt von der Ameisengeschichte. Jetzt bin ich wieder allein. Früher waren da noch die Enten. Aber seit einiger Zeit sind sie verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wo sie hin sind, ich weiß nicht viel über Enten und was sie so treiben. Vielleicht hat sie jemand überfahren, oder sie sind an dem vielen Giftzeug im Wasser zugrunde gegangen. Vielleicht sind sie auch bloß ausgewandert und hocken jetzt als rundum zufriedene Enten in einem glitzernden Gebirgsbach am Hang der lila Berge.
Das klingt leider zu kitschig, um wahr zu sein.
Als ich das Knattern eines Motors höre, halte ich inne und luge zwischen den Metallstäben des Balkongeländers hinunter auf die Straße am anderen Ufer. Vor dem Haus der armen Leute hält ein knallgelber Wagen. Die Fahrertür wird geöffnet und ein Damenschuh wird anmutig auf dem Pflaster plaziert. Der Schuh gehört der komischen Frau, ihre Kleider leuchten bis zu mir herauf. Mit ungläubigen Augen beobachte ich, wie sie sich tief in den Wagen beugt, an irgendetwas herumzerrt und schließlich mit einem gewaltigen Vogelkäfig in der Hand wieder auftaucht. Nicht zu fassen. Sie hat ihn tatsächlich gestohlen. Sie hat sich meinen verdammten Vogel unter den Nagel gerissen.
Ich rieche Rauch, irgendetwas brennt. Ich wende mich ruckartig um und sehe, dass ich das Bügeleisen in meinem Ärger ganz vergessen habe. Aus meinem Hemd lächelt mir ein schwarzes Loch von der Größe eines Tennisballs entgegen. Das erfahre ich jedoch erst, nachdem ich die fette schwarze Rauchwolke beiseite gewedelt habe, die sich über dem Bügelbrett gebildet hat. Hoffentlich sind die Rauchmelder hier genauso mies wie die Duschen und die Deckenlampen.
Nach kurzem Zögern entschließe ich mich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und die Polizei vorerst aus dem Spiel zu lassen.
Bei der Chemiefabrik gibt es eine Hängebrücke für Fußgänger mit guten Augen. Die guten Augen braucht man, um die Brücke in all dem weißen Rauch zu finden, der einem aus den großen Bottichen der Chemiefabrik entgegenquillt. Am anderen Ufer lichtet sich der Rauch, man blickt auf die trostlosen Fassaden elefantengrauer Kleinstadttempel, eine Reihe ungeputzter Zähne mit Karieslöchern, dunkel wie Grubenschächte, die als Fenster einen Blick in die ärmliche kleine Welt der armen Leute ermöglichen.
Natürlich ist der Aufzug kaputt. Das Außer-Betrieb-Schild ist an den Ecken bereits angegilbt. Nach wenigen Stufen drängt sich mir das Gefühl auf, dass sich das Schild nicht nur auf den Aufzug bezieht, sondern dass das ganze Haus außer Betrieb sein muss. Das Treppenhaus ist weiß und hält die Luft an, es herrscht absolute Stille, die Welt hinter den Türen scheint geschlossen zu haben. Ich bin allein mit meinem angestrengten Keuchen und dem Wummern in meiner Brust.
Als ich die siebzehn Stockwerke endlich bewältigt habe, erwarte ich beinahe, mich nun zwischen Kumuluswolken und Engeln zu bewegen, in irgendeiner abgelegenen Ecke des Himmels, von der nicht einmal Gott weiß. Alles wirkt auf eine Weise unwirklich, die unter dem Druck tausender Fingerspitzen schwarz verfärbten Klingelknöpfe, die abgewetzten Schuhabstreifer vor den Türen, die blümchenlose Wandtapete, nichts deutet auf eine von Menschen bewohnte Umgebung hin.
Bevor ich es mir anders überlegen kann, drücke ich auf die Klingel, von der ich glaube, dass sie zur Wohnung der komischen Frau gehört, wo mein kleiner bunter Wellensittich gefangen gehalten wird. Die Tür wird einen Spalt breit geöffnet und eine kurze Kette strafft sich in Augenhöhe zwischen Tür und Rahmen. Zwei kleine schwarze Augen huschen wieselflink über meinen Bauch hinauf in mein Gesicht, wo sie kurze Zeit verharren, um gleich darauf ihren Hüpferlauf über meinen Körper fortzusetzen.
Ich öffne demonstrativ den Mund, aber sie setzt ihre Musterung unbeirrt fort.
Geben Sie mir meinen Vogel wieder, presse ich hervor, ich weiß, dass er bei Ihnen ist.
Die Tür knallt vor meiner Nase zu, ein warmer Luftzug fährt mir ins Gesicht. Gerade, als ich ansetzen will, meine Haare wieder neu zu ordnen, schwingt die Tür auf, diesmal ohne Kettchen und noch einmal wischt mir eine Böe übers Gesicht.
Ach Sie sind´s, höre ich eine Frauenstimme hinter der Tür hervorleiern. Der mit dem Vogel.
Ja, sage ich, ich bin´s, der mit dem Vogel. Lassen Sie mich rein, verdammt!
In ihrer Wohnung geht es zu wie in einer Zoohandlung. Hunde, Katzen, Papageien, Meerschweinchen, Hasen, Murmeltiere, Schildkröten und Kakadus, eingesperrt in Käfigen, die aufgestapelt bis zur Decke den Flur blockieren. Am Fenster zupfen sich zwei Schafe gegenseitig irgendwelche Essensreste aus dem Fell. In einem anderen Raum ist es überraschend still, ringsherum an der Wand stehen eine Menge Glaskästen, bis an den Rand gefüllt mit Schlangen und Echsen.
Mein Gott, flüstere ich, Sie behalten ja alles, was Ihnen in die Finger kommt. Erwartungsgemäß erhalte ich keine Antwort.
Einmal stolpere ich beinahe über eine Kette Enten, die mir, energisch mit den Köpfen nickend, vor den Füßen herumwatscheln. Von wegen ausgewandert; entführt hatte man sie, einfach eingesackt hatte man sie, die ganze Entenmeute.
Ich will schleunigst raus aus diesem nicht ganz legalen Streichelzoo für Erwachsene, will nur noch kurz den Vogel holen und dann nichts wie weg.
Die komische Frau deutet auf eine verschlossene Tür am Ende des Korridors. Ich nehme an, dass sie mir damit das Quartier meines kleinen bunten Wellensittich anzeigen will.
Aus dem Raum dringen merkwürdige Geräusche, eine Art Gemurmel, ein leises Schnaufen und Zischen.
Na, sage ich, was haben Sie da drinnen versteckt. Nilpferde? Einen Riesenkaiman? Känguruhs oder Eisbären?
Ich lache. Als sie mich nicht beachtet, lache ich lauter, aber sie reagiert immer noch nicht. Sie geht ruhig weiter und mir bleibt nichts übrig, als ihr zu folgen. Vor der Tür bleibt sie stehen, sie greift nach einem Schlüssel, der schon die ganze Zeit im Schloss gesteckt haben muss, und dreht ihn ein paar Mal um.
Uhh, scheint ja ein gefährliches Biest zu sein, witzle ich, passen Sie bloß auf, dass es sie nicht beißt. Wieder lache ich, aber das Lachen will mir nicht so recht gelingen. Es ist ein unfertiges Lachen, wie ein kleines Tier ohne Arme und Beine rutscht es mir über die Zunge und fällt aus meinem Mund.
Die Tür schwingt lautlos auf und ich wehre mich nicht, als man mich mit sanftem Druck in das neue Zimmer schiebt. Der Raum ist voller Menschen, Männer und Frauen in allen Farben und Formen, sie sitzen auf langen Bänken an der Wand entlang, einige haben sich einfach auf dem Boden in der Raummitte niedergelassen. All diese sitzenden, stehenden und liegenden Menschen blicken relativ gelangweilt vor sich hin, die einen mehr, die anderen weniger. Ein paar von den Frauen tuscheln leise miteinander, die Männer schweigen, niemand schenkt mir viel Beachtung, nur ein alter Mann blickt auf, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt und der Schlüssel rasselnd durch das Schloss gedreht wird: Einmal. Zweimal. Dreimal.
Er sieht mich traurig an, dann schüttelt er den Kopf und lächelt. Kommen sie her, setzen sie sich zu mir, sagt er. Mit der Hand klopft er dabei ermutigend auf ein freies Fleckchen Bank zu seiner Linken. Ich steige über die auf dem Boden liegenden Männer und Frauen hinweg und lasse mich auf die Bank plumpsen. Erst jetzt fällt mir auf, dass der alte Mann der einzige seiner Art in diesem Raum zu sein scheint, die meisten hier sind nur wenig älter als ich.
Es hat mit dieser alten Geschichte zu tun, sagt er, die mit dem Mann, der ein Schiff baut, weil er von so einer Flut gehört hat. Sie wissen schon.
Man mag es nicht glauben, aber unsere Heldin behauptet steif und fest, dass der Fluss anschwillt, dass das Wasser steigt. Jeden Tag erwartet sie die große Flut. Sie hält sich für so eine Art Jesus und will uns alle retten. Deshalb schafft sie das ganze Viehzeug hier rauf. Deshalb sind auch wir hier, ach ja, weglaufen können sie gleich vergessen, das ist ne Sicherheitstür.
Erst nachdem er das gesagt hat, fällt mir auf, dass ich schon die ganze Zeit die Tür anstarre. Ohne mit der Wimper zu zucken fährt er fort:
Glauben sie etwa, wir haben nichts Besseres zu tun als hier rumzusitzen? Am Anfang geht es ja noch, das Ganze fühlt sich ein bisschen an wie Ferien. Aber nach ein paar Wochen wird die Langeweile unerträglich, das können sie mir glauben.
Na, also sie meint, hier oben sind wir sicher, die Tiere und wir, sie meint, an ihre Wohnung kommt die Flut nicht hin. Es ist ihre Arche. Eine verrückte Sache.