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Smirk
Lachen. Sofort duckte sie sich. Ein Klicken an der Tür und zumindest drei verschiedene Männerstimmen, soweit sie es ausmachen konnte. Hektisch sah sie sich im Raum um. Auf der Suche nach einem Versteck. Der große Holzfurnierschrank war zu gefährlich. Dort würden sie als erstes reinsehen, so viel war klar. Unter dem Bett war wohl die einzige Option, auch wenn es, so viel wusste sie noch aus ihrer Kindheit und dem Fernsehen, nicht gerade das beste Versteck war. Vorsichtig und möglichst bedacht darauf, keinen Laut von sich zu geben, robbte sie unter das altmodische Ehebett. Ob die Besitzer wohl noch am Leben waren? Waren sie glücklich miteinander oder fühlte sich ihre Ehe leer und sinnlos an und sie schliefen nur aus Gewohnheit und mangelndem Mut gemeinsam auf dieser übergroßen Matratze? Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben während sie im Dunkel auf den Lattenrost starrte. Beinahe hätte sie gekichert. Merkwürdig, was diese Welt aus einem macht aber was bleibt denn noch außer den imaginativen Leben irgendwelcher Leute? Die Stimmen wurden lauter und das Knarzen der Treppe, ließ darauf schließen, dass die Gruppe wohl ihren Weg nach oben und zum Schlafzimmer gefunden hatte.
„Mann oh Mann, das muss aber ein ganz nettes Spießerpärchen gewesen sein, was?“, schnaubte einer der Männer beim Betreten des Raums. Es waren vier. Vier Paar Stiefel, die im Zimmer verteilt standen. „Ha, seht euch das Bild mal an! Drei Kinder und so eine Frau, für den müssen die Bomben damals doch fast ein Glück gewesen sein.“ Zwei der Männer prusteten los. Sie durchsuchten die Kommode, den Schrank, das Nachtkästchen aber sie schienen nichts zu finden. Kein Wunder, es war ja auch schon jemand vor ihnen hier. Sie umklammerte ihren Rucksack und schloss die Augen. Gleich war es vorbei, überstanden, und sie konnte wieder ihrer Wege gehen. „Los, da ist nix zu finden, schade, hätte zu gern gesehen was aus dem armen Kerl geworden ist.“ Unter lautem Gelächter marschierten sie raus. Sie entspannte sich langsam. „Ich komm gleich nach“, ertönte dann eine jüngere Stimme. Ihn hatte sie noch nicht gehört. „Willst wohl etwas Privatsphäre mit der Alten des Typen was?“ posaunte einer der anderen. „Ja klar“ sagte der Jüngere mit genervtem Unterton. „Wartet unten auf mich.“ Er stand einfach nur so da, bis das Knarzen der Treppen aufhörte. Er bückte sich, hob die sorgfältig ausgebreitete Tagesdecke etwas hoch und sah unter das Bett. Ihre Blicke begegneten sich. Er war ungewöhnlich gepflegt, für Zeiten wie diese, vermutlich gehörten sie zu einer größeren Gruppe. Ihr Atem stockte. „Scheiße“ flüsterte sie und durchforstete sein Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, was er nun mit ihr vorhatte. Es war kein einfältiges und grobschlächtiges Gesicht, wie das der meisten, mit denen sie im Laufe der Jahre unangenehme Begegnungen hatte. Eher ein freundliches mit lachenden Augen. Er grinste und hob seinen Zeigefinger vor die Lippen. Dann stand er auf und ging.
* *
Fünf Wochen war es schon her, dass sie das letzte Mal einem Menschen begegnet war. Noch immer kreisten ihre Gedanken rund um den jungen Mann. Warum hat er sie davonkommen lassen? Warum hat er sie nicht verraten? Sie würde es wohl nie erfahren. Noch einmal dankte sie allen Göttern, die ihr einfielen, so denn überhaupt auch nur einer von ihnen existierte. Wer weiß schon, was diese Leute sonst mit ihr gemacht hätten. Die Zeiten waren nicht gerade leicht für Frauen und schon gar nicht, wenn sie alleine unterwegs waren. Ganz abgesehen von der Beute, die ihr entgangen wäre. Grinsend ließ sie den Rucksack auf den Boden gleiten und wühlte den Geigerzähler hervor. „Ein langes und gesundes Leben kann ich mir wohl abschminken, aber man kann nie vorsichtig genug sein“, sagte sie sich selbst und näherte sich dem kleinen See, der ruhig und glänzend inmitten verfallener kleiner Steinhütten lag. Vielleicht eine Tourismusanlage, ein 5-Sterne-Resort. „Für Sie nur das feinste vom Feinen, meine Liebe und das Beste: die Übernachtung ist heute und nur für Sie völlig kostenfrei!“, sagte sie schmunzelnd. Vorsichtig entledigte sie sich ihrer Kleider, warf ihre Habseligkeiten schwungvoll vor eine der Hütten und warf sich ins Wasser. Das laute Klatschen, als sie mit ihrem Körper das Wasser verdrängte, durchbrach die unendliche Stille. Sie ließ sich langsam tiefer und immer tiefer ins Wasser sinken, bis sich Mund, Nase, Augen, ihr ganzer Körper unter der glitzernden Oberfläche befand. Mit angehaltener Luft und paddelnden Armen trieb sie knapp über dem Grund. Erst als ihre Lunge sich schmerzhaft zusammenkrampfte und nach Luft rang schoss sie zurück nach oben. Ich lebe noch, dachte sie und ließ sich noch eine Weile von dem sanft wogenden Wasser treiben.
* *
Sie wusste nicht, was sie sich dabei gedacht hatte, normalerweise kehrte sie nie an Orte zurück, an denen sie schon gewesen war und erst recht nicht, wenn sie im Gebiet größerer Gruppen lagen. Geduckt spähte sie durch die Hintertür in das kleine Einfamilienhaus. Niemand da. „Blöde Idee, blöde, blöde, blöde Idee“, rügte sie sich selbst. „Du hast nicht überlebt, weil du irgendwelchen Impulsen gefolgt bist.“ Sie wollte schon umkehren, als ein leises Räuspern sie im Wenden erstarren ließ. „Ich wusste, du würdest wiederkommen.“
* *
Sie wusste nicht viel über ihn oder wer er davor war. Es war aber auch nicht wichtig. Sie hatte ihn Smirk getauft, weil seine Augen immer zu lächeln schienen, auch wenn sie seinen Mund hinter dem vorgebundenen Tuch nicht sehen konnte. Es war seine Art der Kommunikation und die konnte ihr nur recht sein. Sie legte auch nicht besonders viel Wert darauf zu reden.
* *
„Ich muss es wissen“, sagte sie eines Tages, als sie zusammen am Feuer saßen und einen dicken Hasen, den sie mit ihrem provisorischen Bogen gejagt hatten, aßen. Erwartungsvoll sah er sie an. Immer noch mit einem Lächeln in den Augen. „Warum hast du mich nicht verraten? Woher wusstest du, dass ich genau an diesem Tag wiederkommen würde? Warum?“, sie schleuderte die Fragen beinahe hinaus, solange hatten sie ihr auf der Seele gebrannt.
„Ich wusste es nicht, ich hab es gehofft.“
„Warum warst du dann genau an diesem Tag da? Zufälle gibt es nicht“, zischte sie misstrauisch.
Er lachte, nun nicht mehr nur mit den Augen, sondern auch mit dem Mund, ein lautes und fröhliches Lachen.
„Ich war jeden Tag da, seit ich dich unter dem Bett gefunden hab und hab gehofft, dass du vielleicht irgendwann zurückkehrst.“
Sie sah ihn lange und eindringlich an, versuchte aus seinem Gesicht abzulesen, was seine Beweggründe waren. Vergeblich.
„Ich verstehe nicht ganz warum, warum solltest du das tun?“
„Ich weiß nicht, ich hatte so ein Gefühl. Die Menschen, mit denen ich unterwegs war, sie waren meine Freunde aber was diese Welt aus ihnen gemacht hat ...“ Er stockte, für einen Moment lag eine gewisse Traurigkeit in seinem Blick, als müsste er eine Last tragen, einen Sack voller großer Steine, den er hinter sich her schleift und dessen er müde geworden ist. Doch es war nur ein Moment, ein Augenzwinkern lang, dann sah er ihr in die Augen und das Lächeln kehrte zurück.
„Warum bist du alleine? Wenn wir hier schon eine Fragerunde machen, darf ich auch mal etwas über dich erfahren", sagte er und lachte fröhlich.
„Ich war nicht immer allein“, sagte sie ruhig und richtete den Blick stur auf ihr Essen. „Das ist alles, was du wissen musst.“
* *
„Wir sollten in die Stadt gehen“, sagte er mit Blick auf die verrostete Autobahnbeschilderung. Es war, sogar nach dieser ganzen Zeit, noch immer ein seltsames Gefühl auf diesen Breiten Straßen, voller Autos, zu Fuß unterwegs zu sein. „Eine riesengroße Fundgrube“ nannte er es, sie bevorzugte „Schrottplatz“. Sie hatten es alle furchtbar eilig gehabt, als die Sirenen losgingen. Neugierig lugte sie durch ein offenes Fenster in ein, damals wohl sehr nobles, Auto. „Was hast du da?“, fragte er, als sie ein vergilbtes und völlig verdrecktes Stück Papier aus dem Handschuhfach zog. Vorsichtig wischte sie mit der Handfläche darüber. „Meinst du sie haben es geschafft?“, fragte sie nachdenklich, während sie das Foto in den Händen drehte. Eine lachende, junge Frau mit einem runden Bauch, den sie zärtlich mit der Hand umfasste. „Sie war wunderschön“, flüsterte sie.
„Du kannst aus ihrer Geschichte machen, was du willst“, sagte er und lächelte.
„Vielleicht fällt dir ein schönes Ende für sie ein“. Sie steckte das Foto vorsichtig in ihre Hosentasche. „Ich werde mich an dich erinnern, für den Fall, dass es sonst keiner tut“, sagte sie leise und nickte in Richtung des Schildes „Also gut, dann nehmen wir die nächste Ausfahrt.“
* *
„Wir müssen vorsichtig sein“, ermahnte sie Smirk, als die Stadt in Sicht kam. „Wir gehen rein, durchsuchen ein paar Häuser, nehmen was wir kriegen können und verschwinden, sobald wir auch nur ein Anzeichen sehen, dass sich hier außer uns noch andere aufhalten.“ Er sah sie von der Seite mit seinen lachenden Augen an und nickte.
Sie hatten bereits einige kleine Häuschen am Rand der Stadt nach alten Konserven und sonstigem Brauchbarem durchsucht, als sie Stimmen aus einer Seitengasse vernahmen. „Verdammte Schlampe, sieh dir das an! Die hat mir fast den Finger abgebissen!“, knurrte eine wütende, tiefe Männerstimme. Smirk duckte sich und gab ihr ein Zeichen sich nicht von der Stelle zu rühren. Vorsichtig schlich er bis zur vordersten Hauskante. Er bewegte sich wie eine Katze, geschmeidig und lautlos.
„Wirst dir jetzt wohl nicht von so ´nem kleinen Miststück sagen lassen wo´s lang geht“, lachte ein anderer.
Sie würde zu gern einfach rennen, rennen und niemals zurück sehen, vergessen, dass hier überhaupt jemand außer ihnen war, aber Smirk schien ihr Gefühl nicht zu teilen, er lugte um die Ecke, drehte den Kopf und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Seine Augen lachten nicht, vielmehr lag eine Entschlossenheit in ihnen, die sie förmlich mitriss. Sie zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf den Bogen. Ihre Finger striffen sanft über die borstigen Federn. Smirk zog ein kurzes, aber gefährlich blitzendes, Messer aus der Halterung an seinem Gürtel. Ihre Hände schwitzten und in ihren Ohren ertönte ein lautes Surren, ihre Muskeln spannten sich an. „Jetzt“ flüsterte er und sie schossen um die Hauskante.
Die Zeit schien stehen zu bleiben. Sie sah das Mädchen, ihre zerrissenen Kleider, das verdreckte, fast animalische Gesicht, die beiden Männer die sich vor ihr aufgebaut hatten und ihr den Fluchtweg versperrten. Wie von selbst zog sie die Sehne des Bogens an, bis Zeige- und Mittelfinger ihre Nase fast berührten. Noch bevor einer der Fremden reagieren konnte, ließ sie die Sehne los. Sie schnellte nach vorne und beförderte den Pfeil mit einem Tempo, das das Auge fast nicht mehr erfassen konnte, auf die Männer zu.
Langsam, fast wie in Zeitlupe sank dieser zu Boden. Eine kleine Lache Blut bildete sich rund um seinen durchbohrten Hals. Der zweite Mann sah ihm dabei zu, als wäre er völlig unbeteiligt, als würde er gar nicht verstehen, was hier gerade passiert war. Er starrte ihn einfach nur wie paralysiert an.
Das Mädchen erholte sich schneller aus ihrer Erstarrung, sie drehte sich um und rannte. Sie rannte und rannte, bis sie keiner von ihnen mehr sehen konnte. Erst da begann der Zweite sich langsam zu rühren. Er hob den Kopf und sah zu ihr und Smirk auf. Es lag keine Trauer in seinem Gesicht, nur Überraschung. Er nahm seine Mütze vom Kopf, wischte sich über sein, mit Schweißperlen bedecktes, Gesicht und sagte „Fuck, da habt ihr uns ja echt voll erwischt.“ Sie nahm noch einen Pfeil aus dem Köcher und zog die Sehne an. „Sieht so aus“, sagte sie und ließ den Pfeil nach vorne schnellen, während sich die wulstigen Lippen des Mannes zu einem Grinsen, das seine braunen, abgebrochenen Zähne entblößte, formte. „Danke“, glaubte sie, von seinen Lippen ablesen zu können, als der Pfeil sich zwischen seine Augen bohrte. Blutspritzer landeten auf der Wand neben ihm. „Gott hat uns verlassen“ stand dort in dicker blauer Schrift. Was für eine Ironie, dachte sie und setzte sich langsam in Bewegung. Smirk folgte ihr. Sie durchsuchten die Taschen und Jacken der Männer. Sie hatten nicht viel dabei, 2 Messer und eine Brieftasche. Erst bei genauerem Hinsehen, entdeckte sie das Foto, das in der Innentasche des Mantels von Mann Nummer Zwei, sorgfältig verstaut war. Sie ließ ihre Hand vorsichtig in ihre Hosentasche gleiten und holte das Foto der jungen Frau hervor. Es war fast das gleiche, nur war sie auf diesem dünner und sah erschöpft aus. Smirk legte seine Hand auf ihre Schulter. „Es ist nicht deine Schuld“, flüsterte er. Das wusste sie. „Und doch habe ich eine Wahl getroffen“, sagte sie und erhob sich langsam. Tränen rannen über ihre Wangen, aber sie war nicht traurig. Ihr war nur übel, so übel, dass sie glaubte sich übergeben zu müssen.
* *
Es war nun bestimmt schon ein Jahr her. Sie hatte aufgehört, die Tage zu zählen, seit sie ihm begegnet war. Im Nachhinein wusste sie auch nicht mehr, warum sie es überhaupt jemals getan hatte. Als ob es ein Ende gäbe, etwas worauf man hinzählen, hinwarten könnte. Langsam hatte sie sich daran gewöhnt, nicht mehr allein zu sein, jemanden zu haben, mit dem sie die Last teilen konnte.
Sie schaukelten nebeneinander auf einem kleinen Spielplatz, den sie am Stadtrand gefunden hatten. Am Boden lagen alle möglichen Papierfetzen, Zeitungen, Magazine, alles was der Wind über die Jahre so in seine Fänge bekommen und durch die Stadt getragen hatte. Eine Überschrift weckte ihre Aufmerksamkeit: „Neuerliche Friedensverhandlungen scheiterten: Regierung ruft zur Evakuierung der Hauptstadt auf!“
„Wo warst du, als die Bomben kamen?“, fragte sie, den Blick noch immer auf die alte Zeitung gerichtet.
„Mittagessen mit meiner Familie, du?“
„In der Schule. Wir hatten eine Schularbeit und ich war völlig unvorbereitet, im ersten Moment kam es mir wie ein Segen vor, als die Sirenen losgingen“, sagte sie und ein verbittertes Lachen entsprang ihrer Kehle. Er nahm ihre Hand und sie schaukelten schweigend nebeneinander her, während sich zwei Raben direkt vor ihren Füßen einen erbitterten Kampf um einen Brotkrumen lieferten.
„Ich liebe dich“, sagte er aus heiterem Himmel und sah sie mit seinen lächelnden Augen an. Sie waren umgeben von Schmutz und Erde aber es änderte nichts an dem Strahlen, das von ihm ausging.
„Ich weiß nicht, ob es auf dieser Welt so etwas wie Liebe gibt“, gab sie zurück und sah ihn ernst an.
„Die Liebe ist das Einzige, das es wirklich gibt, du wirst eines Tages auch bereit sein, das zu verstehen“, sagte er grinsend und beobachtete weiter die Vögel.
* *
Es gab einen großen See, ganz in der Nähe der Stadt, als Kind waren sie, ihre Schwester und ihre Mutter oft dorthin gefahren, erinnerte sie sich. „Der See sieht genauso aus wie früher“, stellte sie fest. „Fast so, als wäre das alles nie passiert.“ Sie lachte.
„Weißt du, manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, ob du überhaupt real bist“, sagte sie.
„Bist du es denn?“
„Ich weiß nicht“, sie knetete ihre Hände und begutachtete die zerschundenen, geschwollenen Ballen.
„Ist es denn wichtig?“, fragte er.
„Nein."
Sie sah ihn an, wie er am Wasser saß und die Füße hineinhängen ließ, das Wasser durch seine Zehen streifen ließ und dabei vergnügt grinste.
„Ich liebe dich auch.“
Er sah auf und strahlte sie an.
„Ich weiß.“