- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
So schmeckt die Nacht
Gilbert geht mit schnellen Schritten die Straße entlang. Er kennt jeden Riss im Trottoir, jede Leuchtreklame, jedes einzelne Schaufenster, auf diesem Weg. Der Herbst hat bereits Einzug gehalten und scheint durch das gewagte Farbenspiel, das er mit den Blättern der Laubbäume treibt, die Stimmung des Betrachters etwas aufheitern zu wollen. Erfolglos.
Es ist der Weg, den er jeden Abend zurücklegt. Er geht ihn in einer Art Trance, die ihn im Banne des nachhallenden Tages gefangen hält. Seit wie vielen Jahren geht er diesen Weg eigentlich? Egal, es wird noch sehr oft sein.
Morgen wird er eine Stunde früher zur Arbeit gehen.
Das letzte Stück ist ihm besonders verhasst. Es führt an einer Kneipe vorbei. Ein düsteres Loch, das wohl niemand freiwillig gerne betritt. Grau, wie die Gestalten die sich drinnen befinden, obwohl sie sich im faden Licht, kaum richtig ausmachen lassen. Er wirft einen kurzen Blick hinein und wendet sich angewidert ab. Dann klappt er seinen Mantelkragen hoch, der stark nach dem Parfüm seiner Sekretärin riecht. Seit Jahren folgt ihm dieser Geruch, den er je nach Tagesverfassung unterschiedlich wahrnimmt. Mal liebt er ihn, mal hasst er ihn. Heute kann er sich nicht entscheiden.
Ein leichtes Knacksen unter seinem rechten Schuh treibt ihm den stolzen Ausdruck eines Jägers, der gerade einen Treffer zwischen die unschuldigen Augen seines Opfers gelandet hat, ins
Gesicht. Es gibt viele dieser miesen, unnützen Krabbler in der Gegend. Den Müllschluckern in den
alten Wohnblocks sei Dank!
Gekonnt streift er seinen Schuh am Bordstein ab, bis er das Gefühl hat, die klebrige Masse sei gänzlich von der Sohle verschwunden. Wenige Meter entfernt biegt er in eine Seitengasse. Dort befindet sich endlich die Tür zu seiner Wohnung.
Irgendwoher kommt Musik. Eine wunderschöne russische Ballade.
Es scheint, als würden sich die wenigen auf den Bäumen verbliebenen, herbstlichen Blätter im
Rhythmus dazu wiegen.
Er spürt, wie ihn ein kurzer Hauch von Melancholie ereilt, den er aber gleich wieder abschüttelt, als wäre es Schnee, der sich kurz auf seinen Schultern einen Zwischenstopp erlaubt hat, bevor ihn die Schwerkraft unvermeidlich auf den Boden zwingt. Inzwischen ist es dunkel. Die feuchte Straße reflektiert die Lichter der Schaufenster.
Seit seiner Scheidung vor vier Jahren lebt er alleine. Sogar den Kater hat seine erste und einzige Liebe mitgenommen. Manchmal fragt er sich was er jetzt mehr vermisst, das Schnurren der Katze oder die längst in seinem Kopf verblasste Stimme seiner Exfrau. Er drückt die Tür rasch hinter sich zu, als würde ihm jemand folgen. Jetzt ist er in seinem Reich. Ein Gefühl der Sicherheit überkommt ihn.
Er geht zum Schrank, in dem viel zu großen Raum, und nimmt eine Flasche Single Malt heraus. Der erste Schluck tut gut. Das Sofa ergibt sich weich unter seinem Gewicht. Er versinkt in der Mulde, die sein Körper dem Sitzmöbel über die Jahre aufgezwungen hat. Er nimmt einen weiteren großen Schluck und starrt auf das Muster am Boden des jetzt bis zum Rest geleerten Whisky Tumblers.
Ein lautes, penetrantes Klingeln reist ihn aus seinem Domizil der verlogenen Geborgenheit.
Mühsam rafft er sich auf und befreit sich aus den Fängen der stark abgewohnten Kissen.
An der Tür steht der Barkeeper aus der verhassten Kneipe um die Ecke. Das billige Hemd, das er trägt, hängt ihm in Fetzen vom Leib. Er hat eine Platzwunde oberhalb des linken Auges. Einige Tropfen Blut landen auf den zerkratzten Dielen des alten Parketts.
Der Barkeeper öffnet seine Faust und zeigt dem verblüfften Gilbert einige tote Kakerlaken.
Er bricht einen der leblosen Körper entzwei. Irgendetwas quillt aus dem toten Leib. Es sieht aus wie kleine feine Kabel und ein Mikrochip.
„Du bist in Gefahr! Schnell komm mit.“ Bevor er etwas erwidern kann, wird er am Arm hinaus gezerrt. Draußen wartet ein weißer Kastenwagen. An der Seite erkennt er einen Teil der Aufschrift:
„Schädlingsbekämpfung Knockando“ den Rest kann er nicht lesen.
Ein ihm unbekannter Mann, in einem abgetragenen Anzug, öffnet rasch die Seitentür. In der Fahrerkabine pendelt ein von Staub bedeckter Duftbaum vom Spiegel. Er war bestimmt mal grün. Der Barkeeper schiebt ihn in den Wagen und setzt sich neben ihn. Dann fährt der Wagen los, ehe die Tür ganz geschlossen ist. „Spione, mini Roboter, die Kakerlaken“, sagt der Barkeeper. „Die machen uns noch alle fertig!“
„Wer denn?“
„Warum hast Du Sie zertreten?" „Die Kakerlake?“ „Wusstest Du was davon?“
„Nein, natürlich nicht!"
„Warum erschlägt man eine Fliege?“
Etwas trifft ihn hart am Kopf. Eine Staubwolke verlässt den Duftbaum, bis das Bild vor seinen Augen zur Gänze verschwindet. Jetzt ziehen nur noch die Lichter lange Fäden. Das Auto fährt schneller und schneller. Die Worte des Barkeepers zerren sich in eine unendliche Länge, bis Sie schließlich ohne einen Sinn zu ergeben, völlig verstummen. Da erklingt wieder diese Ballade.
Wie ein Pfeil treffen ihn plötzlich wieder verständliche Silben. Er öffnet zaghaft seine verklebten Augen. Neben ihm schläft der Mann im Anzug den Schlaf eines Bewusstlosen. Sein Kopf liegt auf der Theke in einer klebrigen, undefinierbaren Masse. Ein grüner Duftbaum pendelt an seinem Schlüsselbund, der ihm halb aus der Hosentasche hängt. Wer benützt denn einen Duft Baum als Schlüsselanhänger?
Gilbert erblickt sein Spiegelbild zwischen den sortierten Flaschen. Sein zerfetztes Hemd hängt ihm von der linken Schulter. Der Geschmack von getrocknetem Blut breitet sich in seinem Mund und auf seinen Lippen aus. Dazu der schale Nachgeschmack vom Whisky und den vielen Zigaretten. Das getrocknete Blut entstellt seine Oberlippe. Es sieht aus wie
schwerer Herpes Befall. Seine Frau hatte Herpes.
Sein Kopf schmerzt und seine Gedanken rasen. Am Tresen steht eine leere Flasche Single Malt mit der Aufschrift „Knockando“. Am Boden des Whiskey Tumblers klebt eine zerquetschte Kakerlake.
Es sieht aus wie Hinterglasmalerei. Sie hatte es bestimmt eilig.
Heute wird er eine Stunde früher in die Arbeit gehen.