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Snatch
Die U-Bahn hielt und Lea betätigte den Türschalter. Eigentlich unnötig, da die Türen sich ohnehin öffnen würden. Aus unerfindlichen Gründen mochte es Lea, die roten und grünen Lichter zu sehen, die leuchteten, wenn man auf die runde Platte drückte.
Ausser ihr war nur noch ein älterer Mann ausgestiegen. Er zog sein Jackett zurecht und ging eilig in Richtung Treppe.
Lea hatte es nicht sonderlich eilig. Trotzdem wollte sie nicht länger als nötig in der verlassenen, unterirdischen Station bleiben und folgte dem Mann.
Oben angekommen suchte sie nach dem gläsernen Schaukasten, hinter dem die Abfahrzeiten hingen. Auf einem alten Kassenzettel notierte sie sich die letzten Möglichkeiten, wieder nach Hause zu fahren. Leider fuhr nur eine Linie in diesen Stadtteil, der weit ausserhalb des Zentrums lag.
Es war bereits dunkel geworden und Lea erblickte keine Menschenseele. Selbst der Mann von vorhin war nirgends mehr zu sehen. Da es doch kälter war als erwartet, bereute es Lea, keine Hose, sondern nur ihren kurzen Rock angezogen zu haben. Sie machte sich auf den Weg. Ihre hohen Absätze klackerten und hallten durch die stille, anbrechende Nacht.
In ihrer Handtasche kramte sie nach einer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Es war die letzte und sie schmiss die leere Packung in einen Mülleimer am Straßenrand. Durch einen Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass sie noch genügend Zeit hatte, um zur Tankstelle zu gehen.
Nachdem sie etwa hundert Meter gelaufen war, hörte sie Stimmen. Lachend unterhielten sich irgendwo Jugendliche über irgendetwas, dass Lea nicht genau verstehen konnte. Nachdem sie noch ein paar Meter weiter gegangen war, sah Lea die Gruppe. Fünf junge Männer. Zwei von ihnen hatten ein Tuch um die Stirn gebunden. Alle trugen weite Hosen, Turnschuhe und silberne Ketten um den Hals. Ihre Haare waren ausnahmslos schwarz und mit viel Gel nach hinten gekämmt. Sie frotzelten herum und boxten sich spielerisch.
Scheiße, dachte Lea und überlegte umzukehren. Aber wohin? Die Straße führte zurück zur U-Bahnstation, es gab keine Seitenstraßen. Dahinten war noch weniger los und die Wahrscheinlichkeit auf andere Menschen zu treffen geringer. Bis zur Tankstelle war es nicht mehr weit und hier gab es wenigstens ein paar Wohnhäuser. Ausserdem wollte sie sich von dieser Gruppe Vollidioten keine Angst einjagen lassen. Wo kommen wir denn da hin, dachte Lea wütend und setzte ihren Weg fort. Wahrscheinlich würden sie sie einfach vorbei lassen und gar nichts würde passieren, versuchte sie sich einzureden. Trotzdem war ihr unbehaglich zumute. Sie nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette und warf die Kippe in einen Vorgarten.
In ihrer Handtasche hatte sie eine kleine Dose Haarspray. Sie nahm sie unauffällig heraus und umschloss sie mit der Hand, die sie zurück in die Manteltasche steckte. Nicht besonders wirksam, besonders nicht gegen fünf Männer. Trotzdem fühlte sie sich nun ein wenig sicherer.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie einer der Männer einen anderern in die Seite stieß und etwas zu ihm sagte. Sie konnte nicht verstehen was, aber der angesprochene Typ sah in ihre Richtung.
Lea beschleunigte ihre Schritte und umschloss die kleine Dose fest in ihrer Hand. Fast hatte sie die Gruppe erreicht, als sie stehen blieben. Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und ging auf sie zu.
"Ey, haste mal ne Fluppe", fragte er und sah sie herausfordernd an.
"Ich hab keine mehr."
Lea versuchte an der Gruppe vorbei zu gehen, aber die übrigen versperrten ihr den Weg. Sie wünschte, sie hätte eben nicht ihre letzte Zigarette geraucht. Dann hätte sie ihm jetzt eine gegeben und wahrscheinlich ihre Ruhe gehabt.
"Sieh an, sie hat keine mehr", sagte der Junge, der sie auch angesprochen hatte und blickte zu den anderen.
"Will wohl keine abgeben", sagte ein anderer mit unzähligen, geröteten und eitrigen Pickeln im Gesicht. Er sah auf den Boden.
"Hey, ich hab wirklich keine mehr. Lasst mich doch einfach durch, ja?"
Lea versuchte unbeschwert zu klingen, konnte aber den unsicheren Klang ihrer Stimme nicht vermeiden.
Sie versuchte weiter zu gehen aber die Typen bildeten einen Kreis um sie, aus dem sie nicht herauskam. Unsicher blieb sie stehen.
"Ist dir eigentlich klar, dass wir dich in die nächste Hecke zerren, in Stücke hacken und dann an Schweine verfüttern könnten?"
Lea sah den Mann an. Ihre Hand schloss sich fester um die kleine Spraydose. Er lächelte. Lea sah in die Runde. Gott, die konnten höchstens sechzehn Jahre alt sein, dachte sie und ihre Faust entspannte sich.
"Wohl zu oft "Snatch" gesehen, was?"
Einen Moment herrschte Schweigen.
"Ist ja krass, du kennst den Film?" unterbrach schließlich einer von ihnen die Stille und grinste sie erstaunt an.
"Ja klar, hab ihn schon dreimal gesehen", bestätigte sie.
"Total abgefahren oder? Am besten fand ich den Typen, der den Gangstertyp gemacht hat", sagte der picklige und die anderen gaben zustimmende Laute von sich.
"Und Brad Pitt als lispelnder Zigeuner war auch nicht schlecht."
"Ey, ich hab kein Wort von dem verstanden was der gesagt hat."
Sie unterhielten sich noch einige Minuten weiter über den Film. Der Junge mit den Pickeln bot Lea schüchtern eine Zigarette an und der Typ der sie als erster angesprochen hatte, gab ihr Feuer. Nachdem sie ihr cooles Gehabe für einen Moment vergessen hatten, waren sie gar nicht mehr so unsympathisch. Und alles andere als angsteinflößend.
"Tja, ich muss dann mal weiter, schönen Abend noch", sagte Lea schließlich.
Die Jugendlichen machten ihr Platz und sie setzte ihren Weg zur Tankstelle fort. Sie kam sich selber ein wenig lächerlich vor, als sie die Minidose Haarspray wieder in ihrer Handtasche verstaute.