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Snow Field (Part 1)
Thomas Murphy schaute skeptisch in den pechschwarzen Himmel. Gewaltige Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und jeden Lichtstrahl gefressen. Es war Nacht auf Snow Fields Straßen. Murphy fasste sich ungläubig an den Kopf und warf einen zweiten Blick auf seine vergoldete Armbanduhr. Sie zeigte nach wie vor die gleiche Uhrzeit. Es war Vormittag. Normalerweise sollte es jetzt hell und belebt auf den Straßen zugehen. Doch hier war keine Menschenseele auszumachen. Er war hierher geordert worden, um die Aktivitäten der Sektenbewegung zu kontrollieren. Normalerweise lebten diese zurückgezogen und größtenteils friedlich auf ihrem Anwesen, am Rande des Dorfes. Seit gestern Abend, so Augenzeugen, haben sich einige von ihnen auf die Straßen getraut um den Bürgern postapokalyptische Drohungen zuzurufen. Diese fühlten sich natürlich dadurch belästigt. Murphy schüttelte grinsend den Kopf. Er war hier der Trottel für alles. Durfte sich gewissenhaft mit den kleinen Problemchen der älteren Mitbürger herumschlagen und ein paar Jugendlichen einmal pro Woche die Leviten lesen. Nebenbei musste er sich dann auch noch mit der Psyche dieser kranken Sektenheinis auseinandersetzen. In einem Kaff wie Snow Field war der Beruf des Sheriffs wirklich nicht besonders anspruchsvoll. Murphy drehte sich noch einmal um. Die Straße vor ihm war wie leergefegt. Die Häuserreihen wirkten statisch und ausgestorben. Nirgendwo brannte Licht. Die dunklen Nimbuswolken spiegelten sich in ihrem Glas. Wieder ein Blick gen Himmel. Die Wolken hingen fest und träge am Horizont. Es gab kein Wetterleuchten, obwohl ein schweres Gewitter wohl die naheliegendste, ja fast einzige Antwort auf diese Finsternis war. Murphy schaute zurück zu seinem Auto, welches er keine fünfzig Meter weit entfernt am Straßenrand geparkt hatte. Er würde das hier schnell hinter sich bringen und dann Feierabend machen. Irgendwie ging es ihm heute nicht besonders gut. Nach seinem Besuch in der Fabrik und bei diesem Jungen fühlte er sich ausgebrannt und schlapp. Er würde sich, in seiner Wohnung angekommen noch ein bis zwei kühle Bierchen gönnen, sich dann auf die Couch legen und seine Husky Hündin Cheryl streicheln. Dabei ein bisschen fern sehen und abends dann wieder den Sheriff spielen.
Als er an dem großen Eisentor angekommen war, das eine Art Grenze zwischen den Gemeindemitgliedern und dem Dorf symbolisierte, begutachtete er wie jedes Mal die in Stein gemeißelte Inschrift. „Sie sind gekommen, um Zeugen des Anbeginns zu sein. Die Wiedergeburt des Paradieses, ausgeplündert von der Menschheit.“
Murphy klingelte und beugte sich ein wenig tiefer, hin zur Freisprechanlage. Er wartete eine halbe Minute. Keine Reaktion. Dann versuchte er es noch mal. Wieder nichts. „Verdammt wo stecken diese Penner“, fluchte er. Konnten doch nicht alle ausgeflogen sein. Als Zeichen seiner Aggression landete der Stiefel unsanft zwischen den Eisenstangen. Murphy drehte sich um und wollte gerade seinen Rückzug antreten als er bemerkte, das ein junger Mann, weiter entfernt auf der Straße in seine Richtung gelaufen kam. Sah nach Sean Flanery aus. Ein ordentlicher Bursche. War bisher noch nie mit dem Gesetz aneinandergeraten. „Und das, obwohl er mit Ihm befreundet ist“, dachte sich Murphy. Aber er hatte auch wohlhabende und einflussreiche Eltern. Die würden ihn ganz sicher unter ihre Fittiche nehmen. Irgendetwas schien aber nicht zu stimmen. Er rannte, obwohl sein Gesicht von Erschöpfung und Panik gezeichnet war. Seine Arme ruderten wild umher. „Was geht in diesem verrückten Nest heute bloß vor sich“, murrte Murphy und lief dem verschreckten Jungen entgegen.
*
Sean blickte sich noch einmal hektisch um und geriet im nächsten Moment ins Straucheln. Er stolperte über seine eigenen Füße und landete schmerzhaft auf dem harten Asphalt der Straße. In seinem Kopf sah er immer wieder diese schrecklichen Bilder. Diese unmenschlichen Schreie, die ihn durch das halbe Dorf getrieben hatten, hallten noch immer in seinen Ohren. Er brauchte einen Moment um zu registrieren, dass diese Laute durchaus real waren. Die anderen waren immer noch hinter ihm her, nur hatte er ein wenig Distanz geschaffen. Er wollte gerade aufstehen und weiterlaufen, als ihm von hinten jemand unter die Arme griff. Panisch schleuderte Sean dem Unbekannten seine Faust ins Gesicht. Sichtbar benommen taumelte dieser zurück. Sean nutze die Gelegenheit um auf die Beine zu kommen. Im nächsten Moment hörte er ein boshaftes Fluchen, dann schaute er sich die Person etwas genauer an. Keine roten Augen. Nur eine blutende Nase, aber das hatte wohl sein Schlag angerichtet. „Chief Murphy, Gott sei dank das sie hier sind“. Sean versuchte erst gar nicht sich zu entschuldigen, er blickte sich nur immer wieder nervös um. „Verdammt Junge, was ist los mit dir?“, giftete Murphy zurück. Seine Stimme hörte sich aufgrund der blutenden und betäubten Nase sehr merkwürdig an. „Wir müssen sofort von hier verschwinden Chief!“ Sean zitterte am ganzen Körper. Seine braunen Augen waren tränenunterlaufen.
Murphy legte seine Hand auf die Schulter des Jungen und versuchte ihn zu beruhigen. „Sag mir doch erst einmal was passiert ist“, sagte er betont ruhig und sachlich, während er sich mit der anderen Hand die Nase hielt.
„Nein!“, schrie Sean und schlug die Hand weg. Dann erstarben seine Bewegungen. Er stand stocksteif da und blickte Murphy aus angsterfüllten Augen an.
„Oh mein Gott, hören sie das?“, sagte er mit bebender Stimme. „Sie sind gleich hier.“
Murphy lauschte und konnte im gleichen Moment ein dumpfes Trampeln aus der Ferne hören. Vereinzelte Schreie hallten über die leeren Straßen. Seltsame, animalische Schreie. Auch Murphy wurde nun ein wenig flau im Magen. „Sind das Angehörige der Sekte, Sean?“
Der junge Mann schüttelte hastig den Kopf. „Das ist das gesamte Dorf Chief. Die sind alle verrückt geworden.“
Murphy blickte den Jungen skeptisch an. Vielleicht hatte er sich ja Drogen eingeworfen. Aber er sah verdammt noch mal ziemlich fertig aus.
„Ich bring dich jetzt zum Wagen und schau mir die ganze Sache mal an.“
Während dieser Worte schwoll der Lärm um sie herum weiter an. Noch mehr Schreie. Es schien eine ganze Horde unterwegs zu sein.
Murphy war dadurch kurzzeitig abgelenkt. Sean rannte zu dem Haus zu seiner rechten und schlug mit voller Kraft gegen das große Fenster. Das Glas splitterte. Ein zweiter Schlag ließ die halbe Scheibe in sich zusammen fallen. Murphy schaute fassungslos mit an, wie dieser Bursche einfach das Küchenfenster eines Bürgers zerschlug.
„Sag mal bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“, fuhr er ihn an.
„Ich bitte sie Chief, kommen sie mit“, sagte er mit zittriger Stimme, während er auf den Fenstersims kletterte und ins Hausinnere sprang. Seine zerschnittenen Handballen schienen ihm gar nichts auszumachen. „Ich bitte sie, kommen sie hier hin“, flehte Sean mit beschwörender Stimme. Murphy begann allmählich, ihm seine Geschichte abzukaufen. Irgendetwas war wirklich seltsam. Das hatte er doch schon den ganzen Tag gespürt. Er schaute wieder zum Himmel. Erst diese totale Finsternis und jetzt auch noch diese wildgewordenen Freaks. Murphy fühlte sich plötzlich auf dieser leergefegten Straße gar nicht mehr wohl. Der Lärm war nah. Die ersten von ihnen würden jeden Moment um die Ecke stürmen. Er schaute zu Sean und schüttelte einmal demonstrativ den Kopf. Dann ging er hastig zu ihm und sprang mit einem Satz durchs Fenster.
*
Murphy und Sean hockten hinter der Küchenwand, während auf der Straße die ersten Schritte deutlich zu hören waren. Ein wildes Schnaufen und gelegentliche Schreie trieben Murphy eine Gänsehaut über den Rücken. Er blickte angespannt zu Sean, der sich krampfhaft beide Hände auf den Mund presste, während aus seinen zusammengekniffenen Augen die Tränen liefen. Die Küche war dunkel und unheimlich. Es war genau wie draußen. Die beiden lauschten angespannt. Viele der Schreie waren leiser geworden. Die meisten von Ihnen waren wohl weiter entfernt in eine andere Straße eingebogen. Murphy wartete trotzdem noch einige Minuten. Dann streckte er langsam seinen Kopf nach oben, wohl darauf bedacht keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Sean krallte panisch die Hand in den Stoff seiner Uniform. Murphy legte seine Hand auf die des Jungen und streichelte beruhigend darüber. Er tat ihm so wahnsinnig leid. Und er selber schimpfte sich gedanklich einen Feigling, weil er sich von seiner Angst hatte anstecken lassen. Vorsichtig blickte er über Fensterbank. Zwischen einem großen Blumentopf und einem kleineren Keramikelefanten erhaschte er einen Blick nach draußen. Sein Blick fixierte sich augenblicklich auf die Gestalt, die aus tiefroten Augen in seine Richtung schaute. Er verharrte in seiner Position. Hätte er seinen Kopf wieder eingezogen wäre diese Veränderung sicher aufgefallen. Schockierend lange trafen sich die Blicke von Murphy und der verunstalteten Frau, die er als Miss Hoover zu erkennen glaubte. Ihr Mund war weit geöffnet und ihr schlaksiger Körper stand gebückt auf dem Asphalt. Die Arme hatte sie nach vorne fallen lassen. In dieser skurillen Körperhaltung wies sie frappierende Ähnlichkeit mit einem Primaten auf. Murphy schlotterten die Knie. Hatte sie ihn gesehen? Würde sie jeden Moment auf ihn losstürmen? Die nächsten Sekunden kamen dem Anfangsdreißiger wie eine halbe Ewigkeit vor. Dann aber löste sich ihr Blick und Miss Hoover humpelte unbeholfen und mit wippendem Kopf davon. Murphy ließ sich erleichtert an der Wand hinabsinken. Sein Herz schlug schwer in seiner Brust. Sean traute sich nach wie vor nichts zu sagen. Aber auch von ihm viel die Anspannung ein wenig ab. Murphy riskierte noch einen weiteren Blick. Vor seinem inneren Auge sah er wieder diese schreckliche Gestalt. In der Realität zeigte der Blick aus dem Fenster aber zum Glück nur die leere Straße. Keiner von diesen Freaks war mehr zu sehen. Murphy atmete tief durch und legte Sean die Hand auf die Schulter.
„Was zum Teufel ist mit denen passiert?“, fragte er, wohl wissend jedoch, dass Sean ihm darauf auch keine Antwort geben konnte. Beipflichtend schüttelte der junge Mann den Kopf. Murphy riskierte einen besorgten Blick auf seine blutenden Hände.
„Tut es sehr weh?“ Sean schüttelte wieder hastig den Kopf. Der Schock saß tief.
Murphy streichelte ihm fürsorglich über den Kopf. „Das wird schon wieder. Wir fahren jetzt gleich erst mal raus aus Snow Field und bringen dich in ein Krankenhaus.“ Murphy richtete sich auf und streckte seinen Kopf aus dem Fenster. Sein Wagen stand noch. Und er schien unbeschädigt zu sein. Er wollte Sean gerade auf die Beine helfen, als aus dem Obergeschoss des Hauses ein lauter Knall ertönte. Der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder. Sean schaute ihn nur entsetzt an und schüttelte den Kopf.
„Ich muss nachsehen gehen. Bleib du hier unten und versteck dich.“ Murphy nahm die Beretta aus ihrer Halterung und entsicherte den Lauf. Dann verließ er die Küche und ging die dunklen Treppen hinauf.
*
Emily Berrils winziger Körper zitterte wie Espenlaub. In ihren Beinen spürte sie schon die Vorboten eines Krampfes. „Bitte nicht jetzt“, flüsterte sie in Gedanken, während von der anderen Seite des Kleiderschrankes ein schweres Atmen zu hören war. Es war dunkel. Stockfinster um genau zu sein. Die verschiedenen Kleider kratzten an ihren Armen. Und dennoch fühlte sie sich sicher im Schrank ihrer Oma. Das Atmen auf der anderen Seite wurde lauter. Emily spannte ihre Muskeln an, versuchte die Luft anzuhalten. Im nächsten Moment stieg ihr ein fauliger Geruch in die Nase. Sie kannte diesen Gestank. Sie musste ihn immer ertragen, wenn ihr die Oma einen Kuss auf die Wange gab. „Oma...bist du das?“, fragte sie mit bebender Stimme. Dann war für den Bruchteil einer Sekunde Ruhe. Kein stinkender Atem mehr, der ihr durch den kleinen Spalt ins Gesicht blies. Emily beugte sich nach vorne um vielleicht doch etwas mehr sehen zu können. Im nächsten Augenblick tauchten rotglühende Augenpaare direkt vor ihrem Gesicht auf. Zwei knochige Hände krallten sich in den Stoff ihres Kleides und rissen sie brutal aus dem Kleiderschrank. Emily und ihre Oma fielen krachend zu Boden. Das Mädchen hatte wenig Mühe sich loszureißen. Sie sprang auf und presste sich schockiert gegen die Wand. Sie war paralysiert. Keins ihrer Glieder gehorchte mehr. Vor ihr richtete sich nun auch die alte Frau mühsam auf. Ihr weißes, dünnes Haar leuchtete in der Dunkelheit. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollt dich nicht in Omas Schlafzimmer verstecken, Kindchen“, sagte sie mit einem unnatürlich hellen Tonfall, ohne jedoch dabei die Lippen zu bewegen. Emily konnte nicht antworten. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie schaute wie gebannt auf die alte Frau, die wankend und röchelnd in ihre Richtung schlurfte.
Im nächsten Moment wurde die Zimmertüre aufgerissen und ein großgewachsener Mann betrat das Schlafzimmer. Sein Blick fiel sofort auf die alte Dame, die ihn gar nicht zu bemerken schien. Dann sah er runter zu dem kleinen Mädchen, dass ihn verwirrt und ängstlich anschaute. Murphy schnappte sie am Arm und zog sie zu sich. Emily schrie und versuchte sich loszureißen. Im nächsten Moment wurde sie von ihm nach draußen in den Flur geschleudert. Mit erhobener Waffe machte Murphy ein paar Schritte zurück.
„Bleiben sie jetzt stehen Miss Berril.“ Die alte Frau verzog wütend ihren Mund und fletschte die falschen Zähne, die unter der Anspannung knirschten.
„Bleiben sie stehen oder ich schieße“, sagte er laut und kompromisslos.
Das Mädchen lag immer noch weinend und zusammengekauert am Treppengeländer.
„Bitte tun sie meiner Oma nicht weh“, sagte Emily kleinlaut.
Die alte Frau humpelte nun schneller. Ihre Arme hatte sie weit nach vorne gespreizt. Aus ihrem Mund drang ein boshaftes Zischen.
Murphy sicherte die Waffe und stürmte auf sie zu.
„Verdammt, du bist nur ein altes Weib“, versuchte er sich selber zu ermutigen, während er mühelos durch ihre Arme stieß und ihr die Faust ins Gesicht schlug. Die alte Frau taumelte zurück und wurde im nächsten Moment durch einen kräftigen Stoß auf den Boden geschleudert. Murphy fühlte das Türschloss nach einem Schlüssel ab und wurde sofort fündig. Erleichtert schmetterte er die Türe zu und drehte den Schlüssel. Dann atmete er einmal tief durch und steckte seine Dienstwaffe zurück in die Halterung.
Augenblicklich setzte ein lautes Poltern ein. Die gute Miss Berril warf sich mit vollem Körpereinsatz gegen das stabile Holz. Murphy hockte sich zu dem zehnjährigen Mädchen und reichte ihr die Hand.
„Deine Oma wird schon wieder, Kleines. Die tobt sich jetzt erst mal richtig aus.“
Murphy versuchte aufbauend zu lächeln, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Emily aber schien Vertrauen zu haben und streckte ihre kleine Hand nach ihm aus.
Murphy zog sie sanft auf die Beine und tätschelte ihren Kopf.
„Und jetzt verschwinden wir erst einmal aus diesem verrückten Dorf“, zischte er und lief mit Emily an der Hand die Treppen runter.
Das Mädchen hielt sich mit der einen Hand das Ohr zu, damit sie die wütenden Schreie ihrer Oma nicht mehr so deutlich hören konnte...
*
Unten angekommen wartete ein sichtlich erleichterter junger Mann. Seine braunen Augen wirkten jetzt zunehmend gefasster. Als er Emily sah, zauberte sich erstmalig ein scheues Lächeln auf seine Lippen. Murphy war erfreut das zu sehen.
„So ihr beiden. Wir werden jetzt gleich zügig und leise zu meinem Wagen gehen.“
Murphy übergab Sean die Hand der kleinen Emily und kramte dann den Autoschlüssel aus seiner Hose. „Ich werde sofort Verstärkung anfordern und dann fahren wir erst einmal nach Harem Hill.“
Murphy nickte den beiden zu und ging zur Haustüre. „Was ist wenn die uns den Weg versperren wollen? Chief, sie dürfen dann auf keinen Fall anhalten.“
„Werde ich nicht“, war alles was Murphy darauf antwortete. Dann öffnete er langsam die Türe und sah nach draußen. Niemand zu sehen. Die Straße war leer.
Es war ein seltsames Gefühl hier draußen zu stehen. Das alles wirkte auf die beiden so schrecklich surreal. Emily schien keine Ahnung von all dem zu haben. Für sie war es einfach nur Nacht. Die Wolken hatten sich kein bisschen gelichtet. Starr und üppig standen sie am Himmel. Es war ruhig. So verdammt ruhig, dass jeder Schritt ein empfindliches Loch in diese Stille riss. Die drei waren schnell auf der Hauptstraße angekommen. Das Auto stand nicht mehr weit entfernt. Hier war offenes Terrain, was allen ein mulmiges Gefühl bescherte.
Dann waren sie am Wagen angekommen. Ein kurzes, helles Aufblinken, dann war das Polizeiauto entriegelt. Murphy wollte den beiden gerade sagen wo sie sich hinzusetzen hatten, als ein lautes Gelächter durch die Dunkelheit hallte.
Sean und Emily zuckten zusammen. Das kleine Mädchen grub ihren Kopf in Seans Bauch. Dieser umklammerte sie fürsorglich.
„Ihr setzt euch jetzt beide auf den Beifahrersitz. Nimm Emily auf deinen Schoß, los doch Sean“, sagte Murphy hektisch. Dann nahm er die Beretta aus der Halterung und zielte in die Dunkelheit. Ein paar Sekunden stand er still und ruhig da, als sich plötzlich die Konturen eines Mannes aus dem Nichts herausschälten.
„Stehen bleiben Mister“, zischte er dominant und entsicherte den Lauf seiner Pistole.
Wieder war ein Gelächter zu hören. Dann kam der Mann ins Sichtfeld. Ein älterer Kauz mit grauem Haar und einem dichten Bartwuchs. Er trug einen dunklen Anzug und schwarze, polierte Lackschuhe. Dazu einen Stoffhut. „Ein Mitglied der Sekte“, schoss es Murphy sofort durch den Kopf.
Das Gesicht des Mannes sah entspannt, fast schon glücklich aus. Er lächelte. Nur hinter seinen Augen loderte der Wahnsinn. Sie waren nicht rot, er war also keiner von denen. Murphy brauchte sich auch nicht die Zeit zu nehmen um eine Frage zu formulieren. Der Mann fing ganz von alleine an zu reden.
„Sheriff, sie brauchen diese Waffe bald nicht mehr. Gegen Ihn sind auch solche Utensilien machtlos“, fuhr er ihn spöttisch an.
„Was zum Teufel reden sie da, sie verrückter Spinner“, fauchte Murphy zurück.
Der Mann schüttelte bloß grinsend den Kopf. „Ihr habt es immer noch nicht bemerkt. Für euch sind wir also nach wie vor nur durchgeknallte Spinner.“
Murphy gab keine Antwort. Seine Waffe hielt er im Anschlag.
„Aber schließlich seid es doch ihr Ungläubigen, die zuerst von Ihm erlöst werden. Schau dich doch mal im Dorf um. Schau dir die armen Seelen an. Alte Menschen, junge Menschen, Kinder. Sie alle erleben in genau diesem Moment die Strafe Gottes.“
Murphy schüttelte angewidert den Kopf. „Sie haben doch wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank“, sagte er und lief schnellen Schrittes zum Auto. Hinter sich hörte er die wilden Beschwörungen des Mannes.
„Sie hat immer Recht gehabt. Er ist etwas Besonderes geworden. Und ihr werdet durch seine alles umfassende Macht zerschmettert werden“, brüllte er ihm hinterher bevor er in ein langanhaltendes, schrilles Lachen verfiel. Murphy setzte sich ins Auto und startete den Motor. Die Scheinwerfer machte er nicht an. Er warf noch einen kurzen Blick in den Innenspiegel. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Dann fuhr er los...
*
„Verdammt noch mal, ich bekommen keinen Empfang rein“, fluchte Murphy lauthals und steckte das Funkgerät grob in die dafür vorgesehene Halterung. Er spürte, wie Seans Blick länger als nötig auf ihm ruhte. „Was ist los Junge“, sagte er genervt.
„Nichts Sir, ich finde sie nur wahnsinnig mutig. Geben sie jetzt nicht auf, wir haben es ja gleich geschafft.“ Murphy versuchte zu lächeln. Die ganze Sache war ihm doch ziemlich aufs Gemüt geschlagen. „Wann sind wir da, Sheriff Murphy“, wollte die kleine Emily wissen.
„Wir sind gleich an der Brücke, Emily. Dann fahren wir noch etwa eine halbe Stunde bis Harem Hill.“ Das Mädchen nickte erschöpft und lehnte sich danach wieder an Seans Brust. Dieser schaute aufgeregt nach draußen. „Siehst du was Großer?“
„Nein, die scheinen alle irgendwo anders unterwegs zu sein.“ Murphy nickte zustimmend und schaute sogleich wieder auf die düstere Straße vor ihm. An den Seiten türmten sich regelmäßig gespenstische Bäume und Häuserreihen auf. „Was ist mit meinen Eltern Chief?“ Sean sagte das, während er geistesabwesend aus dem Fenster blickte. „Für die können wir leider im Moment gar nichts tun. Vielleicht haben sie das Dorf ja auch schon verlassen.“ Murphy versuchte mit beruhigender Stimme zu reden. Der Junge hatte schon genug durchgemacht.
„Ja vielleicht“, erwiderte Sean und drehte sich dann zum Fahrer.
„Was ist mit ihrer Familie Chief?“ Sean fragte unverhohlen und ehrlich. Es war ein offenes Geheimnis unter den Dorfbewohnern, dass Murphy aufgrund eines tragischen Unglücks nach Snow Field versetzt wurde. Niemand hatte ihn bisher danach gefragt.
„Meine Frau und meine Eltern sind vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall umgekommen“, sagte er mit gespielt harter Stimme. Sean sah ihn fassungslos und traurig an.
„Jane war im sechsten Monat schwanger. Wir hatten uns so auf dieses Baby gefreut.“ Murphys Stimme brach in der Hälfte des Satzes zusammen. Eine Träne lief langsam seine Wange hinunter. „Verdammt, aber warum erzähl ich dir das überhaupt. Schau lieber wieder auf die Straße und sag mir wenn du was siehst“, sagte er im Befehlston während er sich hastig die Handfläche durchs Gesicht zog..
Sean gehorchte und fragte nicht mehr. Die Tränen sagten sowieso mehr als tausend Worte. Er schaute wieder aus dem Fenster und bemerkte sogleich eine große Gestalt, die urplötzlich mitten auf der Straße auftauchte. „Chief, geben sie Gas“, schrie er, während Murphy das Hindernis erst gerade erblickte. „Festhalten Kinder“, sagte er und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. „Geh bloß weg da“, fluchte er lauthals, während der Wagen mit 90 Sachen auf die Gestalt zuraste. Kurz vor dem Aufprall erhellte ein gleißend weißes Licht die Umgebung. Die Insassen des Autos wurden geblendet und im nächsten Moment wurde die Vorderfront des Wagens zusammengepresst. Das Glas zersplitterte an allen Seiten. Emily und Sean wurden nach vorne geschleudert. Dabei konnte er die Knochen des Mädchens brechen hören, als deren Kopf mit voller Wucht gegen das Armaturenbrett knallte. Im nächsten Augenblick wurde dem Jungen schwarz vor Augen.
Das brennende, zusammengepresste Polizeiauto stand knisternd und lodernd in der Dunkelheit. Die verformte Fahrertüre wurde durch zwei beherzte Tritte aufgeworfen.
Murphy kroch blutend und keuchend aus dem Wrack. Der harte Asphalt kühlte seine Brandwunden. „Sean...Emily. Seid ihr beiden okay?“, fragte er kaum merklich. Niemand antwortete ihm. Alles was er hörte war das laute Knistern des Feuers. Die Umgebung um ihn herum begann langsam zu verschwimmen. Seine Sinne vernebelten sich, als er plötzlich ein verwaschenes Gesicht über ihm sah. Irgendjemand redete auf ihn ein. Er hörte die Worte nur sehr undeutlich. Spürte, wie ein leichter Schmerz seine Wangen durchlief, als dieser Jemand ihm eine Backpfeife gab.
„Verdammt Chief, reden sie mit mir. Werden sie schon endlich wach“, forderte Sean, der weinend und unter Schmerzen über Murphy harrte. Emily lag leblos und blutend vor ihm auf der Straße. Der Aufprall hatte ihr zuerst den Schädel zertrümmert und sie dann durch die offene Scheibe geschleudert.
Murphy aber zeigte nun langsam eine Reaktion. Seine Augen fixierten wieder. Dann presste er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand auf den Hinterkopf.
„Sean, was ist passiert? Ist Emily verletzt?“
Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf, während seine Gesichtszüge vor Trauer entgleisten. „Sie ist tot Chief“, sagte er mit weinerlicher Stimme. Murphy drehte sich zur Seite und kniff die Augen zusammen. Die Tränen fanden trotzdem den Weg nach draußen.
„Wir müssen sofort von hier verschwinden“, sagte er und half Murphy zügig auf die Beine. Er stützte ihn so gut er konnte und beide entfernten sich schwerfällig vom brennenden Autowrack. Ihre Blicke waren starr geradeaus gerichtet, als sie an Emilys leblosem Körper vorbeikamen. Nach ein paar Metern blieben beide abrupt stehen. Das lodernde Feuer hinter ihnen erhellte die gesamte Umgebung. Etwa fünf Meter vor ihnen stand eine große Gestalt auf der Straße. Dahinter waren die Konturen von vielen Menschen zu erkennen. Unzählige Augenpaare leuchteten ihnen boshaft entgegen.
„Was ist das Chief“, fragte Sean mit bebender Stimme. Murphy antwortete nicht. Sein Blick war apathisch auf das gehörnte Wesen gerichtet, dessen blutrote Augen ihn diabolisch anfunkelten. Zwei riesige, schwarze Flügel ruhten auf dem muskulösen Rücken.
„Er kann dich nicht hören Sean“, sagte es mit tiefem Tonfall.
„Seine Seele ist so überfüllt mit Schmerz, Trauer und Hass. Das kann er jetzt nicht mehr leugnen.“
Auf das diabolische Gesicht der Kreatur zauberte sich ein siegessicheres Lächeln.
„Schau ruhig hin Sean. Schau hin, wie ihn sein eigener Zorn auffrisst.“
Sean zuckte zusammen, als sich in den blauen Augen seines Gegenübers ein blutroter Funke langsam auszubreiten begann.
„Chief? Bitte kämpfen sie. Kämpfen sie dagegen an“, forderte Sean lauthals.
Murphy griff langsam an seiner Hüfte herunter. Er zog die Beretta aus der Halterung und zielte auf Sean.
Der junge Mann schaute ihn erst fassungslos an, fackelte aber nicht lange und rammte Murphy die Faust ins Gesicht. Dieser taumelte benommen zurück, während Sean ihm die Waffe aus der Hand riss und dann mit voller Wucht die Schulter in seine Seite rammte. Murphy ging keuchend zu Boden.
Sean entsicherte den Lauf und zielte in die Richtung dieses Teufels. Dann drückte er ab. Die Kugel aber explodierte, kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatte.
„Keine Chance“, sagte es und lächelte ihm boshaft entgegen. Dann streckte es lässig die Hand nach vorne. Im selben Moment flog Sean die Waffe aus der Hand und landete auf dem harten Asphalt.
„Du bist ein mutiger, gutaussehender Mann Sean. Du weißt wo du hin willst. Das habe ich immer an dir geliebt.“
Seans Blick fixierte das Gesicht der Kreatur. Sein Mund war leicht geöffnet.
„Sie hatte doch Recht Sean. Alles was sie über mich gesagt hatte ist wahr geworden“, sagte es triumphierend, während die schwarzen Schwingen mit einem gewaltigen Flügelschlag aufgespreizt wurden.
„Warum diesen Weg?“, sagte Sean fassungslos.
Der gehörnte Teufel sah ihn nur ausdruckslos an.
„Warum das alles? Du warst dabei dein Leben in den Griff zu kriegen.“ Aus Seans Augen rannen Tränen und sein gutmütiges Gesicht verfinsterte sich.
„Ich hätte dir helfen können. Verdammt, du bist mein bester Freund.“
„Es ist mein Schicksal, welches sich erfüllt hat. Mir konnte keiner mehr helfen. Das hier war von Anfang an vorherbestimmt.“
Sean spürte plötzlich eine große Leere in seinem Herzen. Er ließ sich langsam zu Boden sinken. Seine Hände ruhten auf dem kalten Asphalt. Der Blick aber fixierte weiterhin die monströse Gestalt vor ihm. In seinen Augen schwammen die Tränen.
„Hab ich dir also die ganze Zeit nichts bedeutet? Unsere Freundschaft, weißt du ich dachte die hält für immer“, sagte er resignierend.
Die Kreatur vor ihm lachte einmal laut auf. „Mitleid ist auch eine Form des Leidens. Aber glaub mir, dass alles wird schon bald keine Bedeutung mehr haben für euch Menschen.“
„Nein, kein Mitleid“, sagte Sean schluchzend.
Die Kreatur schaute ihn irritiert an. Ihre roten Augen glänzten nun etwas matter.
„Was denn sonst?“, schnaubte es spöttisch.
Sean sah seinen veränderten Freund mit schwimmenden Augen an. Sein Gesicht war angespannt, trotzdem lief ihm eine vereinzelte Träne über die Wange.
„Ich liebe dich.“
Die Augen des Teufels wurden weit aufgerissen. Seine Muskeln spannten und er krümmte sich nach vorne. Die Flügel schlugen wild durch die Luft. Für einen kurzen Augenblick schaute er Sean aus entschuldigenden, traurig braunen Augen an. Im nächsten Moment ertönte ein lauter Knall und zwischen den Augen der Bestie zeichnete sich ein kleiner, roter Punkt ab. Ihr Körper erschlaffte und sie viel leblos zu Boden.
Sean drehte sich hastig um und sah Sheriff Murphy, der aufrecht stehend und mit erhobener Waffe auf der Straße stand. Sein Augen waren müde. Sein Gesichtsausdruck kühl und emotionslos.
Sean lief zu ihm und konnte ihn gerade noch auffangen, als plötzlich seine Beine schlappmachten und er in sich zusammenknickte.
„Das hast du gut gemacht Großer“, sagte er lächelnd und wurde im nächsten Augenblick bewusstlos.
Die ersten Dorfbewohner kamen zitternd und weinend zu ihnen gelaufen. Einige von ihnen lagen auf der Straße und heulten sich die Seele aus dem Leib, während andere regungslos da standen und auf den Boden schauten.
Die Wolken verschwanden ebenso schnell wie sie gekommen waren und die ersten Lichtstrahlen fielen auf die Häuser.
Sean saß geistesabwesend auf der Straße und hielt Murphy in den Armen, der regungslos an seiner Schulter ruhte. Er musste an Emily denken. An ihre Großmutter. Dann schaute er sich Murphy an und fing bitterlich an zu weinen.
„Vielleicht warst du wirklich ein Erlöser. Aber trotzdem, ich bin glücklich am Leben zu sein“, sagte er leise vor sich hin.
„Ich hoffe, dass du jetzt auch endlich glücklich bist...mein Freund!“
Inspiriert vom Song "Joe Romersa-Hometown"
Mit einem Zitat aus "Silent Hill 3"