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Smart Love
Die ersten paar Minuten nach dem Aufwachen waren die schlimmsten. Tom spürte, dass Marissa neben ihm saß und ihn beobachtete. Geduldig wie immer. Verflucht, er hasste es, sie so warten zu lassen, aber es dauerte jeden Morgen länger, bis er die Kraft dazu fand, einem neuen Tag gegenüberzutreten. Sie hatte Kaffee mitgebracht, er konnte es deutlich riechen. Früher hatte er das Zeug geliebt, aber jetzt machte es die ständige Übelkeit nur noch schlimmer.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte sie.
„Ja, Schatz“, log er, zwang sich zu einem Lächeln und richtete sich langsam auf.
Sie setzte sich vorsichtig neben ihn auf die Bettkante und Tom legte den Arm um ihre Schultern, während er sich Mühe gab, gegen den Schwindel anzukämpfen.
„Wollen wir über das Begräbnis sprechen?“, fragte Marissa nach einer Weile unsicher.
Das war so ziemlich das Letzte, über das er sprechen möchte. Egal, wie sehr ihnen der Psychologe dazu geraten hatte. Sie sollten es annehmen, hatte er gesagt. Es langsam wahr werden lassen. Aber er traute dem Mistkerl nicht. Tom hatte das Gefühl, dass jeder seiner Ratschläge direkt zu weiteren Sessions führt - und zu weiteren Rechnungen. Langsam schüttelte er den Kopf. Es war ohnehin schon viel zu wenig, mit dem er sie zurücklassen würde.
„Warum setzen wir uns nicht einfach mit dem Kaffee ein wenig in den Garten?,“ fragte er.
„Jetzt schon? Es ist doch erst März …“, begann sie und brach dann ab.
Tom grinste, als hätte sie einen guten Witz gemacht und zögernd erwiderte sie sein Lächeln. Sie beide wussten, dass viel mehr als März wohl ein wenig außerhalb seiner Möglichkeiten lag.
„Carpe Diem, Liebling“, sagte er und griff nach dem DataCube auf seinem Nachttisch. Es war Zeit, ihr von seinem Plan zu erzählen, bevor er mit all den Therapien und Medikamenten noch mehr Kosten verursachen würde.
Hand in Hand traten sie auf die sonnige Terrasse. Es war frisch hier draußen und Marissa warf ihm einen besorgten Blick zu. Er lächelte ihr zu, aber das genügte ihr nicht. Sie brachte ihn bis zu seinem Lieblingssessel und verschwand dann schnell ins Haus, um Decken zu holen. Egal, wie gerne er das gehabt hätte, so richtig Frühling war es wirklich noch nicht. Aber die Sonne schien und als sie wenig später in die Decken gehüllt den Kaffee tranken, hatte Tom das Gefühl, dass man von einem Morgen nicht mehr verlangen konnte. Das hier, dieser Moment - so sollte sie sich an ihn erinnern. Und damit war es entschieden. Es musste heute sein. Langsam griff er in die Tasche seines Morgenmantels und holte den kleinen DataCube hervor. Er stellte ihn auf den Tisch und als Marissa fragend eine Augenbraue leicht in die Höhe zog, schob er ihn ein Stück weiter zu ihr. „Das hier, Liebling, das ist unser neuer Plan.“
Er beobachtete gespannt ihr Gesicht, als sie den DataCube aktivierte und die HoloPräsentation der R.I.E.N. Incorporated sie umhüllte.
Es war später Nachmittag, als Tom schließlich die Empfangshalle der R.I.E.N. Inc. betrat. Er fühlte sich so stark wie schon lange nicht mehr. Die Handvoll Pillen, die er sich eingeworfen hatte, war wohl nicht ganz unschuldig daran. Zumindest musste er nicht befürchten, dass er das morgen bereuen könnte.
Die Eingangshalle war eine funkelnde Welt aus Chrom und auf Hochglanz poliertes Weiß. Richtig viel Weiß. Krankenhausweiß. Aber vielleicht würde ihn mittlerweile alles an ein Krankenhaus erinnern. Selbst die riesigen, farbenfrohen Gemälde an den Wänden wirkten, als müßte man Fröhlichkeit hier an den Wänden festnageln, damit sie nicht die Flucht ergriff. Einen Augenblick lang überlegte er, einfach wieder kehrtzumachen. Noch einen Tag. Vielleicht zwei. Aber was, wenn er dann nicht mehr genug Kraft finden würde, um die Sache durchzuziehen?
Tom atmete tief durch und reihte sich ein in die Schlange vor dem Schalter. Vor ihm stand eine ältere, kleine Dame und sie kramte umständlich in ihrer Handtasche, als die Empfangsdame sie nach ihrem Ausweis fragte. Kein Implantat. Die Gute war wohl old-school, vermutlich ihr ganzes Leben lang. Und trotzdem stand sie jetzt hier vor ihm am Schalter. Gegen Ende versuchte es fast jeder genügend Credits zusammenzukratzen, um sich ein Stück Ewigkeit zu kaufen.
Als er schließlich an der Reihe war, lächelte die Empfangsdame ihn an, während sie sein Implantat scannte. „Mr. Arruk, was dürfen wir für Sie tun?“
„Ich möchte gern das Ewiges-Leben-Paket.“
Sie nickte und ihr Lächeln wurde noch breiter. „Eine ganz wundervolle Entscheidung. Mit dem Ewiges-Leben-Paket wird ihr Gedächtnis auf einen virtuellen Avatar übertragen und Sie können sich frei von allen weltlichen Einschränkungen in der digitalen Welt entfalten.“ Sie beugte sich einen Moment lang über die chromglänzende Konsole vor sich und fragte:“ Small, Medium oder Large?“
„Small“, antwortete Tom leise. Kein Wort, das zu dieser gewaltigen Eingangshalle passte. Aber er musste einfach sicher gehen, dass Marissa in ein paar Jahren genug hat, um für sich selbst ein Paket zu kaufen.
„Sind Sie sicher, Mr. Arruk? In der preiswerten Medium-Variante wird ihr Körper in einer unserer Cryokammern gelagert, damit Sie zurückkehren können, sobald geeignete Heilmittel für ihre Probleme gefunden wurden.“ Vertraulich beugte sie sich ein wenig näher zu ihm. „Ich persönlich würde ihnen ja die Large-Variante empfehlen. Damit können Sie, sooft Sie möchten, temporär in ihren Körper wechseln. Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, die Geburt ihrer Urenkel - all das wollen Sie doch nicht verpassen, oder?“
„Small wird reichen müssen“, erklärte Tom und das Lächeln der Empfangsdame wurde um einige Grad kühler.
„In diesem Fall darf ich Sie bitten, unsere Selbstbedienungskonsolen im hinteren Bereich der Halle zu benutzen. Small beinhaltet keine persönliche Beratung“, erklärte sie und wendete sich dem nächsten Kunden zu. Wie jede gute Verkäuferin arbeitete sie wohl auf Provisionbasis.
Tom blickte zu der Reihe an Selbstbedienungskonsolen, die etwas abseits an der Wand aufgereiht waren. Die meisten waren frei. Langsam steuerte er auf eine von ihnen zu und es entging ihm nicht, wie viele Blicke dabei auf ihm ruhten. Wie es aussah, würde wohl auch das Ewige Leben eine Klassengesellschaft sein. Tom hielt seinen Daumen in den Scannerbereich der Konsole und begann, sich durch das Menü zu arbeiten.
Small.
Eine Person.
Sofortiger Beginn.
Möchten Sie ihre Erinnerungen behalten?
Was für eine Frage. Gab es tatsächlich jemanden, der das nicht möchte? Was blieb von einem Menschen, wenn er nichts als ein leeres Blatt Papier war? Er wählte Ja und rechts oben wurde ihm augenblicklich angezeigt, wie viel ihn diese Entscheidung zusätzlich kosten würde. 24.000 Credits. Das würde knapp werden. Aber Marissa wäre wohl wenig begeistert, wenn er sie nicht wiedererkennen würde.
Wünschen Sie eine Anbindung an ihre Accounts in World of Do, CrashNight und 3421 weitere führende virtuelle Games?
Natürlich wünschte er das. Damit könnte er sich die Zeit vertreiben, bis sie zu ihm stoßen würde. Aber er wollte einsparen. Musste es. Als er auf Nein drückte schnellte der rechts oben angezeigte Preis zwar nicht weiter in die Höhe - günstiger wurde die ganze Sache dadurch allerdings auch nicht. Verdammt. Das hier war schlimmer als die Fluggesellschaften, die einen sogar für die Benutzung des Kotzbeutels extra zahlen ließen.
Möchten Sie Teil der digitalisierten Community sein?
Als Voreinstellung zeigte der Monitor ein Ja an. Das bedeute wohl, dass das eine Gelegenheit war, zumindest doch ein wenig am Preis zu drehen. Er war sich allerdings nicht sicher, was das für ihn bedeuten würde. Tom drückte den Info-Button.
Nur Mitglider der digitalisierten Community haben Zugang zum DigiParadise. Falls Sie sich gegen diese Option entscheiden, werden ihre Daten auf einem externen Server mit eingeschränkten Funktionen gespeichert. Ein Kontakt zu Bewohnern des DigiParadise ist in diesem Fall nicht möglich.
Toms Finger schwebte unentschlossen über dem Display. Das war keine Entscheidung, die er nur für sich selbst traf. Natürlich würde Marissa ihn suchen, wenn ihr Zeit gekommen war. Und egal wie abgespeckt die Ewiges-Leben Version auf diesem exteren Server war - sie würde sich dafür entscheiden. Um bei ihm zu sein. Aber konnte er ihr das zumuten? Eine sparsame Mini-Version des DigiParadise? Vermutlich würde es dort nicht das MagicAnimals Paket geben, von dem er ihr heute Morgen erzählt hatte. Eine Welt voller Farben, Kätzchen und Einhörner. Himmel, wie sehr er das für sie wollte. Wenn er nur ein wenig mehr Credits hätte …
Hinter ihm räusperte sich jemand ungeduldig.
„Einen Moment noch …“, murmelte Tom. Vielleicht sollte er noch mal die anderen Optionen durchgehen. Irgendwo musste sich doch noch etwas einsparen lassen…
Eine Hand tippte ihm von hinten auf die Schulter und als Tom sich umwandte, sah er in das Gesicht eines Mannes, der eigentlich viel zu gut gekleidet war, um sich hier für ein Small-Paket anzustellen. Allein der Vision-Enhance-Visor auf seiner Nase kostete in der billigsten Ausführung vermutlich mehr, als Tom in einem Jahr verdiente.
„Mr. Arruk?“, richtete der Mann das Wort an ihn.
„Ich … kennen wir uns?“, fragte Tom verwirrt.
„Nein, das tun wir nicht. Noch nicht. Mein Name ist Jon Boorow und ich bin bei R.I.E.N. verantwortlich für die Produktentwicklung. Das System hat mich über ihren Fall informiert und ich würde Sie gern zu einem Gespräch in meinem Büro einladen.“
Tom griff nach der Tasse Tee vor sich. Wenn R.I.E.N. tatsächlich irgendetwas gratis anbot, würde er nicht nein sagen. Er hob die Tasse an und nahm sich einen Moment Zeit, um den Duft zu genießen. Vielleicht war das hier seine letzte Tasse.
„Ich würde ihnen gern ein Geschäft vorschlagen. Ihr Persönlichkeitsprofil sieht sehr vielversprechend aus. Kümmern Sie sich gerne um andere Menschen, Mr. Arruk?“
Tom blickte überrascht hoch von seinem Tee. Sollte das hier ein Jobangebot werden?
„Ich bin … ich war Lehrer und ich habe mich immer um meine Schüler gekümmert. Das macht doch erst den Unterschied zu den Digi-Teach-Androiden. Der persönliche Touch, Sie verstehen?“
Sein Gegenüber nickte zustimmend. „Das sehe ich ganz genauso. Der persönliche Touch ist wichtig. Genau deshalb würden wir Sie gern engagieren“, erklärte Mr. Boorow und schob ein DataPad in Toms Richtung.
Tom rührte das DataPad nicht an. „Mr. Boorow, ich fürchte, ich kann nichts für Sie tun. Krebs. Stadium 4. Alles, was mich auf diesem Sessel hier aufrecht hält ist eine Handvoll Pillen, deren Nachwirkungen ich morgen ziemlich bereuen werde - wenn ich dann immer noch hier draußen herumlaufe.“
„Das, Mr. Arruk, wissen wir. Ebenfalls einer der Gründe, warum wir uns an Sie wenden. Ihr neuer Job ist … virtueller Natur.“
Verwirrt warf Tom nun doch einen Blick auf das DataPad. Ein Vertrag. Mit klopfenden Herzen überflog er die Zeilen. Als er schließlich das DataPad wieder sorgsam vor sich auf den Tisch legte, hatte er sich längst entschieden. Das hier, das war seine Chance. „Mr. Boorow, wäre es möglich, einen der Prototypen in meinem Haus zu installieren?“
Tom beobachtete, wie Marissa verschlafen nach dem Wecker griff. Behutsam stellte er das Licht ein wenig heller, um sie sanft in den Tag starten zu lassen. Während sie sich aufsetzte, kümmerte er sich um den Kaffee. Gleichzeitig steuerte er auch in 200 weiteren Häusern den perfekten Morgen für die Bewohner. Aber egal, wie viele Kaffee er gleichzeitig zubereiten musste, für Marissas Cappucino würde er immer ein paar zusätzliche Millisekunden verwenden. Milchschaumhaube. Schokostreusel …
Marissa betrachtete das Schokostreuselmuster auf dem Cappuccino. Beinahe ein kleines Herz. Sie nahm einen tiefen Schluck und beugte sich einen Moment lang über die Tasse, bis sie sich sicher war, dass sie nicht weinen würde. Der Prototyp des Smart Homes, den R.I.E.N. ihr so überraschend angeboten hatte, lief erst seit zwei Tagen, aber ihr Verdacht wurde langsam stärker. Anfangs hatte sie gedacht, sie würde es sich einbilden … aber dieses Herz am Cappucino … die Soundanlage, die genau den richtigen Song gespielte hatte, als sie eines der mühsamen Telefonate mit ihrer Mutter hinter sich gebracht hatte … der zarte Geruch nach Lavendel in ihrem Schrank. Tom hatte ihr morgens so oft einen kleinen Strauß vom Joggen mitgebracht.
Ihr Blick fiel auf die Broschüre auf dem Küchentisch neben ihr. Smart Home - so fürsorglich wie ein Freund. Mit einem unsicheren Lächeln sah sie hoch zum Kameraobjektiv in der Ecke, das jede ihrer Bewegungen beobachtete. Er war hier. Hier, in jedem Teil des Hauses. Und natürlich versuchte er, das vor ihr zu verbergen. Er hatte schon immer versucht, alles Unangenehme von ihr fernzuhalten.
Der Gedanke daran, wie er sich wohl fühlte als Teil seines eigenen Hauses, zerriss ihr fast das Herz - auch wenn sie wusste, warum er das mit sich hatte machen lassen. Sobald ihre Zeit gekommen war, wäre für alles gesorgt. Als Gegenleistung für den Test des Smart Home Prototypen hatte R.I.E.N. ihr das Ewige Leben Paket Large angeboten. Zusammen mit Tom. Zumindest würde er also nicht für immer hier festsitzen.
Aber bis dahin? Wie würden sich all diese Tage für ihn anfühlen? Was konnte er spüren? Die Temperatur der Räume? Den Härtegrad des Wassers? Einen Luftzug, der zu stark war, und bei dem man das Fenster schließen sollte? Aber war das wirklich Spüren? Oder nichts als ein Haufen lebloser Daten? Wie viel von ihm steckte in diesem Haus?
Nun, es gab einen Weg, das herauszufinden. Marissa stand langsam auf und warf dann schwungvoll ihr Haar über die Schulter. Sie schenkte der Kamera ein kleines Lächeln, bevor sie ihr den Rücken zudrehte und mit sanftem Hüftschwung begann, ihr Shirt hochzuziehen. Langsam ließ sie es auf den Boden gleiten und drehte sich um.