Mitglied
- Beitritt
- 13.01.2018
- Beiträge
- 2
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Smolne
Er konnte die beiden Autos schon von Weitem hören. Der Feldweg war nach dem Regen aufgeweicht und die Schlaglöcher hatten sich in schlammige Pfützen verwandelt. Juri war gerade fertig geworden, das Haus für seine Gäste vorzubereiten. Die Böden waren noch nass vom Wischen, die Betten gemacht und das Kaminholz ordentlich neben dem Ofen gestapelt.
Das kleine Fachwerkhaus für seine Gäste vorzubereiten war für Juri zur Routine geworden. Es hatte ihm einmal gefreut, Menschen aus aller Welt zu empfangen und ihr Strahlen in den Augen zu sehen, wenn sie das Haus betraten. Er hatte das Haus auf dem Land vor 10 Jahren von einem entfernten Verwandten geerbt und sich mit seiner Frau entschlossen her zu ziehen. Er hatte viel Arbeit investieren müssen, aber Stück für Stück hatte er das Haus wieder auf Vordermann gebracht. Patrizia hatte damals mit großer Freude jedes einzelne der Zimmer dekoriert. Zierdecken, Häkeldeckchen, Tagesdecken, Kerzen, Püppchen, alte Sessel und vielerlei Kitsch hatte sie auf den Flohmärkten der umliegenden Dörfer gekauft und jede Ecke des Hauses damit gefüllt. Das waren schöne Zeiten. Zeiten in denen er und sie noch lachten.
Die beiden Autos bogen bereits auf den Hof ein, als Juri die letzten Handgriffe beendete. Mit schweren Schritten ging er zur Tür und zwang sich ein freundliches Lächeln auf, als er die Eingangstür öffnete. Im Hof standen ein silberner Opel und ein rotes Cabriolet. “Städter”, dessen war er sich sicher. Die Buchung kam von einigen jungen deutschen Studenten, welche ein gemeinsames Wochenende auf dem Land verbringen wollten.
Die jungen Leute strömten ins Haus, schüttelten alle artig Juris Hand und waren sofort begeistert. Das gemütliche Wohnzimmer! Die Küche! Der Kamin! Sie lachten und Juri zeigte ihnen die Zimmer eins nach dem anderen. Nachdem er alle wichtigen Punkte erklärt hatte, ließ er seine Gäste allein und machte sich auf den Weg zu seiner Hütte am Waldrand. Patrizia wartete bereits mit dem Mittagessen. Auf halbem Weg zu seiner Hütte bemerkte er etwas in seinem Augenwinkel. Er wandte seinen Blick dorthin, wo die weite Wiese von den ersten Bäumen des angrenzenden Moors besäumt wurde. Dort sah er sie stehen. Jemand Anderes wäre weiter gegangen, hätte den flatternden schmutzig grauen Rock für Heidekraut, die wirren Haare für Gestrüpp und die verdrehten Arme für knorrige Äste gehalten. Aber er spürte Ihren Blick. Juri wusste was Sie wollte und es schauderte ihn. Mit einem knappen Nicken drehte er sich wieder seiner Hütte zu und seine Schritte stapften schwer durch den Morast.
Gegen Einbruch der Dunkelheit waren die Fenster im Ferienhaus hell erleuchtet. Seine Gäste waren zusammen in der Kaminstube und feierten. Spät am Abend ging Juri noch Kaminholz holen und warf einen Blick durch eines der Fenster. Sie saßen alle gemeinsam am Tisch und tranken guten Wodka. Sie lachten viel und scherzten. Ihre jungen Stimmen weckten Erinnerungen in ihm und er wünschte sich mit ihnen zu feiern und zu lachen. Aber er wusste das dies unmöglich war. Sein Lachen war vor Jahren verstummt und seine Augen hatten all ihren Glanz verloren. Wie eine Motte vor der Kerze schaute er aus dem Dunkel der Nacht in das erleuchtete Fenster und wartete in der Kälte, bis seine Gäste zu Bett gingen.
“Schlaft gut”, sagte er leise und ging den Weg zu seiner Hütte zurück.
“Warum Juri, warum?”, fragte Patrizia.
Sie hatte es gespürt. Den steinernen Blick in seinem bärtigen Gesicht. Seinen fehlenden Appetit beim Frühstück und den Geruch von Wodka in seinem Atem. Mit einer müden Handbewegung wischte er ihre Frage aus der Luft.
“Was fragst du das mich? Frag das Sie”, sagte er still und zeigte aus dem Küchenfenster.
Das Fenster mit den schweren Vorhängen. Das Fenster hinten hinaus. Mit Blick auf den Wald. Mit Blick auf das Moor.
Seine Gäste hatten lange geschlafen. Erst gegen Mittag sah er Bewegung in den Fenstern. Er stellte sich vor, wie sie mit müden Augen und dem ersten warmen Kaffee vor den Überresten der letzten Nacht saßen. Juri aber hatte zu tun. Holz hacken, den durchbrochenen Zaun an der südlichen Koppel reparieren und das Küchenfenster zunageln. Patrizia hatte gestern lang geweint und er hatte sie im Arm gehalten. Weniger aus Mitgefühl, denn mehr aus Pflichtbewusstsein. Nicht weil er sie nicht liebte, sondern weil es ihm kalt war in solchen Nächten und sein Herz stumm. Mit verweinten Augen hatte sie ihn gebeten weg zu ziehen, aber davon wollte er nichts wissen. Mit dem Besitz des Hauses kamen gewisse Verpflichtungen. Verpflichtungen denen man nicht entsagen konnte, auch wenn man wollte. Er hatte Patrizia versprochen, das Fenster zuzunageln. Das Fenster mit Blick auf den Wald. Mit Blick auf das Moor.
Später am Nachmittag, als er gerade neue Pfosten in den feuchten Boden trieb, sah er die jungen Leute über den alten Feldweg Richtung Wald laufen. Sie hüpften den Weg entlang, um mit ihren schicken Turnschuhen nicht im Morast zu versinken. Er sah ihnen nach, bis sie hinter der Biegung verschwanden, seufzte und wandte sich wieder seinen Pfosten zu.
Zwei Stunden später sah er sie den selben Weg wieder zurückkommen. Erst kurz bevor sie auf seiner Höhe waren entdeckten sie ihn in seiner schmutzigen Arbeitskleidung. Juri nickte in Ihre Richtung.
“Na, hattet ihr ein schönes Abend?”, fragte er mit gebrochenem Deutsch.
“Ja, ich hoffe wir waren nicht zu laut?” erwiderte eines der Mädchen und lächelte etwas unsicher.
“Nein, nein, alles gut, alles gut”, brummte Juri.
Er zeigte mit einem schmutzigen Finger den Feldweg hinauf.
“Ihr gingen spazieren?”, fragte er.
“Äh, Ja. Genau. Ein bisschen die Gegend erkunden und frische Luft schnappen”, bekam er als Antwort.
“Ah, gut gut. Aber geht nicht ins Moor”, sagte Juri.
“Ist es dort gefährlich?” fragte das junge Mädchen unsicher.
Juri blickte den Feldweg hinauf. Dort wo die kahlen Bäume dichter wurden und der Boden schmatzte, wenn man über ihn ging. Dort wo das Heidekraut im Wind flattert und rotbraunes Wasser die Teiche füllt. Dort wo knorrige Äste schwarz vorm grauen Himmel hängen und das Flüstern zwischen den Gräsern deinen Namen kennt. Er schwieg eine Weile und drehte sich seinen Gästen zu.
“Ja”, sagte er leise.
Diese Nacht hatte Juri einen Traum. Er war im Gästehaus und brackiges Wasser stand ihm bis zu den Knöcheln. Alles war feucht und von der Decke tropfte es beständig auf ihn herab. Die ehemals weißen Wände waren braun und schmutzig und der Putz hatte Risse und bröckelte. Alle Lichter waren erloschen und der Mond schien fahl durch die Fenster. Auf den verblassten Fotos im Wohnzimmer schauten ihn längst verstorbenen Verwandte mit angewiderten Blicken an. Juri watete wie ein Schlafwandler durch das Erdgeschoss. In der Eingangshalle blickte er die lange Treppe hinauf von der das braune stinkende Wasser die Stufen hinab lief und zögerte. Er wollte nicht. Er wollte die Stufen nicht hochsteigen aber er wusste, dass es keinen anderen Weg gab. Die Träume waren immer gleich und egal wie er sich wand sie endeten alle auf dieselbe Weise. Mit einem satten Schmatzen hob er seinen Fuß und setzte ihn auf die erste Stufe. Es platschte als er die Treppe hinaufstieg. Oben angekommen blickte er sich um. Ein leises Gurgeln drang aus einem der hinteren Zimmer zu ihm. Das Wasser wallte, als er die morsche Tür knarrend aufschob. Dann sah er sie. Dort lagen die jungen Leute. Ihre trüben Blicke waren gen Decke gerichtet und aus ihren Mündern quoll das braune Wasser. Das Wasser aus dem Wald. Das Wasser aus dem Moor.
Juri erwachte schweißgebadet. Er lag auf dem Ehebett und von seinen schmutzigen Stiefel waren braune Flecken auf dem weißen Laken. Es war bereits nach Mitternacht und Patrizia hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Er aber wusste, dass sie wach lag. Sie konnte nie schlafen in diesen Nächten. Er stellte sich vor, wie sie sich das Kissen fest über den Kopf drückte, nachdem er in die Dunkelheit hinaus gegangen war. In einer anderen Nacht hätte er Mitgefühl für sie gehabt. Aber heute Nacht gehörte sein Herz nicht ihr. Sein Herz gehörte dem Wald, gehörte dem Moor.