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So ein Typ

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22.08.2007
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So ein Typ

„Sag das nicht“, mahnt sein Zensor, „das bringt nur Ärger.“
Er soll sich mit Kritik zurückhalten. Differenzieren soll er, Hintergründe ausloten, Zusammenhänge erkennen. Das Menschliche soll er nicht anprangern, sondern mit Nachsicht und mit Anstand erklären. Aber Arno mag nicht mehr an der Gängelleine seines Zensors laufen. Arno hat genug, hat die Nase voll und legt los:

"Dieser Typ! Kauft Schuhe im Fachgeschäft, geht damit zum Mister Minit und lässt sich zwei Zentimeter dicke Sohlen drunter kleben. Im Fachgeschäft traut er sich nicht zu sagen, dass er Schuhe mit vier Zentimeter dicker Sohle wünscht. Die lächeln dann, weil sie den Typ ja kennen. Den gibt’s überall, der taucht immer wieder auf. Hält sich für den Größten, obwohl er immer und überall der Kleinste ist. Die vier Zentimeter Schuhsohlen sollen es dann richten. Wer Größe hat, kann sich Gehör verschaffen. Wer sich Gehör verschafft, hat Größe. Mit Größe hat man Überblick. Wer Überblick hat, ist groß.

Der Typ trägt seinen Pullover lässig über der Schulter. Früher, als Pullover nicht nur modische Themen waren, hing dort die Gitarre. Am Gitarrenband, von Mutter bestickt, mit Seidenfäden: Zweiundzwanzig Rotkehlchen und Blaumeisen, elf zwitscherten nach links, elf nach rechts. Dazu trug er Kniebundhosen im Sommer. Im Winter lange Cordhosen, grobgerippt, braun und immer ein bisschen verbeult. Gewaschen, an der Luft getrocknet und dann kräftig aufgeschüttelt. Mutter plädierte umsonst fürs Bügeln. Heute zieht er seinen Pullover nicht mehr an, trägt im Sommer Bermudas und im Winter Jeans. Die Gitarre verstaubt auf dem Kleiderschrank, das Gitarrenband hängt am Türrahmen im Flur. Die Rotkehlchen und Blaumeisen blicken nach links in den Garten und nach rechts in die Küche.

Er leitete vor Jahren eine Jugendgruppe. Ökumenische Ferienspäße, Räuber und Gendarm im Landschulheim. Abends, am Lagerfeuer, mit Gitarrenbegleitung das Lied von den Affen, die durch den Wald rasen und sich gegenseitig kalt machen. Sein Lieblingslied. Den Refrain brüllte er im Chor am lautesten. Die Neuen mochten ihn. Manchmal griff er dem schüchternen Jens in die Hose. Das war damals noch kein Thema und blieb ohne Folgen. Gab ihm aber Sicherheit, sich gegen Frauen zu entscheiden. Mutter blieb die Einzige. Sie äußerte Besorgnis im Bekanntenkreis, war aber innerlich heilfroh. 'Der Bub ist zu Besserem berufen. Frauen lenken nur ab', dachte sie und sprach mit ihm übers Studieren. Arzt oder Anwalt, das wäre was für ihn. Eine Praxis, immer saubere Hände und in der Freizeit etwas Kreatives: Musik, Malerei oder was auch immer. Ihm stünden dann alle Möglichkeiten zur Verfügung. Da fing das an, mit dem Wunsch nach Größe, den Lagen Zeitungspapier in den Schuhen, später Einlegsohlen und noch später die zwei Zentimeter Extrasohlen vom Mister Minit.

Aus dem Studium wurde nichts. Die Berufsberaterin erkannte sofort: Das ist ein Sozialtyp, sicher geeignet als Fürsorger. Die brauchte man damals dringend. Praktikum als Streetworker, gelegentlich in der Nebenrolle des Dealers. Irgendjemand verpfiff ihn. Mutter intervenierte resolut. Es kam zur stillschweigenden Regelung: Abbruch der Ausbildung im gegenseitigen Einvernehmen. Da war Zeit für den zweiten Bildungsweg. Mutter lag viel daran, sie schuf den finanziellen Freiraum. Er brauchte zwei Jahre länger, als nach Lehrplan vorgesehen, aber danach wird später niemand mehr fragen. Mutter gelang es, ihn bei der Stange zu halten. Auch, dass er bei ihr blieb, was für ihn kein Problem war. Bei Mutter ging’s ihm gut. Da genügten flache Latschen. Bei Mutter war er von Anfang an der Größte und wird es bleiben. Auf Mutter war Verlass.

Ausbildung zum psychologischen Berater. Ein bisschen Astrologie, schamanische Trauerrituale, Homöopathie und Klangschalenmeditation. Selbsterfahrung in der Gruppe, im Schnelldurchgang. Was soll er über sich erfahren, was er nicht schon weiß? Er hat nichts zu verdrängen, ihm ist nichts unbewusst. Er hört zu und lächelt über all den Krimskrams, den die anderen aus ihren untersten Schubladen holen. Seinen eigenen hat er längst im Keller, in Kisten, Koffern und Kartons verstaut. Da kommt niemand dran und das geht auch niemanden etwas an. 'Getretener Quark wird breit, nicht stark, mein Junge', sagt Mutter und hat recht, wie immer.

Abschluss mit Diplom, ohne eins der drei Hochschulkürzel, die waren damals noch nicht üblich. Die brauchte er auch nicht. Er wollte sich nur das Rüstzeug seiner Bestimmung zum freiberuflichen Lebensberater aneignen. Ein Berater weiß mehr als andere. Ein Berater kennt sich aus mit offenen Fragen und Antworten. Er darf Ratschläge geben. Subtile Anschläge auf keimendes Selbstvertrauen. Wenn jemand ihn kritisch hinterfragt, kommt seine Gegenfrage: „Ich finde es mutig, dass du das ansprichst, und wie fühlst du dich jetzt?“ Oder: „Ja, das ist eine klassische Projektion! Daran solltest du arbeiten!“ Er kann in einer Gruppensitzung auch sagen: „Ich bin sehr interessiert an deiner Meinung über mich, vielleicht machen wir das in der nächsten Stunde zum Thema. Melde dich einfach noch mal.“ So ein Berater kann den Wind aus den Segeln nehmen, bis ihm die Klientel aus der Flaute läuft. Die Mutigen laufen zuerst, die Schüchternen warten ab. Könnte ja sein, dass die nächste Sitzung Entscheidendes klärt. Schließlich hinken auch sie davon.

Er wird Kursleiter. Die kurzfristigen Prozesse liegen ihm ohnehin besser. Freitagnachmittag bis Sonntagmittag. Abseilspielchen im freien Gelände. Die kennt er noch aus der Zeit als Jugendleiter, das Schlafen im Heu auch. Jetzt sind Managerkurse gefragt, mit Champagnerapéro zum Empfang, Fünfgangmenü am Abend, reichlich Wein und dann ab auf den Heuboden, in die seidenen Daunenschlafsäcke. Am nächsten Tag, trotz oder gerade weil es neblig ist, Orientierungslauf im Alleingang. Abmarsch alle zwei Minuten einer. Mit kopiertem Wanderkartenzettel, ohne Proviant, ohne Wasser und natürlich, Ehrensache, ohne Handy. Nur so lässt sich das Bewusstsein für Überlebensstrategien entwickeln. Darauf kommt’s an im Berufsleben, heute mehr denn je. 25 Zettel mit je einem Satz müssen gefunden werden. Daraus ergibt sich, bei richtiger Zusammenstellung, eine Anleitung für die Entspannungsübung am Abend. Am letzten Posten ist die persönliche Kursbescheinigung im wasserfesten Namenskuvert deponiert. Zusammenkunft eine Stunde vor dem Nachtessen, zum Erfahrungsaustausch. Einer meldete sich ab, hätte gestern zu viel Wein getrunken. Aber es ist schon durch, dass er der Lover vom Kursleiter ist. Die machen sich einen schönen Tag im Heu.

Dieser Typ, mit Extrasohlen. Dass er älter wird, empfindet er als Schande. Er hat bald keine Rolle mehr und kann dann auch keine mehr spielen. Noch leistet er Altenarbeit im St. Petri. Da ist er wieder der Jüngste. Mittwochnachmittags kommen sie, munter und rüstig, erzählen, wie das früher so war, durchwühlen ihren Erfahrungskrempel, vertreten starrsinnig die eigene Meinung. Wenn er mal zu Worte kommt und ein Zitat platziert, wissen sie, von wem es stammt und sagen es auch noch. Alte Leute mochte er nie. Nun rutscht er selbst da rein. 'Du wirst das schon machen', sagte Mutter immer zu ihm. Daran denkt er, wenn er die Haarsträhnen auf der linken Seite lang wachsen lässt, um sie mit Gel über die beginnende Glatze auf die rechte Seite zu kämmen."

Arno hat losgelegt. Jetzt ist ihm wohl. „Denk mal nach, das hat sicher was mit dir zu tun“, würde der Typ sagen. Dabei hat Arno noch längst nicht alles gesagt.

 

Salue Gisanne

Da hat es eine Köstlichkeit von Dir wieder hochgespielt, die zu Lesen mir unvermindert Vergnügen bereitet.

„Sag das nicht“, mahnt sein Zensor, „das bringt nur Ärger.“

In Gedanken setzte ich den Zensor wie A(do)rno für die innere Stimme, welch Ärger manch einer sich wohl ersparen könnte, würde er solcher Eingebung folgen. Erkenntnistheoretisch nähert der Satz sich der Philosophie an, dass es eine Satire einleitet, zeigt einmal mehr, welche Tiefgründigkeit sich in einer solch gelungenen Abhandlung verbergen kann.

Hier präsentiert es sich als biographischer Abriss, kompakt die Skurrilität eines Lebens eingefangen. Man vermisst als Leser nichts, staunt vielmehr, welche Summen an Eigenheiten sich auf einen kurzen Nenner bringen lassen.

Dass Du diese Verdichtung von Sprache vorzüglich beherrschst, entnahm ich auch kürzlich einem Deiner antwortenden Kommentare, der sich satirisch vollendet einem Objekt anfügte, welches sich aus einer andern Feder kläglich den Lesern anbiederte. Diese nur im Kontext verständliche Gestaltung erreicht da eine literarische Note, die einem Kritikerpreis würdig wäre.

Als vergnügter Leser wende ich mich heiter weiterer Spurensuche hier im Forum zu. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber Anakreon,

das ist ja eine reine Freude, von dir zu lesen und dann noch solch einen Kommentar. Den hab ich nur zufällig entdeckt, weil ich den von DelFin nochmal lesen wollte. Dabei hatte ich übersehen, dass ich seit Tagen nicht mehr eingeloggt bin, weil ich da so Caches und so Sachen gelöscht hatte. Was einem alles passieren kann, wenn man sein Laptop aufräumt tz, tz, tz

In Gedanken setzte ich den Zensor wie A(do)rno für die innere Stimme,
Ganz genau! Wie schön, dass du das so liest, wie ich es meinte. Das ist schön, so verstanden zu werden.
Dass Du diese Verdichtung von Sprache vorzüglich beherrschst, entnahm ich auch kürzlich einem Deiner antwortenden Kommentare, der sich satirisch vollendet einem Objekt anfügte,
:bounce: Ich weiss, welchen du meinst. Da hat mich doch wirklich dieser Affe geritten. Das geschieht mir öfters, aber ich verkneife mir das dann immer, obwohl es so viel Spass macht.:D

Hab ganz lieben Dank für deinen Kommentar. Damit hast du mir einen richtig schönen Tag beschert.
Frohe Pfingsten. Die Hitze wird fröhlich über die Berge kommen und soll dir gut tun!

Herzlich grüsst dich
Gisanne

 

Hallo Gisanne,
woher kennst du meinen Bekannten Helmut?
Wunderbar hast du sein Verhältnis zu seiner Mutter beschrieben, die, brütend über ihren Sohn, ihn in Jungenhosentaschen Erleichterung finden lässt, ihn für etwas Besseres hält und zum Traumberuf Berater aufsteigen lässt.
Als solcher verkürzt er die Psychotherapie sehr realitätsgerecht auf Standardsätze, die die Heilung bringen. Auf die auch Manager reinfallen.
Dein Muttersöhnchen ist ein Prototyp einer Generation, ich sage Generation Frankfurt, weil Helmut dort geblieben ist, wo alles seinen Anfang nahm.
Es gibt ein Werk, das das, was du geschrieben hast, auf vierhundert Seiten darstellt: Helmut Schlesky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975
Man kann Arno verstehen, dass ihm die Schilderung des Lebenswegs so von der Hand geht, locker, leicht, aber doch mit Biss, der wesentliche Mängel aus diesem aufgeblasenen Leben herausreißt. Und man bekommt Mitleid mit dem Opfer, wie ich mit Helmut Mitleid habe, der, weit überaltert, immer noch sagt:
„Ich finde es mutig, dass du das ansprichst, und wie fühlst du dich jetzt?“
Das Beraterelend ist groß, das Einkommen von vielen klein. Und Helmut hat sich nun einen „Weisheitsmantel“ selber entworfen und geschneidert, in dem er nun „Lebensberatung der ewigen Weisheit“ anbietet. Es brauchen diese nicht viele. Aber mein Helmut ist ein Priester!
Muss ihn mal wieder zum Essen einladen.
Der Zensor hat recht, wenn er mahnt: „Denk das nicht, das bringt nur Melancholie.“
Dir sei Dank, dass du so feinsinnig und dezent diesen Lebensweg beschrieben hast.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 

Salü Wilhelm,

der Typ hebt sich immer wieder aus der Versenkung hervor. Ein zäher Bursche. Aber das muss er ja auch sein, wenn er überleben will in diesen rauen Zeiten. Ja, lade den Helmut mal zum Essen ein, damit er was Rechtes zwischen die Zähne bekommt, woran er wirklich zu beissen hat.

„Lebensberatung der ewigen Weisheit“
Wenn es nicht so tragisch wäre könnte ich :rotfl:
Man kann Arno verstehen, dass ihm die Schilderung des Lebenswegs so von der Hand geht, locker, leicht, aber doch mit Biss, der wesentliche Mängel aus diesem aufgeblasenen Leben herausreißt.
Danke dir herzlich für diesen Kommentar, der mich bestärkt, den Arno loslegen zu lassen, wann immer er es dringend nötig hat.

Viel Fröhliches in diesen Tagen, in denen die Sprachverwirrungen die Chance erhalten, sich aufzulösen. Ach, was brabbel ich da!

Lieben Dank und Gruss,
Gisanne

 

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