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Smooth
Smooth
Olivia steckte ihre Hände in die Jackentaschen und schaute auf – die Straßenbahn ließ heute mal wieder lange auf sich warten. Ein kurzer Blick auf die Uhr, und ihr wurde klar, dass sie es nicht mehr rechtzeitig zum Beginn der Geographiestunde schaffen würde.
„Egal“, sagte sie laut. „Egal“, wiederholte sie und spuckte ihren Kaugummi millimetergenau neben den Zigarettenstummel auf dem Bürgersteig. Wenn es etwas gab, worin keiner so gut war, wie Olivia, dann war es Kaugummispucken. Nur war sie heute nicht besonders stolz darauf. „Man wird selbst der schönsten Dinge satt, wenn man sie täglich erlebt“, dachte sie, „und das bezieht sich ja wohl nicht nur auf das Kaugummispucken.“ In Olivias Kopf spukte „Smooth“ von Santana herum.
„In ev´ry rhythm, ev´ry word I hear your name calling me out…”
Sie stampfte mit dem Fuß auf, scheinbar in der Hoffnung, das Lied dadurch zu vertreiben. Aber es half nichts.
„It´s the same as the emotion that I get from you...“
Olivia zuckte mit den Schultern und musste plötzlich an Mary denken. Olivia war ein Jahr jünger, obwohl sie beide in die selbe Klasse gingen. Trotzdem merkte man das kaum, wenn man Mary mit Olivia verglich. Mary war mit ihren 14 Jahren noch so kindisch wie ein Achtjährige. „Psychisch und physisch“, dachte Olivia und musste lächeln. Sie liebte dieses Klang- und Buchstabenspiel. Außerdem passte es genau zu Mary. Diese hatte weder auch nur den leistesten Anschein von Brüsten oder sonstigem, noch konnte man ernsthaft mit ihr reden. Manchmal fühlte Olivia sich neben ihr um Jahre älter. Olivia stampfte wieder mit dem Fuß (sie machte das ziemlich oft) – der Gedanke an Mary war vergleichbar mit einem ausgeleierten Gummiband. Oder mit einem kaputten Reissverschluss. Oder mit einer gerissenen Perlenkette.
Sie hörte den Motor des Busses. „Hoffentlich“, dachte sie, „hoffentlich sitzt Ally da drin.“ Ally ging in die Parallelklasse und war - Olivia konnte gar kein Wort dafür finden. Jedenfalls hatte Ally Stil, Witz, Klasse. Und die gleiche Art von Humor wie sie. Olivia liebte es, mit Ally zu reden. Sie konnte wirklich zuhören. Und Ally wiederum liebte es, mit Olivia zu reden, weil diese zuhören konnte. Sie lagen sozusagen auf einer Wellenlänge (auch, weil sie beide diesen Ausdruck hassten). Eins aber hatte Ally, was Olivia nicht hatte – Freunde. Zwar hatte Olivia einige Freundinnen, aber Freunde – Jungen - hatte sie nicht. Ally war genau das Gegenteil - wenn es etwas gab, das Ally konnte, dann war es mit Jungen umgehen. Der halbe männliche Teil der Parallelklasse waren Kumpel von Ally. Olivia hätte liebend gern mit ihr getauscht. „Tausche Fähigkeit, Kaugummis zu spucken, gegen Fähigkeit, mit Jungen normal reden zu können“, dachte sie und seufzte. Der Bus hielt ein paar Meter weiter. Aber die Lust, Ally zu treffen, war Olivia auf einmal vergangen. Jetzt wollte sie nur alleine sein und zu verstehen versuchen, warum sie nicht in der Lage war, mit Jungen umzugehen.
Sie sah Andi, Allys zweitbesten Freund, mit seiner Mutter aus dem Bus aussteigen, und schaute schnell weg. „Genau das ist es“, dachte sie verstimmt. „Ally würde zu Andi hingehen und Hallo sagen.“ Sie schaute auf ihre Uhr. Noch drei Minuten bis zum Läuten. „Egal“, wollte sie sagen, tat es dann aber doch nicht. Obwohl es ihr wirklich egal war. Die Straßenbahn kam. Andi stieg mit seiner Mutter in den hinteren Waggon ein – und Olivia – absichtlich - in den vorderen. „Genau das ist es“, dachte sie wieder, „Ally würde...“ Sie stampfte wieder mit dem Fuß auf. Diesmal aber aus Bitterkeit. Olivia konnte sich wirklich in Sachen hineinsteigern. Sie verbrachte die Fahrt damit, „Smooth“ aus ihrem Kopf zu verdrängen. Das schaffte sie dann auch, aber an dessen Stelle trat „Do you know the way to San Jose?“. „Do you know the way to San Jose, I´ve been away so long, I may go wrong and lose my way…” Olivia hatte andauernd irgendwelche Ohrwürmer.
Die Straßenbahn steckte im Stau. Als Olivia ausstieg, war es schon zehn Minuten nach dem Läuten, und sie musste noch ein ordentliches Stück zu Fuß gehen. Als sie an der Ampel wartete, stand Andi direkt neben ihr und schaute seinerseits weg. Die Ampel sprang auf Grün, und Olivia stampfte leicht mit dem Fuß auf. „Es ist einfach lächerlich“, dachte sie, „wie wir beide in verschiedene Richtungen schauen. Und es ist lächerlich, zu denken, „Ally würde...“ Komm schon, Olivia, tu etwas!“ In diesem Moment hörte sie sich „Hallo!“ sagen.
Andi schaute sie endlich an und sagte ebenfalls „Hallo“. „Es sieht so aus, als ob er erleichtert wäre, dass ich ihn angesprochen habe“, dachte Olivia und fragte: „Laufen wir?“ „Nein“, sagte Andi, „ist doch schon egal.“ Olivia lächelte leise. Den Rest des Schulwegs redeten sie. Worüber, konnte Olivia sich nur schwer erinnern – über Klassenbucheinträge und Ohrwürmer, glaubte sie. Jedenfalls sang sie Andi dann das Lied vor, dass in ihrem Kopf spielte:
„I´ve got lots of friends in San Jose, I´m going back to find some peace of mind in San Jose...“
Als die beiden jeder vor seiner Klassentür stand, sagte Olivia: “Wir zählen bis drei und gehen gleichzeitig hinein, ok?” Andi grinste, und sie zählten gemeinsam: „Eins... zwei... drei...“ Dann machten sie die Türen auf. Olivia betrat ihre Klasse, und für einen Bruchteil einer Sekunde erstarrte sie. Alle 30 Schüler und ihre Geographielehrerin schauten sie an, und sie schaute ins Ungewisse. In ihrem Kopf spielte sich rasend schnell der ganze Schulweg ab, sie dachte daran, wie verzweifelt sie gewesen war, sah Andis fröhliches Gesicht vor sich. Und dann musste Olivia lachen. Alle 31 Leute in dem Raum schauten sie ratlos an, und sie lachte. Olivia war glücklich.