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Slavko verliert seinen Besten – eine Basketball-Tragödie
Slavko geht die Außenlinie auf und ab und beleidigt unsere Mütter auf Kroatisch. Wir sollen schneller rennen, findet er. Am kommenden Sonntag ist das wichtigste Spiel der Saison, und er will, dass wir schneller rennen. „Je bo te!“, brüllt er durch die Halle. “Schneller!“
Wie weit will Slavko das noch treiben mit uns? Ich weiß, dass ich diese Frage eigentlich nicht stellen darf. Nicht einmal mir selbst. Am besten renne ich einfach weiter. Irgendwann wird Slavko uns erlösen und dann dürfen wir etwas trinken.
„Trinkpause!“, brüllt er endlich und dann trinken wir.
Nur wenig später geht es weiter. Slavko teilt uns in zwei Teams auf. Fünf gegen fünf.
Mein direkter Gegenspieler ist Erhan. Ein schweißtriefender Türke aus Neukölln mit Cleveland-Trikot und Lebron-Bart. Er ist 1,93 Meter groß, für einen Center eher klein. Wobei „klein“ sich hier auf die Körperlänge bezieht, keineswegs auf Erhans Gewicht: 120 Kilo.
Erhan kriegt beim ersten Spielzug den Ball im Low-Post, schiebt mich mit dem Arsch nach hinten, dreht sich in mich rein und geht hoch. Das ist für mich schwer zu verteidigen, aber ich versuch's: Ich springe schräg nach hinten, reiße die Arme hoch, versuche an den Ball zu kommen und foule ihn.
„And 1!“, sagt Erhan, als der Ball durchs Netz fällt.
„Stooooop!“
Slavko kommt mit langen Storch-Schritten aufs Feld, direkt auf mich zu. Er misst 2,03 Meter. Um seinen langen Hals baumelt eine silberne Pfeife. Er trägt ein weißes Lacoste-Hemd und eine graue Jogginghose. Angeblich hat er mal, als er frisch aus der Jugend kam, bei einem Benefizspiel in Split gegen Scottie Pippen 33 Punkte gemacht.
Jetzt trainiert er uns.
Er baut sich vor mir auf, hebt die Hand und sagt: „Jebo te!“
Ich wische den Schweiß von der Stirn, atme durch und zucke mit den Achseln. „Was soll ich da machen?“
Slavko geht auf Erhan zu, zerdrückt das Cleveland Logo mit seiner riesigen Hand, und lehnt sich in ihn rein. Er will, dass ich Erhan fronte, das heißt, ihn so verteidige, dass er den Ball gar nicht erst bekommt. „Von hinten kannst du ihm nur Finger in Arsch schieben”, sagt Slavko.
Beim nächsten Spielzug verdribbelt sich Tilo, unser Aufbauspieler, beim Fastbreak. Tilo ist 1,80 Meter und schnell. Er hat kurzes, blondes Haar, dreizehn Tattoos und zwei Kinder. Den Ball verliert er beim Versuch, zwei Gegner zu splitten. Während der Ball ins Aus rollt, klopfte er mit der Faust gegen den Kopf.
Für einen Moment ist es still in der Halle. Ich habe mich schon häufig gefragt, was schlimmer ist? Wenn Slavko was sagt? Oder wenn Slavko gar nichts sagt?
Nur wenig später nimmt Tilo einen schnellen Dreier. Gleich zu Beginn des Spielzugs. Das muss man erstmal bringen nach einem Turnover. Tilo sieht, dass er locker verteidigt wird und schon fliegt der Ball Richtung Korb.
Wir halten die Luft an.
Wenn Tilo jetzt nicht trifft, könnte Slavko ...
Aber er trifft. Der Ball berührt den Ring gar nicht, wird vom Netz verschluckt, macht Zzzzzzzt, was in meinen Ohren wie Gold klingt, das in einer Vase klimpert.
Tilo rückt sein grünes Stirnband zurecht und küsst den linken Bizeps. Zwei Tattoos von seinen Töchtern, Katy und Maliah, schimmern dort in Rot und Blau.
Zwei Spielzüge später werde ich im Low-Post angespielt. Ich bekomme den Ball und drehe mich gleich; ich spiele lieber mit dem Gesicht zum Korb. Für Erhans Spielweise fehlen mir etwa 30 Kilo, aber ich bin flink. Und ein paar Centimeter größer als Erhan.
Erhan lässt mir Platz, womit er mich praktisch zum Wurf herausfordert.
Ich werfe, rufe „mit Brett“, und treffe: mit Brett.
Tilo ruft „Tim Duncan“ und alle traben zurück in die Defense.
Wir spielen fünf gegen fünf, haben gleich 21:00 Uhr, ein Dienstag in Kreuzberg, drei Tage nach der letzten Niederlage in der Oberliga, noch ist alles okay, noch ist es nur ein gemütliches Trainingsspiel … oder spielen wir zu gemütlich?
Wenig später platzt Slavko der Kragen. Er reißt die Hände hoch, die Augen werden groß, die Stimme boomt durch die Halle „Grundlinie!“, Schneller!, „Je bo te!
Drei Linienpendel später bin ich kurz vorm Kotzen. Ich habe Sterne vor den Augen und kann mich kann noch auf den Beinen halten.
„Weiterspielen“, sagt Slavko.
Das tun wir. So gut wir eben können. Die Rotation in der Verteidigung kommt dennoch zu spät, Spielzüge enden im Chaos, einfache Korbleger werden vergeben …
Nach und nach tut sich eine große Leere sich in der Halle auf, in unseren Köpfen, aber auch konkret auf dem Parkett, denn irgendwie ist hier zu viel … Platz. Ich hole jeden zweiten Rebound. Tilo zieht zum Korb und schließt mühelos ab. Erhan schwingt die Ellenbögen unter dem Korb, fühlt sich groß und wirkt auch so.
Bei Mannschaftssportarten gehört es sich eigentlich nicht, das Fehlen einzelner Spieler übermäßig in den Vordergrund zu rücken und deswegen spricht keiner das Offensichtliche aus. Deswegen spielen wir einfach weiter und tun so als ob.
Doch spätestens jetzt ist allen klar: Big Ben fehlt.
Big Ben ist 2,05 Meter groß und wiegt 115 Kilo. Er ist schneller als Tilo, stärker als Erhan und größer als Slavko. Seine Mutter hat mal gegen Steffi Graf im Tennis gewonnen und sein Vater ist von der Elfenbeinküste.
Er hat sehr breite Schultern, die Arme sind unwahrscheinlich lang, die Taille vergleichsweise schmal. Er strahlt nicht immer die gleiche Intensität wie Tilo oder Erhan beim Spielen aus, aber dann ist er plötzlich da. In einem Moment trabt er noch an der Mittellinie, scheinbar gar nicht im Play drin - und im nächsten blockt er deinen Korbleger weg.
Vor zwei Wochen hat er Erhan, der sich nur sehr ungern irgendwo hinschieben lässt, mit einer einzigen Bewegung unter den Korb gedrückt und so schnell und hart ins Gesicht gestopft, dass man das gar nicht verstehen kann: Im ersten Moment kämpfen rund 235 Kilo am Zonenrand um jeden Zentimeter und im Nächsten hängt Big Ben am Ring und schaut mit angezogenen Beinen auf Erhan hinab, der am Boden liegt und sich seines Lebens schämt. Da ist sogar Slavko der Kinnladen runtergeklappt wie einem Achtjährigen bei der Premiere von Jurassic Park.
Ben kam relativ spät zum Basketball und galt sofort als Riesentalent. Er durchlief sämtliche Kader, ließ sich von Dirk Nowitzki auf die Schulter klopfen, wurde im Basket abgelichtet, und unterschrieb mit 18 einen Vertrag bei Bayreuth in der ersten Liga. Dann machte er ein paar Spiele - und hörte einfach auf.
Jetzt spielt er bei uns.
Nach dem Training macht Slavko eine kleine Bewegung mit dem Zeigefinger in meine Richtung. Ich jogge rüber, noch am Schnaufen, und sehe zu ihm auf. Wir stehen alleine bei der Wand.
Slavko wirkt verhalten jetzt, in sich gekehrt. Auf alten Bildern sieht er viel breiter und muskulöser aus: Arm in Arm mit Vladi Divac, grinsend, mit Zahnlücke und pechschwarzem Haar. Er ist schmal geworden mit den Jahren, das XXL-Lacoste-Hemd hängt über seine Schultern, das Haar lichtet sich.
„Wo ist Ben?“ Seine Stimme ist leise, fast zart.
„Ich weiß nicht.“
„Handy?“
„Geht nicht ran …“
Slavko legt die Hand auf den Mund, sieht mich besorgt an, und ich muss plötzlich an den Bürgerkrieg in Jugoslawien denken.
„Finde ihn“, sagt er.
„Ich kann morgen …“
„Heute.“
„Aber ich muss noch eine Hausarbeit …“
„Heute.“
„Ich kann ja versuchen, ihn zu erreichen, aber wenn's nicht klappt …“
„Heute!“
Damit ist die Sache erledigt.
Slavko sammelt sich, zupft am Lacoste-Hemd und fährt sich einmal durchs Haar. In Gedanken versunken steht er einfach da. Ich gehe erst, wenn Slavko sagt, dass ich gehen soll. Was nun folgt, kann ich im ersten Moment gar nicht glauben. Slavko sieht mich an und sagt: „Sag Ben, dass wir ihn brauchen.“
Sandro ist heute 19 geworden und hat eine Kiste Bier mitgebracht. Er ist nach Tilo unser bester Schütze, 1,86 Meter, toller Wurf, solide Skills, der jüngste Spieler in unserem Starting Five und vielleicht der einzige Spieler bei uns im Team, der noch den Namen „Talent“ verdient.
Wir trinken zusammen in der Dusche. „Sie hat mich echt beeindruckt“, sagt Erhan, „das war wie Liebe.“
„Eine Deutsche?“, fragt Sandro.
„Eine richtige Deutsche“, sagt Erhan, „blondes Haar, studiert Politik, engagiert sich für Flüchtlinge. Die hat mich echt beeindruckt.“
„Heirate sie doch“, sagt Sandro.
Erhan lächelt und schmiert sich Shampoo in die Haare .
Wenig spätere kommt Tilo in die Dusche. Während Erhan sich noch die Haare wäscht, lässt Tilo kaltes Bier über seinen Rücken laufen. Alle müssen lachen. Erhan reißt die Augen auf und hebt erbost die Hand.
„Wenn du das noch einmal machst, fick ich dein ganzes Leben!“, sagt er.
Tilo macht eine italienisch-anmutenden Geste. „Chill dich, Mann.“
„Noch ein Mal …“, sagt Erhan mit erhobenem Zeigefinger.
Tilo dreht sich ab und stellt sich unters Wasser. Sein drahtiger Körper ist ein Gemälde aus Kreuzen, Drachen, Tupac-Sprüchen und Töchtern. Das halbe Bier kippt er in einem Zug runter. Das Wasser zischt und dampft.
„Das wird nicht einfach am Samstag“, sagt Tilo.
„Vielleicht haben wir Glück“, sagt Sandro, „und die Talente kommen nicht.“
Erhan schüttelt den Kopf. „Sie werden kommen. Gegen uns spielen immer alle.“
„Ist egal“, sagt Tilo. „Wir sollten uns auf uns konzentrieren. Slavko hat Recht, Training war scheiße heute.“
„Werden wir am Samstag vollständig sein?“, fragt Sandro.
Eine nachdenkliche Stille tritt ein.
„Ben kommt zum Spiel“, sagt Tilo, „das ist doch klar.“
Stille.
„Was wollte Coach vorhin von dir?“, fragt mich Sandro.
„Ich soll mit Ben sprechen“, sage ich. „Ihn auftreiben.“
„Sag dem Schwuchtel, dass er seinen Arsch herbewegen soll“, sagt Erhan.
Tilo verzieht das Gesicht. Ich auch.
„Ich werd mit ihm sprechen“, sage ich.
„Ich mach den Schwuchtel fertig, wenn er nicht erscheint“, sagt Erhan. „Was? Was guckt ihr so?“ Erhan sticht sich mit dem Zeigefinger in die Brust. „Ich bin nicht der, der sich vor dem wichtigsten Spiel der Saison verpisst.“
Was Bens Homosexualität angeht, verfahren wir eigentlich nach dem Don't ask, don't tell - Prinzip: Jeder weiß bescheid, jeder tut so, als hätte er keine Ahnung.
Bis zu diesem Moment, hier in der Dusche, drei Tage vor dem letzten Spieltag, hat das eigentlich ganz gut funktioniert.
Erhan verschränkt die massigen Arme vor der Brust und sieht uns herausfordernd an. „Was meint ihr, ist Ben da eher der Aktive oder Passive?“
Tilo verzieht wieder das Gesicht. „Alter, bitte, hör auf.“
„Das will ich nicht wissen“, sagt Sandro.
„Ich auch nicht“, sagt Erhan. „Aber ob der Schwanzlutscher zum Spiel kommt oder nicht, das will ich schon wissen.“
„Erhan“, sage Tilo, „er wird natürlich spielen, Ben würde das nicht machen. Karl wird heute mit dem reden und ich bin mir sicher, dass er zum Spiel kommt.“
Ich nicke. „Ja, das würde er nicht machen.“
Erhan hebt sein Duschgel vom Boden auf und geht davon.
In der Kabine fragt Tilo, ob jemand noch Lust auf ein Späti-Bier hat. Zunächst antwortet keiner. Deo wird in die Luft gesprüht, Gel in Haare geschmiert, Oberschenkelmuskeln werden mit Kräuteröl eingeschmiert, hier und da hört man etwas auf Türkisch, ein Föhn läuft. Erhan sagt, er könne nicht. Er müsse sich um seinen Bruder kümmern. Sandro gibt an, ein Date zu haben.
„Ich hab auch zu tun“, sage ich.
Ich gehe mit nassen Haaren nach draußen und ziehe meinen Hoody über, Sporttasche über den Arm geschlungen. Die Sonne scheint. Der Sommer hat sich dieses Jahr schon in April angekündigt. Draußen fängt mich Tilo noch ein.
„Kriegst du das mit Ben hin?“
Ich nicke.
„Wenn du mich brauchst, ruf an.“ Er sieht mich einen Moment lang an. „Komm, noch schnell zum Späti!“
Wir holen uns beide einen Radler. Tilo trägt eine blaue Mütze und eine Jogging-Hose. Er ist gut einen Kopf kleiner als ich. Er ist mit 32 der älteste im Team und unser zweitbester Spieler.
„Musst du morgen arbeiten?“, frage ich.
„Klar, um 6:00 werden die Waren geliefert.“ Tilo ist Filialleiter bei Rewe. „Noch eine Woche“, sagt er, „dann ist die Saison vorbei. Vielleicht die letzte.“
„Das sagst du jedes Jahr. Und bist immer noch der schnellste im Team.“
„Irgendwann ist es vorbei. Das siehst du mir vielleicht nicht an, aber glaub mir, morgen früh werde ich diese Sprints alle noch spüren. Irgendwann ist es vorbei. Dann fange ich wieder mit dem Rauchen an, werde fett, schaue den Kindern beim Großwerden zu, gehe zu Union-Spiele am Wochenende …“ Er zuckt mit den Achseln.
„Wie geht's Kati?“, frage ich.
Er seufzt. „Alles, was ich mache, ist falsch. Komm ich die Kinder zu früh abholen, komm ich sie zu spät abholen ... alles falsch. Überleg dir das gut mit Kindern. Ich würde ihrem Neuen die Fresse polieren, aber dann nimmt man mir bestimmt das Sorgerecht weg.“
„Das würde Kati nicht machen.“
„Und ob sie das machen würde. Seit sie mit diesem neuen zusammen ist, ist das durchaus möglich.“
„Was ist das für einer?“
„Sozialarbeiter. So ein studierter Wichser. Ein bisschen wie du. Veganer auch.“
„Ich bin kein Veganer.“
„Aber du warst mal eine Zeit lang Vegetarier, oder?“
„Ich hab mal eine Doku über Massentierhaltung gesehen.“
„Eben …“ Tilo macht ein Gesicht als sei damit schon alles gesagt und trinkt einen Schluck Radler. „Kati bringt die Kids am Wochenende zum Spiel übrigens.“
„Ja?“
„Ist ja das letzte Spiel der Saison.“
Das letzte Spiel der Saison. Wie er das sagt. Sie haben zwei Kinder zusammen und hassen sich. Oder tun zumindest so. Aber das letzte Spiel der Saison … da kommt man wieder zusammen.
Es gab Zeiten, da war Kati bei jedem Spiel. Heim- und Auswärts. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie mit Babybauch auf den Rängen saß, als Tilo im legendären Aufstiegsspiel 53 Punkte gemacht hat. Das ist gut fünf Jahre her. Er hatte eine schöne Frau mit Babybauch und ein Dreier nach dem anderen ging rein. Das werde ich nie vergessen.
Es war Slavkos erste Saison mit uns und es ging um den Aufstieg in die Oberliga. Damals saß ich noch auf der Bank. Tilo war von der ersten Minute an on fire. In einer Auszeit im zweiten Viertel sagte Slavko: „Mach weiter so.“ Mehr nicht. Einfach nur: Mach weiter so. Das hat Slavko wirklich gesagt.
Tilo schaut nachdenklich, während er den Radler trinket. Er schaut die Straße runter zur Halle und ich frage mich, ob er auch an das Aufstiegsspiel denken muss. Ich überlege, ihn genau das zu fragen: Kann es sein, dass du an dieses magische Aufstiegsspiel vor fünf Jahren denkst? Als Kati hochschwanger auf der Tribüne saß und dir alles gelungen ist?
Aber das will ich ihm dann doch nicht antun.
„Wir müssen am Wochenende gewinnen“, sagt er plötzlich, als wäre ihm das eben erst eingefallen.
„Unbedingt.“
Zuhause schmeiße ich mein Sportzeug in die Waschmaschine, setze mich aufs Bett, und rufe gleich bei Ben an. Niemand geht ran.
Wenig später sitze ich vor dem Laptop und rufe Bens Facebook-Seite auf. Auf seinem Profilbild lehnt er gegen eine verzierte Straßenlaterne irgendwo im Süden, er trägt saubere Jeans, ein weißes Hemd und drei Bücher unterm Arm. Das Bild hat etwas Klassisches. Ben lächelt, während im Hintergrund die Sonne untergeht. Das Bild hat 202 Likes bekommen. James Dean meets Wilt Chamberlain! hat ein Thorsten druntergeschrieben, was wiederum 18 Likes bekommen hat.
Ich scrolle runter und sehe, dass heute eine Funk-Party im Farbfernseher stattfindet.
Vor einer Stunde hat Ben auf going geklickt.
Ich mache mir einen Tee in der Küche, und setzte mich dann ins Wohnzimmer, wo Richard, mein Mitbewohner, auf dem Sofa hockt. Auf dem Couchtisch liegen ein Aschenbecher und Bücher von Zizek und Derrida. Richard sieht mich an und bietet mir eine Zigarette an.
Ich schüttele den Kopf „Erst wenn die Saison wieder vorbei ist.“
Richard nickt. „Wie du magst.“ Er zündet sich eine an und sieht mich selbstzufrieden an. Er gehört nicht zu den Menschen, die man leicht mögen kann. Man muss sich quasi darin üben.
„Wie läuft's?“, frage ich.
„Ganz okay.“
„Was macht Angelina?“
„Sie war am Wochenende hier“, sagt er, „du warst wieder unterwegs.“
„Stört dich das, wenn ich unterwegs bin?“
„Warum sollte mich das stören?“
„Es klang eben so, als würde dich das stören.“
Er runzelt irritiert die Stirn. „Warum? Das stört mich null. Dann hab ich meine Ruhe und kann besser lernen.“
Eigentlich sollte ich das Gespräch jetzt beenden.
„Aber du kannst natürlich auch hier sein“, sagt Richard. „Alles ist gut, das Leben ist gut.“
„Du bist wieder voller tiefgründiger Gedanken heute.“
„Ja, ich habe heute tatsächlich ein interessantes Seminar besucht. Optimismus in der Postmoderne. Die These war folgende: Angesichts des Klimawandels, der Flüchtlingskrise und des wachsenden Rechtspopulismus, muss Optimismus zum emanzipatorischen Akt erklärt werden. Das heißt, wenn man die Ausweglosigkeit unserer Lage voll ganz annimmt, kann man paradoxerweise die Stärke finden, weiterzumachen. Denn die Ausweglosigkeit eröffnet neue Räume. Das hat einen dialektischen Dreh: aus dem Nihilismus, wenn man den annimmt, wird wieder Optimismus, verstehst du?“
„Interessante Gedanken … “
„Ja, voll.“ Er lehnt sich zufrieden zurück und nimmt einen Zug von der Zigarette. „Ich habe ein Date später.“
„Ein Date? Und was ist mit Angie?“
„Wir sind seit kurzem in einer offenen Beziehung.“
Ich reibe mir mit der Hand über die Stirn. „Angela und du – in einer offenen Beziehung?“
„Ja, klar, warum nicht?“
„Weil sie dann … mit anderen Typen ficken wird.“
Sein Lächeln verschwindet für einen kurzen Moment. Dann fängt er sich wieder. Er lehnt sich über den Couchtisch, über die Bücher von Zizek und Derrida, und beginnt wieder zu erzählen. Von der Monogamie und dem Ego und patriarchalischen Strukturen.
Und alles, woran ich in diesem Moment denken kann, ist wie Angie mit anderen Typen fickt. Was mich ein bisschen traurig macht.
Der Farbfernseher ist ein kleiner Szene-Club in der Skalitzer Straße. Ich grüße den Türsteher, gehe durch einen schmalen, urigen Gang, und stehe bereits auf der Tanzfläche. Etwa zehn Leute bewegen sich ausgelassen zur Musik. Sie spielen Electro.
Rechts geht es eine Holztreppe zu einer Bar hoch. Da oben steht Ben: weißes Hemd, schwarze Lackschuhe, schwarze Hose. Er trinkt einen Mai-Tai und unterhält sich mit zwei Frauen, einer Blondine und einer Brünette.
Ich gehe die Treppen hoch und kriege mit, wie Ben mit tiefer Stimme sagt: „Mensch, Laura, du bist aber oberflächlich!”
Die Frauen lachen laut.
Als Ben mich sieht, legt er das Getränk ab, und wir geben uns einen Bro-Hug: schlagen mit der rechten Hand ein und umarmen mit dem Rest.
Die Frauen mustern mich.
„Wir spielen zusammen Basketball“, erklärt Ben.
Ich stelle mich vor, und es plötzlich still.
„Ben, wir müssen reden“, sage ich.
„Ich bin grad …“
Aber schon gehen die Frauen Richtung Tanzfläche. Ich sehe ihnen etwas länger nach, als man das gewöhnlich tut, dann lehne mich über die Theke, lasse mir vom Barkeeper ein Bier zuschieben und sage: „Du warst heute nicht im Training.“
„Ich hab doch gesagt, ich bin raus. Ich hab die Schnauze voll. Was Slavko macht, geht nicht. Hab ich schon mal gesagt.“
„Was hat er denn gesagt? Dass du eine große Schwuchtel bist?“
„Er hat gesagt, dass ich die größte Schwuchtel aller Zeiten bin. Größter Schwuchtel in history of planet.“
„Du kennst doch Slavko …“ Ich lächele. „Bei ihm ist alles gleich das Größte und Längste und Schwulste und so weiter. Anders kann er sich gar nicht ausdrücken.“
„Mangelnde Sprachkenntnisse sind hier nicht das Problem.“
„Bist du schon mal einem normalen Jugo begegnet, Ben? Du weißt doch, wie Jugos ticken. Sei mal bisschen tolerant.“
„In einer Auszeit hat er gesagt, dass ich aufhören soll, mich vom Klingler in den Arsch ficken zu lassen.“
„Was Ähnliches hat er mir auch schon gesagt. Und weißt du noch bei Erhan: Renn, fat Turkey! Renn! Weißt du noch?“ Eine Zeit lang hat dieser Spruch alle regelmäßig zum Lachen gebracht, auch Ben. Jetzt verzieht er keine Miene.
„In der Halbzeit wollte er von mir wissen, warum ich kein Geld mit Prostitution verdiene.“
„Ben …“, sage ich etwas erschrocken. Er sieht wirklich verletzt aus. Das hätte ich nicht gedacht.
„Dabei hab ich gar nicht schlecht gespielt. Der Klingler hat ein paar Hooks reingemacht, okay, aber das war's schon. Eigentlich hatte ich alles voll im Griff.“
Kurz zum „Klingler“: Er hat früher erste Liga gespielt, kennt Slavko noch von damals und kann kaum noch gehen. Meistens sitzt er auf der Bank, mit Eispacks auf den Knien, und gibt Anweisungen. Schnell ist er nur noch, wenn er gerade gegen uns spielt. Dann geht irgendwie doch noch was.
„Wenn du geblieben wärst“, sage ich, „dann hättest du vielleicht alles im Griff gehabt. So musste ich am Ende Klingler verteidigen. Das war Scheiße, Mann.“
Ben zuckt mit den Achseln. „Wenn Klingler seine Hooks trifft, trifft er eben seine Hooks.“
Langsam packt mich die Wut. „Ben, das ist echt scheiße von dir.“
„Weißt du eigentlich, wie hart ich dieses Jahr trainiert habe?“ Ben drückt sich von der Bar weg und macht einen halben Schritt auf mich zu. Mich überrascht immer noch manchmal, wie groß Ben ist. Ich bin es nicht gewohnt, mich klein zu fühlen. „Ich hab die komplette Vorbereitung mitgemacht“, sagt er. „Ich war jeden Sonntag im Wald und kam immer zum Training. Seit achtzehn war ich nicht mehr so in Form. “
„Was willst du von mir hören? Dass du der beste Baller bist, mit dem ich je zusammengespielt habe? Warum nimmst du das alles so persönlich? Was ist denn los mit dir? Slavko hat mich geschickt, um dir Folgendes ausrichten: wir brauchen dich.“
„Das hat er nicht gesagt.“
„Ich schwör auf alles, er hat gesagt: Wir brauchen Ben.“
„Ist mir egal.“
„Dir ist das nicht egal! Es ist das letzte Spiel des Jahres, und das Team braucht dich. Hör auf mit dem Scheiß.“
„Ich hab schon gesagt, ich bin raus.“
Ich kann's nicht fassen. Echt nicht. „Das würdest du uns wirklich antun? Und alles nur, weil Slavko gemeint hat, dass du schwul bist?“
„Ich bin schwul.“
„Ja, und … und Ich kann mir auch vorstellen, dass das nicht immer so einfach ist und so …“
„Nein“, sagt Ben, „das kannst du eben nicht.“ Er legt seine riesige Hand auf meine Schulter, drückt kurz zu und geht.
Samstag Morgen, eine Stunde vor Spielbeginn. Der Himmel ist grau, die Luft feucht. Wir stehen draußen vor der Halle und warten auf den Hausmeister. Alle sind da, auch der Gegner. Er steht etwas abseits, bei den Tischtennisplatten, etwa zwanzig Leute.
Die großen Talente, die in mehreren Mannschaften spielen, sind alle gekommen. Sogar Falk Haagen, angeblich der nächste Nowitzki: 16 Jahre alt, 2,06m groß, trifft von überall. Er steht neben Robert Musk: 18 Jahre alt, 1,98m groß, guter Schütze, krasser Athlet. Ebenfalls dabei: Pascal Fischer, erst 15, technisch hochbegabt und rasend schnell. Mit ihm wird Tilo zu tun haben. Alle drei spielen in den entsprechenden U-Nationalteams. Sie stehen da in ihrer gesponserten Kleidung, in ihren Jordans und Lebrons, brechen immer wieder in Gelächter aus und umarmen die Mädchen, die sie mitgebracht haben – kleine, hübsch geformte Baller-Girls mit großen Ohrringen, engen Jogginghosen und Airmax Nikes.
Mir fällt es schwer zu glauben, dass Ben heute nicht spielen wird.
Der Hausmeister macht auf und wir gehen schweigend in die Kabine. Sandro hat die Trikots gewaschen und hängt sie der Reihe nach auf. Tilo schnappt sich die Vier, ich die Sieben, Sandro die Acht. Erhan bewegt sich auf die Zehn zu. Die Zehn ist ihm heilig. Doch jetzt zögert er. Er schaut sich seine Zehn an, fährt ihr einmal mit der Hand über den Stoff, und nimmt sich dann die Vierzehn vom Haken. Vierzehn ist die höchste Nummer in unserem Trikotsatz. Sie gehört Big Ben.
Erhan hält das Trikot hoch, stellt sich vor den Spiegel und streift sie über, flext seine speckigen Oberarme und schiebt die Unterlippe vor.
Dann greift er in Tilos Sporttasche und zieht ein Stirnband hervor.
Tilo protestiert. „Ich trage heute das Rote. Hier … “ Tilo drückt Erkan ein weißes und ein grünes Stirnbad in die Hand. „Such dir eins aus.“
Erkan setzt das Weiße auf und stellt sich erneut vor den Spiegel. Slavko hasst Stirnbänder. Bei Tilo werden sie gerade so toleriert, weil Tilo Tilo ist.
Erhan dreht sich und lässt den Blick langsam durch die Kabine streifen. Mir schmeißt er das grüne zu.
Wenig später kommt Slavko rein, schwerfällig, ruhig, Klemmbrett unterm Arm, Blick gesenkt, graues Lacoste-Hemd. Er geht zur Tafel und fängt sofort an, Spielzüge aufzumalen, hier ein X, da ein O, überall Striche. Ohne Ben müssen wir anders spielen. Wir müssen 41 Punkte, 22 Rebounds, 8 Blocks und 7 Assists kompensieren. Ja, ich sag's nochmal: 41 Punkte, 22 Rebounds, 8 Blocks und 7 Assists.
Die Rolle des Passgebers in der Highpost nehm ich ein, Erkan übernimmt Bens Rolle unterm Korb, und Tilo … tja, heute brauchen wir seine Punkte. Heute darf er ballern.
Slavko zeigt, wie er Tilo ins Spiel bringen will: Sandro soll manchmal den Spielaufbau machen, und Mohammed rückt in die Starting Five.
Als Slavko einmal aus seinen Gedankenfluss aufzuckt und sich umdreht, fällt sein Blick auf Erhan, Tilo und mich. Wir sitzen zu dritt nebeneinander – alle mit Stirnbändern auf.
Erhan unterdrückt ein Kichern und Tilo legt beide Hände aufs Gesicht. Ich senke den Blick, beiße mir auf die Zunge und warte auf das Gebrüll. Doch Slavko seufzt nur schwer. Er seufzt, dreht sich der Tafel zu, fasst sich an die Stirn und wirft einen kleinen, verzweifelten Blick nach oben. Dabei flüstert er etwas auf Jugoslawisch. Ich vermute mal: Gott, womit habe ich das bloß verdient?
Die Talente machen sich schon warm, als wir rauskommen, werfen entspannt Dreier und stopfen.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass Ben heute nicht kommen wird. Normalerweise liebt er solche Spiele. Wenn jemand zu ihm sagt: „Hey, siehst du den schlaksigen Hipster da drüben mit den Pickeln im Gesicht? Der Gymnasiast mit dem Do-Rag? Das wird der nächste Nowitzki...“ Dann wird Ben wirklich zu Big Ben, dann merkt man eigentlich erst, wie gut er ist. Und das will man echt nicht verpassen: wenn die großen Talente plötzlich winzig aussehen. Wenn sie zum Schiri rennen oder zum Trainer oder zu den Eltern auf der Tribüne. Als verstünden sie die Welt nicht mehr.
Kann man das mit mir machen?
Ja, kann man. Der Schiri wird pfeifen, was er sieht; der Trainer wird helfen, wo er kann; und Mama wird dich liebhaben, so oder so – doch wenn der Ball vom Ring fliegt und es gilt, Big Ben auszuboxen, dann bist du ganz alleine auf der Welt.
Viele Trainer wechseln ihre Schützlinge aus, wenn sie merken, was da passiert.
Was soll das auch bringen, wenn man einen Sechszehnjährigen, der sich in der Entwicklung befindet und gerade aufgebaut wird, gegen Big Ben untergehen lässt?
Vielleicht hat man das in den 80ern noch zugelassen, aber heute ist man da anders eingestellt. Naja, größtenteils. Der Tag, an dem Slavko einen Spieler auswechselt, um ihn vor dem Gegner zu schützen, muss noch kommen.
Aber er trainiert ja keine Talente. Er trainiert uns.
Zu unseren Spielen kommen im Schnitt an die achtzig Menschen. Heute sind ungefähr dreihundert da. Kati ist tatsächlich mit Tilos beiden Töchtern gekommen. Auch sind viele türkische Fans auf den Rängen. Ungefähr die Hälfte ist irgendwie mit Erhan verwandt.
Slavko ruft uns vor Spielbeginn zur Bank. Er mahnt zur Konzentration und geht dann die Spielzüge durch. Er kritzelt etwas aufs Klemmbrett und wir nicken wie verrückt und springen auf und ab.
Ein Stimmwirrwarr drängt von den Rängen, ein echter Buzz.
Ich bin voller Adrenalin, bereit zum Hochgehen. Mein Mund ist so trocken, dass ich immer wieder Wasser trinken muss. Slavko schaut uns alle an.
„Ganz ruhig“, sagt er. „Wir müssen konzentriert spielen. Vier Viertel lang, jeder Spielzug, konzentriert.“
Wir nicken wie verrückt und springen auf und ab.
Slavko seufzt. „Okay, pass auf. Es gibt eine alte Jugo-Weisheit, geht so: Gibt zwei Stiere: ein Papa-Stier und ein Baby-Stier. Sie gehen zusammen über Feld, kommen über Hügel, und jetzt schauen sie runter. Was sehen sie? Weiß einer? Was sehen sie?“
Niemand weiß, was die Stiere sehen.
„Sie sehen Kühe natürlich!“, brüllt Slavko. „Überall, ein tausend Kühe! Und was sagt Baby-Stier zum Papa-Stier? Was sagt Baby-Stier?“
Niemand weiß, was Baby-Stier sagt.
„Baby-Stier sagt: Komm, Papa, rennen wir Hügel runter und ficken eine Kuh! Und was sagt Papa-Stier?“ – Slavko schüttelt langsam den Kopf und hebt den Zeigefinger - „Papa-Stier sagt: Wir gehen Hügel runter und ficken sie alle.“
Wir müssen alle lachen, jeder von uns. Es fühlt sich gut an.
„Komm,“ sagt Slavko, und streckt die Hand nach vorn: „auf drei!“
„1, 2, 3 - Kreuzberg!“
In den ersten Minuten nimmt Tilo das Spiel in die Hand. Gleich beim ersten Angriff wirft er Pascal Fischer einem Dreier ins Gesicht und trifft. Dann klaut er Pascal Fischer wenig später den Ball und legt ihn rein. Der generische Trainer schimpft mit Pascal für seine Nachlässigkeit, und der 15-jährige Supertalent, der die 100 Meter bestimmt unter 11 Sekunden läuft, holt sich verschämt den Ball an der Grundlinie ab uns setzt wieder zum Angriff an.
Wir müssen alle erst ins Spiel finden, aber Tilo ist von Anfang an voll da. Das hier ist kein Schichtdienst und auch kein Streit mit der Ex-Frau, das hier ist Basketball, und das kann er einfach. Er lächelt auf dem Weg zurück in die Verteidigung und jeder in der Halle spürt, dass heute was geht.
Das erste Viertel verläuft ausgeglichen. Wir setzen unsere Spielzüge gut um und Tilo trifft immer wieder. Ich bin vor allem in der Verteidigung mit Falk „the next Nowitzki“ Haagen beschäftigt, der zwar viele Dreier nimmt, aber wenig trifft.
Slavko geht währenddessen die Außenlinie auf und ab und diskutiert immer wieder mit dem Schiri. Sogar für Slavkos Verhältnisse ist das etwas zu viel. Wie war das noch mal mit ruhig bleiben? Im zweiten Viertel bekommt Slavko ein technisches Foul, und Erhan geht zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter, und leitet ihn zur Bank zurück.
Zur Halbzeit führen wir 38:34. Wir traben alle in die Kabine und setzen uns hin. Ich fühle mich wie ein Boxer zwischen Runden. Slavko hat mich bisher durchspielen lassen, das Spieltempo ist enorm hoch und ich brauche Wasser. Sauerstoff und Wasser. In der Kabine redet niemand, man hört nur das Schnaufen. Dann kommt Slavko rein und brüllt. Er haut mit der Faust gegen die Tafel, seine Augen funkeln hin und her, er geht auf und ab, wir sollen ausboxen, schneller rotieren, den Ball laufen lassen, den freien Mann finden, ausboxen! Dann fällt er kurz in sich zusammen und mahnt uns nochmal zur Ruhe. Weiterspielen, sagt er zum Schluss, weiterspielen!
In der zweiten Hälfte hört Falk Haagen auf den nächsten Nowitzki zu mimen und geht unter den Korb. Statt Dreier zu werfen, will der Gegner nun gezielt seinen Größenvorteil ausspielen. Erhan und ich bekommen das deutlich zu spüren. Erhan versucht Falk Haagen jetzt mit seiner Kraft vom Korb wegzuhalten, was immer wieder gelingt. Tilo trifft wieder einen Dreier, und auch Erhan kann sich im Angriff ein Mal durchsetzen. Nach jeder Aktion von Erhan boomt die kleine türkische Fan-Gemeinde auf den Rängen.
Am Ende des dritten Viertel steht es 66:64. Wir führen noch mit zwei Punkten.
„Kurze Pause“, sagt Slavko zu Erhan in der Auszeit.
„Alles gut, Coach, bin Top-fit.“
„Hinsetzen und Atmen!“, brüllt Slavko.
Erhan setzt sich hin und das vierte Viertel beginnt.
„Fronte ihn!“, brüllt Slavko, als Falk Haagen den Ball im Low-Post bekommt. „Fronte ihn!“
Irgendwie muss ich die Zone verteidigen, bis Erhan wieder atmen kann. Ich ziehe und halte und schiebe Frank Haagen, wie ich kann, und für ein paar Minuten sieht es wirklich gut aus. Der Schiri schaut nicht so genau hin, Sandro trifft einen Dreier, und Tilo zieht zum Korb und wird gefoult.
Wir können unseren knappen Vorsprung ein paar Minuten lang halten, doch dann dreht sich das Spiel. Es geht ganz schnell: die Talente treffen zwei Dreier in Folge und schließen einen Fastbreak mit einem Dunking ab. Sie lachen wieder selbstbewusst und klatschen sich gegenseitig ab. Slavko nimmt eine Auszeit, schreit uns an und schickt Erhan wieder rein.
Erhan fordert gleich den Ball, macht einen Korb, und unsere Fans schreien.
Jetzt ist Crunch Time, jetzt geht's um alles!
Alle zusammen rennen wir. Wir boxen aus und suchen den freien Mann und spielen immer weiter. Aber die gegnerischen Talente wirken auf einmal sehr talentiert, vor allem Falk Haagen, der plötzlich beginnt, von außen zu treffen. Wir versuchen das zu verteidigen, doch wie soll das gehen? Er ist 2,06 Meter groß und trifft Fadeaways! Wie will man das verteidigen? Er ist einfach zu groß. Wir kämpfen bis zum letzten Spielzug und verlieren am Ende 78:70. Ein respektables Ergebnis. Wirklich ein ordentliches Ergebnis.
Nach dem Spiel sitzen alle in der Kabine. Erhan hat sich völlig verausgabt, sein Kopf ist ganz rot. Sandro und Tilo schauen zu Boden.
Slavko kommt langsam rein und macht die Tür hinter sich zu. Der ganze Kampf ist nun aus ihm gewichen. Er sieht älter aus, fast grau. Er stellt sich vor die Tafel und hält einen Moment lang inne. Wir schauen zu ihm hoch und warten, dass er zu sprechen beginnt. Bestimmt wird er Erhan erzählen, dass es ein paar Donuts zu viel waren. Und Tilo darauf hinweisen, dass er seine besten Jahre hinter sich hat. Vielleicht wird er mir erzählen, dass ich völlig talentfrei bin und meine Zeit besser in etwas anderes investiert hätte, in ein Musikinstrument oder so. Aber er sagt uns nur, dass er ganz stolz auf uns ist. Er sagt es ganz bewusst. Wir haben gut gespielt, sagt er. Wir haben gut gekämpft. Stolz, sagt er noch einmal mit einem Nicken, und dann bedankt er sich für die Saison und geht davon.
Zwei Wochen später. Wir feiern in Lorenzos, unsere Stamm-Pizzeria. Ich habe die Jungs seit dem letzten Spiel nicht mehr gesehen. Die Halle war offen, aber ich bin nicht hin. Gerade erzählt Slavko die Geschichte, wie ihm Vladi Divac mal ein Zahn rausgehauen hat, und dabei rauscht sein bellendes Lachen durch die ganze Kneipe.
Ich sitze zwischen Tilo und Erhan und höre zu. Ich kenne Slavkos Geschichten natürlich schon alle, aber heute höre ich sie gern. Die Pizza schmeckt auch.
Das Schöne am Sport: there's always next season.
„Gehen wir später weg“?, fragt Sandro.
Ich schlage den Farbfernseher vor.
„Ich mag diese Hipster-Scheiße nicht“, sagt Erhan.
„Komm schon“, sagt Tilo.
Am Ende des Abends sitzen wir alle im Farbfernseher. Unten ist die Tanzfläche, wir haben die Barhocker zusammengeschoben und trinken. Spätestens jetzt haben wir die Niederlage vergessen. Eine gute Saison, denke ich. Vielleicht sogar eine sehr gute. In solchen Momenten darf man sich schon mal große Fragen stellen: was ist schon wichtig? Dass man immer gewinnt? Wohl kaum.
Und gerade jetzt, als ich dies denke, sehe ich Ben reinkommen. Er kommt die Treppen hoch und biegt nach rechts ab, Richtung Toilette.
Hat er uns gesehen? Es ist dunkel hier drin, schwer zu sagen.
Aber er wird von der Toilette zurückkehren ...
Also sitzen wir da und warten auf ihn. Trinken unser Bier und blicken alle fünf Sekunden Richtung Klo.
Ben kommt ein paar Minuten später zurück. Zunächst sieht es so aus, als würde er direkt auf uns zulaufen. Wir sehen alle vier zu ihm hoch. Er ist ganz in Schwarz gekleidet. Als er uns sieht, zuckt etwas in seinem Gesicht, und mir ist sofort klar, dass er uns vorhin nicht gesehen hat. Dann, nach einem kurzen Zögern, zeigt er uns die kalte massige Schulter, und geht die Treppe runter.
Ich bin mir sicher: jeder von uns hat jetzt den Impuls, ihm etwas hinterherzurufen.
Etwas wie: „Na dann geh doch, du riesiger Schwuchtel!“
Aber keiner ruft ihm etwas zu, und schon ist Ben unten in der Menge. Und mit ihm das Gefühl, dass die Saison eine gute war. Tilo lässt den Kopf hängen, und Erhan sagt: „Die größte Muschi der Welt.“
Tilo widerspricht nicht. Sandro nicht. Ich auch nicht.
Ich überlege, runterzugehen und Ben zurückzubitten. Aber das habe ich doch bereits. Vor drei Wochen saß ich genau hier und habe ihn zurückgebeten. Er hat uns damals den Rücken zugekehrt.
Und jetzt hat er es wieder getan.
Die Wut im Bauch wieder da. Ich sehe es auch in den Gesichtern der anderen.
Wir blicken in unser Bier und die Stimmung rauscht nach unten. Erhan, Tilo, Sandro und ich, wir sitzen da und schweigen, während die Musik durch den Farbfernseher boomt.
Nach einer ganzen Weile schlägt Sandro vor, dass wir Teile schmeißen.
„Hier“, sagt er, “für jeden eine Halbe.“
Tilo und Erhan wollen zunächst nicht, aber dann machen sie es doch.
Wenn nicht jetzt, wann dann? Die Saison ist vorbei.
Ich kippe die Ecstasy-Tablette mit einem Schluck Bier runter und warte.
Lange spüre ich nichts. Dann habe ich plötzlich das Gefühl, mich bewegen zu müssen, also stehe ich auf und bewege mich.
Zunächst fühlt sich die Musik nur etwas eindringlicher an als sonst, etwas präsenter, doch dann ist sie plötzlich in mir drin. Warme, tiefe Blautöne, die mich durchdringen. Auf einmal kann ich alle anderen im Raum spüren. Es gibt diese Szene bei The Beach, als Leonardo Dicaprio mit der schönen Französin nachts ins Meer springt und das Wasser um sie rum zu glühen beginnt, weil winzige Fluoreszenztierchen darin leben, die leuchten, wenn man sie berührt. So ist das jetzt auch. Alles leuchtet und glüht. Jeder Typ im Farbfernseher ist Leo, wenn's gerade läuft. Und jede Frau ist eine schöne Französin, die meine Geheimnisse kennt. Für eine Weile tanze ich mit geschlossenen Augen und fühle. Irgendwann spüre ich, dass sich etwas Großes hinter mir befindet. Ich drehe mich, mache die Augen auf, und sehe Ben. Er steht da, mitten auf der Tanzfläche, und schaut mich an. Ich finde, dass er traurig aussieht, und spüre ein starkes Ziehen in der Brust. Auf einmal breitet Ben die Arme aus. Die gleichen langen Arme, mit denen er mich schon hundert Mal geblockt hat, sie gehen jetzt auseinander. Bens Spannweite ist so groß, dass er die halbe Tanzfläche für sich in Anspruch nimmt.
Ich kann nicht anders, als mich nach vorne zu bewegen. Ich lasse mich nach vorne fallen, und Ben nimmt mich in den Arm. Er drückt meinen Kopf gegen die Brust, und ich spüre die Musik und seinen Körper und habe Tränen in den Augen.
Im nächsten Moment umfasst mich jemand von der Seite. Es ist Sandro. Er umschlingt mich und Ben mit beiden Armen. Ich höre Sandro lachen und muss auch lachen, aber auch weinen. Ben legt den rechten Arm um Sandro, hebt den linken weit über den Kopf und macht eine kreisende Bewegung. Her damit, sagt diese Bewegung.
„Komm her“, ruft Ben, als käme er mit allem fertig, als passe die ganze Welt zwischen seine Arme. „Komm her!“, ruft er mitten auf der Tanzfläche, und dann hat auch Tilo uns gefunden. Tilo drückt sich zwischen uns, Kopf voraus, und wir lachen und klopfen ihm auf den Rücken. Sandro, Tilo und ich, wir passen alle drei in Bens Umarmung, aber wo ist Erhan? Während wir uns noch an Ben klammern, schauen wir zur Seite und finden ihn. Er steht etwas abseits bei der Wand.
„Komm her“, sagen wir, „komm endlich her!“
Erhan zögert, schaut sich um, sieht kurz verloren aus.
„Komm her“, ruft Ben noch einmal, und dann passiert es. Erhan legt sein Getränk ab, breitet die Arme aus und rennt los. Mit seinem ganzen Gewicht. Für einem kurzen Moment will ich zur Seite springen. Ich glaube, für einen Moment wollen wir das alle. Aber wir bleiben alle stehen, während Erhan mit 120 Kilo auf uns zurollt, denn das ist gar kein Problem für uns. Big Ben ist jetzt da, und das ist gar kein Problem.